Leider war dies jedoch nicht motiviert durch ein echtes Erkenntnisinteresse, sondern zur Durchsetzung machtpolitischer und personeller Geländegewinne. Die internen Einschätzungen über die eigenen Stammwählerschaften und Potentiale bilden meist nur geringe Teilmengen ab, die aus anekdotischen Erfahrungen oder medialen Framings gesammelt werden.
Die Partei steht ratlos vor der Frage, warum sie trotz Coronakrise und den ökonomischen Folgen des Ukraine-Kriegs kein Wählerkapital aus den letzten zwei Jahre schlagen konnte. Immer noch hält sich in der Partei die breite Auffassung, daß lediglich ein paar stilistische und kommunikative Anpassungen im Auftreten und Personal der AfD die großen Durchbrüche bewirken könnten. Doch dieses Bild verkennt die wahlsoziologische Mechanik in der parteipolitischen Entwicklung der BRD.
Viele gehen noch immer davon aus, daß Wahlentscheidungen nach dem Wahl-O-Mat-Prinzip ablaufen: Der potentielle Wähler vergleicht die unterschiedlichen Parteiprogramme und trifft anschließend nach rationalen Kriterien die für ihn günstigste und mit seinen Interessen gedeckte Entscheidung. Dieser Ansatz der „Rational-Choice-Theory“ unterliegt jedoch dem Fehlschluß, daß er den Wahlentscheidungsprozeß lediglich von der politischen Angebotsseite abhängig macht und ausschließlich Programm und Kandidatenfaktoren zum Betrachtungsgegenstand werden.
Zusätzlich unterliegen zahlreiche AfD-Akteure dem Trugschluß, Ausschnitte des eigenen Wählerspektrums zur absoluten und verallgemeinerten Größe des eigenen Mobilisierungspotentials zu machen und daraus falsche Kausalitäten abzuleiten. Dabei ist durch die Studienlage der letzten 6–7 Jahre bekannt, daß die AfD-Wählerschaft von einem höchst inhomogenen Spektrum geprägt ist.
Die Systematik und Struktur von Parteipräferenzen und Wahlabsichten ist weitaus komplexer, als sie lediglich auf wenige Rationalitätsparameter zu komprimieren. Zwischen der Wählerschaft und ihren Parteipräferenzen gibt es einige soziostrukturelle Bedingungszusammenhänge, die in der Politikwissenschaft zwar vielfach untersucht wurden, aber in der tagespolitischen Wettbewerbslogik der Parteien um ihre Wähler nur noch eine geringfügige Rolle spielen. Der Rational-Choice Ansatz gilt in theoretischer Hinsicht als widerlegt und hat in den meisten Studien zur Untersuchung von Wählerverhalten auch empirisch nur noch eine bedingte Aussagekraft. Es müssen also weitere Variablen hinzutreten, die auch erklären, warum es bestimmte Parteien innerhalb demokratischer Systeme schaffen, sich langfristig zu etablieren und über Jahrzehnte stabile Stammwählerschaften aufzubauen.
Das Elektorat ist keine ungebundene und autonome Verfügungsmasse, sondern ein ausdifferenzierter Komplex aus unterschiedlichen sozialmoralischen Milieus und Lebenswelten, die in bestimmte Wählergruppen eingebettet sind. Es sind vorpolitische Sozialstrukturen aus Gewerkschaften, Kirchen, Vereinen und Bewegungen, die zum Zugriffssubjekt der Parteien wurden und dadurch über jahrzehntelange sozialgenerationale Vererbungslinien bestimmte Muster von Parteipräferenzen und Identifikationen abbilden.
So lassen sich bis heute trotz Individualisierung und unterschiedlichster gesellschaftlicher Transformationsprozesse soziale Milieus und Gruppenzugehörigkeiten und ihre Wahlpräferenzen nachweisen. Zumeist verlaufen diese entlang verschiedener gesellschaftlicher Konfliktachsen, die die Dimensionen des ökonomischen Status und die unterschiedlichen moralischen Werteprofile abbilden. Bis heute kann bspw. nachvollzogen werden, daß die Wahrscheinlichkeit einer Wahlentscheidung für die CDU unter katholischen Kirchgängern um knapp 25 % höher liegt als in der Gesamtbevölkerung.
Damit erhalten wir ein Bild davon, wie langfristige Parteibindungen und strukturelle Wählermehrheiten entstehen, die dann durch neue politische Parteiangebote unter günstigen Gelegenheitsbedingungen aufgebrochen werden können und möglicherweise neue Milieus entstehen lassen. Um diese Milieus zu identifizieren, gibt es eine Reihe von theoretischen Zugängen und Modellierungen.
Die bekannteste dürfte dabei die sogenannte Cleavage-Theorie von Lipset und Rokkan sein, die die Entstehungsgeschichte der europäischen Parteisysteme anhand soziostruktureller Spannungs- und Konfliktlinien untersuchten und wie diese in Wechselbeziehungen zu den repräsentativen Parteiangeboten stehen. Innerhalb der daraus gebildeten Milieus haben sich diese Konflikte eingespeichert und organisatorisch und soziokulturell verfestigt.
Die Konsistenz und Stabilität der größeren Parteien beruhen unter anderem auf der Treue dieser feststehenden Milieus. Schon in frühen Studien der 60er-Jahre in den USA konnte festgestellt werden, dass die Effekte von politischen Kampagnen und Wahlkämpfen nur einen geringen Einfluss auf die Wahlabsichten von Unentschlossenen und Wähler anderer Parteien haben. Vielmehr dienen sie zur Mobilisierung der eigenen ohnehin schon überzeugten Milieus.
Im Zweiparteienblock der alten Bundesrepublik läßt sich diese Theorie noch recht anschaulich anhand konfessioneller Gegensätze und unterschiedlicher arbeitsweltlicher Lebensbedingungen nachvollziehen. Im heutigen Fünf-Parteiensystem müssen jedoch weitere Faktoren hinzutreten. Insbesondere, weil die für die beiden großen Volksparteien prägenden Milieus der Kirche und Gewerkschaften zahlreiche Ausdifferenzierungen und Fragmentierungsprozesse durchlaufen haben.
Dennoch lassen sich in empirischen Studien trotz aller Auflösungserscheinungen der klassischen Gesellschaftsmilieus immer noch deutliche Tendenzen nachweisen, die den Befund milieuspezifischer Wahlabsichten und Parteiidentifikationen bestätigen. Dies liegt in der BRD unter anderem auch an der Altersstruktur der 60+ Jahrgänge der großen Volksparteien. Es sind Bindungsstrukturen, die sich möglicherweise schon in den frühen individuellen politischen Sozialisationsphasen einprägen und verfestigen. Diese Tatsache muß in eine nüchterne Potentialanalyse für eine patriotische Oppositionspartei eingefügt werden.
Schaut man nun auf die gegenwärtig prägenden gesellschaftlichen Milieus, liefern Modelle aus der Marktforschung wie die „SINUS Milieus“ einen Einblick in die möglichen Potentiale und Bestandswählerschaften der Parteien. Die Studie „Prekäre Wahlen“ zeigt bei den Milieus der „Prekären“ und „Traditionellen“ die überdurchschnittlichen Wähleranteile für die AfD (der Befragungszeitraum lag im April 2021, wo die SPD noch bei 14 % in den Umfragen lag). Beide Milieus zeichnen sich durch ein Selbstbild der „kleinen Leute“ aus, die um ökonomischen Anschluss und Teilhabe bemüht und in der alten traditionellen Arbeitswelt verankert sind. Sie haben keine großen Ansprüche und bescheidene Lebensziele.
Allerdings sind diese Milieus auch von Gefühlen der sozialen Benachteiligung und Abstiegssorgen geprägt, was zu emotionaler Skepsis und Ablehnung gegenüber den gesellschaftlichen Modernisierungstrends führt. Dem Wertewandel begegnen sie maximal mit einer pragmatischen Akzeptanz. Grundsätzlich überwiegen in den politischen Einstellungsmustern Resignation, Indifferenz, Enttäuschung und Verdruß. Die traditionellen und prekären Milieus sind meist von einem geringen politischen Organisationsgrad geprägt. Auch die Wahlbeteiligung ist, zumindest unter den prekären Milieus, mit 58,9 % unter dem Gesamtdurchschnitt. Sie wollen den Anschluss an die ökonomische Mitte halten und sind dementsprechend auch primär auf das eigene individuelle Fortkommen fokussiert.
Auch andere Studien wie von „More in Common“ unter dem Titel „Die andere deutsche Teilung“ zeigen kein konkretes politisch-organisiertes Milieu, das an die AfD gebunden wäre. Die Wahlerfolge der Partei können über die letzten Jahre vielmehr als ein Reaktionsimpuls und politische Kulmination der unzufriedenen, abstiegsbedrohten und enttäuschten Mittelschichten und Prekären betrachtet werden.
Hier zeigen sich einmal mehr die deutlichen Überschneidungen zu den Nichtwählermilieus, die die vielfach in den letzten Jahren beobachteten Wählerwanderungsbewegungen zu bestätigen scheinen. Spätestens seit 2021 erleben wir jedoch auch den Trend, daß die Mobilisierungsdynamiken von Nichtwählermilieus höchst volatil sind und so schnell, wie der Gewinn durch ein günstiges Momentum erfolgt, auch der Abfluss wieder einsetzen kann. Die AfD steht also vor dem Problem, daß ihr einerseits der Anschluss an etablierte Milieus und Gesellschaftsstabilisatoren nicht gelingt und diese zugleich in ihrer sozialmoralischen Konstitution kaum mit dem inhaltlich-programmatischen Oppositionsprofil der Partei ansprechbar sind.
Möchte sie also an diese Milieus anknüpfen, verliert sie möglicherweise ihren Markenkern und ihre Parteiidentität. Vertraut sie weiterhin auf die Mobilisierung und Zustimmung aus Enttäuschten und Modernisierungsskeptikern, fehlen ihr möglicherweise langfristig die arithmetischen Mehrheiten. Zugleich ist die Partei aktuell aber auf die kontinuierliche Verschärfung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Krisendynamiken angewiesen.
Einen etwas detaillierteren Überblick zu den Lebensstilen und Einstellungen der Wählerschaften gibt die Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung „Lebensstilvielfalten vor der Bundestagswahl 2021“. Hier wurde anhand von 1018 Befragten untersucht, wie sich die Wählerschaften der Parteien in ihren Kultur- und Alltagsräumen verhalten. In dieser Studie wird die Signifikanz der AfD-Wahlabsichten innerhalb der ökonomisch schwächer gestellten Milieus, die wir in anderen Befunden nachvollziehen können, etwas neutralisiert.
Wenn auch auf niedrigem Niveau, schneidet die AfD insbesondere in den Milieugruppen am besten ab, die als konservativ-gehoben und heimzentriert, unterhaltungssuchend und bodenständig-traditionell bezeichnet werden. Die AfD-Wahlabsicht kann in der Studie von zwei unabhängig voneinander stehenden Variablen betrachtet werden. So ist die Partei vorrangig in jenen Lebensstilgruppen stark, die einen gehobenen ökonomischen Status innehaben, aber in ihrem moralischen Profil klassisch-traditionellen Werten, Stabilität und Sicherheit einen besonderen Schwerpunkt geben.
Diese Variable der Modernisierungsskepsis und Ablehnung ist jedoch in den ökonomisch unteren Statuslagen nicht mehr allzu relevant. Das Werteprofil ist bei den wirtschaftlich-Abgehängten hingegen etwas offener, während das eigene materielle Niveau Protestwahldynamiken zu begünstigen scheint. Gemeinsam ist jedoch beiden Milieus, daß sie in den Schwerpunkten ihrer Lebenswelten im Zangengriff der aktuellen zeitgeistigen Entwicklungen sind.
Einerseits sehen die wirtschaftlich-Abgehängten eine immer geringere soziale Mobilität und fühlen sich den Dynamiken der arbeitsweltlichen Transformationsprozesse der Globalisierung, Energiewende und Digitalisierung ausgeliefert und andererseits werden auch die konservativen Lebensstile im Wertewandel aus Multikulturalismus, Beschneidung der Meinungsfreiheit und Wokeismus zunehmend unter Druck gesetzt. Die AfD-Wahl scheint für beide Gruppen demnach ein adäquates politisches Druckventil zu sein, welches diesen modernen Wandlungsprozessen und ökonomischen Verwerfungen etwas entgegensetzt.
Dennoch kann hier noch nicht von einem festen und in die Parteiidentität eingeschriebenen „Milieu“ gesprochen werden. Die verbindende Klammer der Enttäuschung und der Protestmotivation wächst nicht organisch aus den bereits etablierten sozialen Kontexten und teils über Jahrzehnte prägenden Kerngruppen, sondern ist nur die Reaktion auf die schwindenden Kohäsionskräfte der etablierten Parteien und einem politisch und soziologisch unsichtbaren Drittel der Nichtwähler. Hier lohnt ein kleiner Blick in die Geschichte des bundesrepublikanischen Parteisystems.
Wahlerfolge von Protestparteien waren auch immer Absetzbewegungen aus den Volksparteimilieus. Lediglich die Grünen schafften es durch ihre Vorfeldanbindung an die 68er sowie die Umwelt- und Frauenbewegung in den 80er-Jahren eine neue Konfliktachse zwischen Postmaterialismus und Materialismus zu schaffen und sich somit ein eigenes Milieu aufzubauen, welches aber auch hier durch Teilmengen traditioneller SPD-Milieus katalysiert wurde. Die Linkspartei konnte zumindest durch ihre vorwiegend organisatorische Stärke im Osten auf DDR-Nostalgiker und altsozialistische Milieus zurückgreifen. Die Linkspartei zeigt aktuell aber auch, wie ein derartiges Milieu als demoskopische Stabilisierungsressource gerade in sich zusammenfällt.
Erfolgreichere Alternativen und Angebote, die rechts der CDU aufgekommen sind, waren in der alten BRD jedoch meist abhängig von den schwindenden Bindungskräften der Union. Sie haben es jedoch nie geschafft, auch langfristige und beständige Milieus auszubilden, wodurch die meisten Rechtsparteien immer nur in kurzen Zeitperioden Erfolge aus Protestimpulsen generieren konnten. Sowohl der Wahlerfolg der NPD Ende der 60er-Jahre und das Aufkommen der Republikaner in den 80er-Jahren waren in ihrer Ursächlichkeit immer auch abhängig von politischen Krisen der CDU/CSU. Die Wählerwanderungen aus dem Nichtwählerspektrum, wovon rechte Parteien auch schon damals profitierten, waren dann überwiegend eine generelle Multiplikation jener neuen Dynamiken eines politischen Alternativangebotes.
Die AfD als jüngste relevante Kraft im deutschen Parteiensystem ist aktuell noch auf der Suche jenes Kernmilieus, das ihr auch die langfristige Etablierung ermöglicht und ihr einen Standort im politischen Raum zuweist, von dem sie neue Potentiale erschließen kann. Alexander Gauland skizzierte vor einigen Jahren bereits das Aufkommen einer möglichen neuen Cleavage-Struktur zwischen „Somewheres und Anywheres“, aus der sich neue Milieus herausbilden könnten und die maßgeblich von den Folgen der sich verschärfenden Globalisierung geprägt sind. Dies sind Entwicklungsprozesse, die sich möglicherweise erst in einigen Jahren schärfer darstellen lassen. Grundlage in der Herausbildung eines eigenen gesellschaftlichen Milieus bleibt am Ende jedoch immer auch die Anbindung an politische Vorfeldstrukturen, in denen erste Keime neuer kultureller und sozialer Ressourcen erwachsen können. Wer ein eigenes Milieu aufbauen oder in bestehende hineinwirken will, benötigt Community-Aufbau, Graswurzelarbeit, Gegenkultur, visionäre Angebote und alternative Medien, die die Schnittstelle zwischen der Wechselbeziehung von Milieu und Partei darstellen.
Die AfD muß sich also der nüchternen Tatsache stellen, daß es in Deutschland aktuell kein demographisch und demoskopisch relevantes rechtskonservatives Milieu gibt, sondern nur eine diffuse und fragmentierte Protestkultur, deren Höhepunkt und Zenit überschritten wurde. Das heißt jedoch nicht, daß ein derartiges Milieu keinerlei Potential hätte. Bis heute halten sich die Potentiale einer rechten parteipolitischen Kraft auf einem stabilen Niveau von ca. 20 %. Themen der Migrations- und Globalisierungskritik bleiben weiterhin anschlussfähig. Entscheidend bleibt also der Kampf um die Aktivierung dieses Potentials und seine Übersetzung vom Protest und Verdruß in eine positive Zukunftsvision.
quarz
"Der Rational-Choice Ansatz gilt in theoretischer Hinsicht als widerlegt"
Den Wähler für ein mündiges und rationales Wesen zu halten, ist ein nobler, aber weltfremder Gedanke. Sein Verhalten nach Maßgabe verhaltensbiologischer Erkenntnisse (durchaus auch im Vergleich mit Pavianen und anderem Getier) zu analysieren, ist vermutlich zielführender.
Mehr als jede mundgerechte Aufbereitung von Angeboten zur Interessenvertretung tut vermutlich das Charisma von politischen Kandidaten seine Wirkung. Der Wähler (ich erlaube mir, ihn über einen Kamm zu scheren) will von Alphatieren regiert werden. Wenn uns die Entwicklung der letzten Jahre eines gelehrt hat, dann dies: keine noch so schwere Verletzung seiner Interessen kann das Wahlschaf davon abhalten, den Gärtnervertrag mit Bock zu verlängern, der ihm die Misere eingebrockt hat, wenn nur mit hinreichendem Autoritätsgehabe entsprechend auf ihn eingewirkt wird.
Abhilfe kann wohl nur Gegenautorität schaffen. Persönlichkeiten, die nicht vor den üblichen Dämonisierungen einknicken, sondern die das übliche Geschwätz souverän vom Tisch wischen. Die auch dem schlichten und im analytischen Urteil überforderten Beobachter allein durch ihr Auftreten vermitteln, dass ihre Kompetenz die des Debattenkonkurrenten weit überragt und der gegenüber diesem eher wie ein Erwachsener gegenüber einem Kind erscheint. Fromme Wünsche, ich weiß, aber ein Akzent in der Richtungsbestimmung.