Wir wußten, daß wir als Fremde galten und tatsächlich in der sozialistischen Fremde einer ursprünglichen Identität fremd geworden waren. Immerhin empfanden wir uns noch als Volk – von so eigenwillig zähem Stolz, daß der in Rest- und Randbeständen allen Nivellierungen trotzte.
In der DDR, der „Deutschen Demokratischen Republik“, sollte offiziell nicht von „Deutschland“ die Rede sein und mehr von Klassen und Kräften gesprochen werden als von Deutschen. Andererseits suggerierte die „Staats- und Parteiführung“, mit der DDR entstünde eine neue, eine sozialistisch vollendete deutsche Nation, jenes „Neue Deutschland“, das dem SED-Presseorgan den Namen gab.
Interessant bis kurios, wenn die DDR kurz vor ihrem jähen Ende sogar Luther und Friedrich II. in ihre Traditionslinie stellen wollte. Sie begehrte, nicht eine, sondern sogar die deutsche Nation zu sein.
Man darf den hier in einem Lied aufklingenden Anspruch in der Rückschau lächerlich finden, allerdings war er gerade im schweren Anfang ernstgemeint. Aber daran wie überhaupt scheiterte diese andere Republik. Scheitert etwas Ernstgemeintes, wie auch immer es versucht wurde, so ist das auch tragisch.
Klar identifizierten sich die einen mit der DDR, andere standen ihr widerständig oder mindestens ablehnend gegenüber. Das alles ist längst im Detail beschrieben, wissenschaftlich und protokolliterarisch.
Und von Republikgründung bis Treuhand wird die geschichtliche Konkursmasse immer wieder neu bewertet, meist ohne das fatale historische Bedingungsgefüge einzubeziehen, aus dem heraus die DDR erwachsen war. Ebensowenig wie die Bundesrepublik erwuchs sie aus sich selbst, sondern war ein Konstrukt fremder Mächte, in dem sich Deutsche einzurichten hatten.
Dennoch steht sie heute als ein nonkausal entstandenes Gebilde da, das besser nicht gewesen wäre. Gewissermaßen teilt sie die Diskontinuität mit dem Dritten Reich. Wichtig nur, daß man in unserer Bekenntniskultur nachspricht: Zu beidem hätte es nicht kommen dürfen.
Interessanter wäre hingegen, sehr genau und kritisch zu erfassen, wie es eben doch zu beidem gekommen war. Neben einer Menge faktischer Historizität hat das mit den Menschen und deren Natur zu tun, u. a. mit gebotenen Identifikationsräumen und gehegten Erwartungen und Hoffnungen sowie mit Ängsten natürlich. Genau dies zu interpretieren erscheint kompliziert und ist der Ausdeutungspolitik unangenehm. -
Zur DDR mußte man sich verhalten; der Staat erzwang die persönliche Positionierung, so oder so. Daß er jemandem egal blieb, ließ er nicht zu. Wir hatten uns alle „positioniert“ – dafür oder dagegen oder irgendwo in einer subkulturellen Gemeinschaft. Wir waren geübt darin, zwischen den Zeilen zu lesen, und suchten insbesondere in der Literatur nach einer zweiten Lesart zum gleichgeschalteten Journalismus.
Und dann wurden wir aus historisch beschreibbaren Gründen von einer wie auch immer zu verstehenden „Republik“ zum Beitrittsgebiet: Angeschlossen, wiedervereinigt – aus einer Interniertheit heimgekehrt also und neu behaust. Aber gut aufgenommen und angekommen? – Eine Weile galten einige von uns sogar als „Helden“, weil sie subversiv gewirkt hatten; auf die Straße gingen die meisten im Wendeherbst aber erst, als klar war, daß der Staat bereits implodiert war. Und es wurden mehr, als alle Zeichen Richtung Westen standen: „Coca-Cola, Büchsenbier! – Helmut Kohl, wir danken dir!“ Andere hatten schon im Sommer ’89 in Westbotschaften festgesessen wie auf Flüchtlingsinseln.
Den Untergang des eigenwilligen Staates zu erleben, in den wir hineingeboren waren, kann als wichtige Erfahrung gelten, schon weil eindrucksvoll zu erfahren war, wie wenig eine Verfassung, die Gesetze, die Institutionen, die Rituale und Gepflogenheiten, die Symbole, der hochgerüstete Staatsapparat und noch dazu Hunderttausende Sowjetsoldaten noch an Geltung und Respekt beanspruchen konnten, wenn ihnen die politisch-ideologische Hintergrundstrahlung abgestellt war, in diesem Fall durch das „Land Lenins“, das weit im Osten in seinen eigenen Lebenslügen versank und sich eine neue Identität zu geben versuchte.
Es blieb nicht viel mehr übrig als das Ampelmännchen, ein paar abseitige FKK-Buchten und diese melancholische, wohlig selbstmitleidige Romantik, die man mit Südstaatenwehmut vergleichen kann, schon weil beide, „The Grand Old South“ damals wie „The Dirty Wild East“ heute, von Business und Money besiegt bzw. eingekauft worden waren. Wir waren frei und als Freie sogleich dem Weltmarkt zugeordnet; die kurze weltgeschichtliche Pause in der Statik des Kalten Krieges war vorbei.
Die Wichtigtuer meinten dann, sie hätten die Freiheit und die Demokratie gesucht; die anderen suchten mit dem an sie ausgekehrten Westgeld vor allem die Discounter: Endlich in den demokratisierten Intershop!
Als etwas verwachsene und daher ungelenke Kinder des Kalten Krieges fanden wir uns jedenfalls adoptiert vom Sieger der Geschichte, dem zwischenzeitlich verwestlichten Deutschland, das seine veröstlichten Verwandten aufnahm. Die anderen, die von drüben, so mußten wir einsehen, hatten offenbar alles richtig gemacht. Besser also, wir verhielten uns angepaßt botmäßig und folgten ab jetzt deren Beispiel und ihren Vorgaben.
Wir hatten uns flott umzustellen. Was uns selbst einmal ausgemacht haben mochte, darüber dachten wir erst Jahre später nach …
Die Querelen dieser schnellen Familienzusammenführung nach jahrzehntelanger Trennung sind ausführlichst beschrieben und werden weiter analysiert. Eines aber wird kaum in Betracht gezogen:
Wir kamen in ein Land, das gerade das nicht sein wollte, was unsere untergegangene Republik ihrem Selbstverständnis nach sehr ambitioniert zu werden versucht hatte – eine Nation.
Als wir dazukamen, hatte „West-Deutschland“ längst damit aufgehört, sich selbst als Nation gelten zu wollen. Und mit jedem Jahr, in dem wir Neubürger uns zu orientieren versuchten, wurde es den neuen Eliten der sich neu verstehenden Bundesrepublik noch peinlicher, als Nation oder gar als Volk angesprochen zu werden.
Längst hatten jene revoluzzenden Bürgersöhnchen und höheren Töchter die Macht, die, ausgestattet mit dem Taschengeld von Papa, mitten im florierenden Nachkriegskapitalismus 1968 ff. eine sozialistische Binnenkultur ansetzten. Immerhin war das noch eine Revolte; wer heute unter der Regenbogenfahne marschiert, gehört hingegen zu einer Art neuen Staatsjugend, deren Stoßtrupp die Antifa ist. Die Linke ist staatstreu, weil sie der Staat ist. Nur hinsichtlich der Protestkultur wirkt das unfreiwillig komisch.
Das Nationale jedoch, also ja wohl das Erbe im Kulturellen, Sprachlichen, Geistigen, und insofern das einst Selbstverständliche, galt zunehmend als „nationalistisches“ Unverständnis, die Verweise auf das einstige Volk im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft als „völkisch“, also als quasifaschistische Unart.
Deutschland wollte alles mögliche sein, eine Standort-AG etwa, Exportweltmeister, zeitweilig gar eine Bildungsrepublik, nur bitte bloß keine Nation mehr. An der hing zu viel Schuld, hieß es, und man fand sich noch immer mehr Schuld zusammen, viel, viel mehr Schuld und Schmach jedenfalls als Gründe, auf denen positiv etwas Nationales zu gründen wäre: „Nie wieder Deutschland!“
War das neurotisch? Wußte der Westen nur noch mit Verschiebungen, Verdrängungen, Sublimierungen und bizarren Fehlhandlungen damit umzugehen, daß er – als Erfolgsmodell – in seinen ersten beiden Jahrzahnten eben von jenen aufgebaut und geprägt worden war, in denen man neuerdings nur noch Nazis und Verbrecher erkennen wollte? Als die Übersattheit im Materiellen gesichert erschien, entdeckte man die Moral und begann – mit der Aufarbeitung, die darin bestand, die Elterngeneration zu inkriminieren.
Jetzt sollten wir, als Ossis frisch eingemeindet, gefälligst eine bunte Republik sein, tolerant und weltoffen, demokratisch und divers, vielfältig und dabei inklusiv, antiimperialistisch, antikolonialistisch, antirassistisch sowieso; wir sollten in allem transparent, gerecht und so gewalt- wie diskriminierungsfrei leben und handeln – immer mit niedergeschlagenem Blick auf unser enormes geschichtliches Sündenregister, insbesondere jenes der Großeltern, das in permanenter Mahnung offenbarte, was uns drohte, wenn wir es riskieren sollten, uns gar weiterhin als Nation und als Volk zu empfinden.
Wir übten im Sinne einer uns aus der DDR grundvertrauten Phrasenmaschinerie eine Menge neuer Schwur- und Beschwörungsformeln ein, die alle von einem „Nie wieder!“ ausgingen, das sich auf unsere irgendwie mysteriös-pathologische Vergangenheit bezog. Alle folgte dem nicht: Sachsen machte sich verdächtig, Dresden erwies sich als renitent, die Sächsische Schweiz und das Erzgebirge erst recht.
Wie wir als Deutsche einst nur so hatten werden können, weshalb wir also Imperialisten, Kolonialisten, Rassisten und schließlich Nazis – „willige Vollstrecker“ – geworden waren, wurde weniger gezeigt, als daß es vielmehr nur darauf ankam, niedergekniet zu verharren und die Erlösung von dieser Vergangenheit zu erbitten:
Die, so die Offenbarung, würde unweigerlich wieder über uns kommen, wenn wir uns nicht engagiert befleißigten, immer noch bunter, toleranter, weltoffener, demokratischer, diverser, vielfältiger, inklusiver, transparenter, gerechter, antiimperialistischer und antirassistischer zu werden. Dies immerfort neu zu bekennen galt als das, was wir früher angeblich nicht waren – couragiert.
Daniel Goldhagen war auf einen einfachen Grund gekommen, der die deutsche Täterschaft 1933 ff. hinreichend erklärte: Die Deutschen, so leitete er her, waren genuine, „eliminatorische“ Antisemiten. Wenn das so war, bedurfte es jetzt aber einer konsequenten Vorbeugung, auf daß es nie wieder so werde.
Wir sollten uns in der Pflicht sehen, immer neu korrektideologisch nachzuboostern; und mehr denn je fungiert insbesondere der Verfassungsschutz als polithygienisches Institut, das immerfort mahnt, die Gefahr wäre nicht nur nicht vorbei, sondern größer denn je. Zwar wurden die Läuterungsmaßnahmen intensiviert, aber dennoch drohte der Rückfall, so die Verlautbarungen.
Vor diesem Hintergrund rechtfertigt, ja begrüßt die Berliner Republik eine umfassende Gesinnungsschnüffelei, die dank der Internetpräsenz von allem und jedem ohne Führungsoffiziere und informelle Mitarbeiter auskommt. Wer über Menschen, Karrieren, Publikationen zu entscheiden hat, der recherchiert einfach über Google; und was er dort findet, hat das Gewicht einstiger Stasi-Akten. Praktischerweise ist das belastende Material immer zur Hand und kann den Delinquenten sogleich verlinkt werden.
Ließen wir im beständigen Bemühen um mehr Weltoffenheit, Diversität, Toleranz, Demokratie usw. usf. nach, fielen wir, so die Vermittlung unserer Meinungsführer, zwangsläufig in die Finsternis der schwarzen Uniformen und langen Ledermäntel zurück, denn wir hatten da nun mal was in den Genen, was sich schon daran zeigte, daß es hier und da immer wieder signifikant politische Immunisierungsdurchbrüche gab, Rechtsextremisten eben, die es dank allumfassender Aufklärungsarbeit doch längst nicht mehr hätte geben dürfen. Weil es sie aber dennoch gab, müßten die pädagogischen und politischen Maßnahmen dringlichst noch weiter und weiter verstärkt werden.
Innerhalb der ersten Jahre nach unserer Heimholung hatten wir allerlei neu zu lernen. Wir waren desorientiert und litten an Phantomschmerzen, weil uns nun mal allerlei amputiert worden war.
Ganz zuerst erschienen wir zudem selbst verdächtig – Lichtenhagen, Hoyerswerda … Insbesondere in der verlorenen Republik hatten die virulenten Keime offenbar verkapselt überlebt.
Nebenher bekamen wir verblüfft mit, daß die uns mit allerlei Ermahnung angekündigte Leistungsgesellschaft doch eher eine Art Sozialismus mit anderen, mit restkapitalistischen Mitteln hervorbrachte. Verkehrte Welt: So wie die Chinesen als Kommunisten einen Turbokapitalismus mit enormen Wachstums- und Profitraten hinbekamen, verstanden sich die Deutschen auf einen marktwirtschaftlich basierten Überbau-Sozialismus, der sogar von immer linkerer Ideologie bestimmt wurde. Industrierevolution mit Innovationsschub dort, „woke“ Kulturrevolution mit Denunziationen und beginnenden Säuberungen hier.
Wer scheiterte, nicht mehr mitkam oder nicht so richtig mitwollte, der wurde ganz anständig alimentiert. In diesem Komfort – bezahlte Miete, Heizung, kleines Bürgergeld – lebten gleichfalls jene, die „zuwanderten“, flugs irgendeinen Aufenthaltsstatus genossen und darin dann ausharrten.
Für einen ganz entscheidenden Bereich hatte der Begriff der Leistungsgesellschaft zudem überhaupt keine Geltung mehr, weil er dort als diskriminierend gegolten hätte – für die Schule nämlich, die sich wiederum in der anderen, der untergegangenen Republik als absolut leistungsorientiert verstand.
Aber: Es hatte uns weltgeschichtlich ja nichts genützt, daß wir straff durchalphabetisiert und bei aller Ideologisierung im Mathematischen und Natur‑, also auch Ingenieurwissenschaftlichen mehr als nur leidlich fit waren.
Wo sind wir angekommen? Ist das hier noch Heimat? Der Begriff der Heimat gilt gleichfalls als hochverdächtig. Als einst Deutsche sollen wir Weltbürger sein. Und darin ein positives Beispiel in genau der Weise liefern, wie wir in den finsteren Jahren unserer historisch pervertierten Existenz ein negatives, ein gruseliges geboten hatten. Weiter sollte die Welt am deutschen Wesen genesen, jetzt jedoch ultimativ moralisch. Hauptsache, wir blieben Primus und Vorbild.
Wir sollen endlich das Entscheidende gelernt haben – wenn schon nicht mehr in der Schule, dann aber aus der Geschichte, die uns – ganz im Gegensatz zu anderen Fachbereichen – intensiv im Sinn politischer Bildung erläutert wird, um uns die latent weiter drohende Gefahr unserer Metamorphose ins Abartige bewußt zu machen.
Dafür gibt es eine enorme Zahl an Deutungsbehörden und einschlägig aktiven Stiftungen und Vereinen, die uns so die Richtung zu weisen versuchen, wie es einst die Partei- und Staatsführung tat – zu unserem vermeintlich Besten.
Die DDR-Endzeit hatte etwas Expressionistisches. Unsere Innenstädte fielen physisch zusammen, wir veranstalteten schrille Partys und soffen zu viel, und dieser Verfall war mit roten Transparenten drapiert. Schräge Differenzen und Dissonanzen allüberall, durchaus von schrillem, wenngleich oft unfreiwilligem Witz. Im Spektrum ihrer Alternativkultur war die DDR echt kunterbunt.
Heute ähnlich? Witzig gar nichts, eher einen Zug apokalyptisch. Selbst die Regenbogenfahne mittlerweile eine höchst offizielle, also todernste Sache.
Verkündigt ist nichts weniger als der hitzig-fiebrige Klimatod der Menschheit. Angstgetrieben fanatisierte Kinder veranstalten Prozessionen, die von der unkindlich-ernsten Art gnostisch inspirierter Ketzerbewegungen sind. Man geißelt sich für verhängnisvolle Bedürfnisse. Eine mysteriöse Seuche unterwarf sich die Welt, seltsam deswegen, weil noch immer nicht ganz klar scheint, inwiefern sie nun tatsächlich so lebensbedrohlich war oder ob die hygienisch aufgeräumte Sagrotan-Kultur diese Bedrohung selbst aufrief, gar im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung empfinden wollte, so wie wir schon Jahre vorher einem Hang zu endzeitlich akzentuierten Stoffen in Literatur und Film verspürten.
Und während uns die Angst noch kalt im Nacken sitzt, grollen im Osten sogar die Geschütze …
Lausitzer
Genau, deprimierend schön beschrieben.