Professor Hans Neuhoff, AfD-Mitglied in Nordrhein-Westfalen seit 2017 und unter anderem Mitglied der Bundesprogrammkommission, stieß die Europaresolution nach dem Bundesparteitag in Dresden an. Neuhoff hatte dort den Willen der Partei wahrgenommen, das Projekt EU zu beenden und die Machtzentren in Brüssel und Straßburg zu entmachten. Seiner Auffassung nach dürfe sich das europapolitische Programm der AfD jedoch aus drei Gründen nicht auf den Kampfbegriff “Dexit” beschränken:
Zum einen nämlich sei ein “Dexit” eine nationale Entscheidung, die zur Zerstörung der EU führte. Ihm schwebe hingegen eine partnerschaftlichen Auflösung vor, ein Umbau, der zur Entmachtung der EU-Nomenklatura führe und wesentliche Souveränitätsrechte in die Nationen zurückverlagere.
Zweitens stehe fest, daß im Rahmen einer multipolaren Welt- und damit Großraumordnung keine europäische Nation stark genug sei, sich nur aus sich selbst heraus zu behaupten. Notwendig sei ein Europa der Vaterländer, das sich als Kulturraum begreife und in einer gemeinsam verteidigten und gegen den massiven Einfluß anderer Großräume zusammenstehenden Hülle die je eigene Entwicklung der beteiligten Nationen zulasse.
Drittens sollte nach außen und innen klargestellt werden, daß der AfD nicht die Rolle einer destruktiven Fundamentalopposition zugeschrieben werden dürfe.
Mit diesen grundsätzlichen Erwägungen trat Neuhoff an Höcke heran, den er als EU-Kritiker einschätzte, nicht aber als jemanden, der über den Tellerrand der deutschen Nation hinauszudenken nicht in der Lage sei. An der Textfassung einer konstruktiven Europa-Resolution arbeiteten Neuhoff und Höcke eng zusammen, unterstützt von dem Europaabgeordneten Maximilian Krah.
Zu einem späteren Zeitpunkt wurde dann der Bundesfachausschuß 1 (Außen- und Sicherheitspolitik) dazu eingeladen, sich an der endgültigen Formulierung der Resolution zu beteiligen. Dieser Bundesfachausschuß diskutierte in mehreren Sitzungen bis ins Detail über die letztlich gültige Textfassung und entschied im April diesen Jahres einstimmig die Mitunterzeichnung.
Er wurde im Antragsbuch repräsentiert durch seinen Leiter Dieter Neuendorf. Zwei Leitkonzepte der Resolution, nämlich der Begriff der multipolaren Weltordnung und das Ziel der Erlangung strategischer Autonomie für Deutschland und seine europäischen Partner, waren von diesem Bundesfachausschuß bereits im Bundeswahlprogramm 2021 verankert worden.
Die Resolution “Europa neu denken” ist hier in vollem Wortlaut als pdf verfügbar. Wie breit sie letztlich getragen wurde, ist auch daran abzulesen, daß neben Alexander Gauland auch der Chef der Bundesprogrammkommission, Albrecht Glaser, zu den Unterzeichnern des Antrags zum Bundesparteitag in Riesa gehörte.
Warum ist diese Resolution letztlich nicht verabschiedet worden in Riesa? Warum soll sie plötzlich als gerade noch verhinderter Schlußakt von Riesaer Höcke-Festspielen gelten und warum ihre Verhinderung als eine Art Abkehr in letzter Sekunde vom inhaltlichen Narrensaum? Warum soll diese so breit getragene und inhaltlich so gründlich und konstruktiv formulierte Resolution die Klippe gewesen sein, an der ein von einer allgemein empfundenen Samstagsharmonie beflügelter Parteitag zerschellte?
Am Telefon schilderte Neuhoff die Vorgänge in einer Mischung aus Unverständnis und Nüchternheit. Diese Sicht wird nicht nur von Höcke, sondern von etlichen weiteren Delegierten geteilt. Vier Punkte sind wesentlich:
1. Es stimmt nicht, daß Höcke oder jemand anderes die Befassung mit den Anträgen zur Europapolitik, zur Friedenspolitik und zur Einsetzung einer Strukturkommission auf die letzten Stunden des Parteitags verschoben hätte, um nach einer früheren Abreise etlicher Westdelegierter mithilfe der Oststimmen positive Entscheidungen erzwingen zu können.
Unter anderem Höckes Vorschlag und Wunsch war es, die inhaltlich so wichtigen Grundsatzpapiere noch vor den Personalwahlen, also bereits am späten Freitag oder frühen Samstag zur Entscheidung zu stellen. Dies wurde jedoch abgeschlagen.
2. Daß die Entscheidung, die Gewerkschaft “Zentrum Automobil” von der Unvereinbarkeitsliste zu streichen, vor den Grundsatzpapieren anstand, wird unisono als unglücklich bewertet. Wichtig für die Bewertung der Zusammenarbeit von Neuhoff und Höcke in Sachen Europa ist der Hinweis, daß sie sich in Sachen Gewerkschaft unterschiedlich positionierten.
Höcke wollte das grundlegende Zeichen setzen, daß weder persönliche Animositäten noch Mediendruck zu Distanzierungen führen dürften, sondern ausschließlich parteiinterne Bewertungen entlang objektiver Kriterien. Neuhoff hingegen schloß sich der Auffassung Roman Reuschs an, der mit Blick auf den Verfassungsschutz vor einem Harakiri warnte.
3. Daß Höcke die Europaresolution letztlich selbst vorstellte und zur Abstimmung vorschlug, war überhaupt nicht vorgesehen. Neuhoff war auf die Präsentation vorbereitet und verließ am Sonntag nach mehrstündiger Tagungsdauer die Halle mit dem Kenntnisstand, daß er frühestens in einer Dreiviertelstunde zur Präsentation aufgerufen würde.
Auf Antrag von Thomas Röckemann (NRW) entschied aber der Parteitag, unter anderem die Europaresolution nun doch sofort zu behandeln. Der Aufruf zur Vorstellung erfolgte, Neuhoff war nicht erreichbar, und nach dem dritten Aufruf blieb Höcke nichts anderes übrig, als den Antrag selbst zu präsentieren – was aus seiner Präsenz vor allem nach der gewonnenen Abstimmung über das “Zentrum Automobil” eine Art Dominanz machte.
4. Mit völligem Unverständnis blicken sowohl Neuhoff als auch Höcke und andere beteiligte Unterzeichner der Europaresolution allerdings auf die Verfahrensanträge, die nach der Präsentation eingebracht wurden und in denen es unter anderem um inhaltliche Korrekturen ging. Weder war im Antragsbuch zum Parteitag ein Änderungsvorschlag zu finden, noch war bis zum Ende der Präsentation bei der Antragskommission ein Saalantrag zur Resolution eingegangen.
So setzte sich bei denjenigen, die den Antrag über Monate erarbeitet und mit wichtigen Gremien abgestimmt und eingebracht hatten, der Eindruck fest, daß sich die plötzlich auftretenden Gegner der Resolution nicht in der dafür vorgesehenen Zeit vor dem Parteitag mit den Inhalten befaßt hätten.
Höcke war mir gegenüber fast noch nie so aufgebracht wie über diesen Punkt. Er selbst (das konnte ich im Vorlauf auf den Parteitag mitverfolgen) war auf jeden einzelnen Antrag des rund 100-seitigen Antragsbuchs vorbereitet und hätte aus dem Stegreif zu jedem Inhalt seinen Standpunkt vortragen können – obwohl er, wie seine Kritiker gern betonen, eigentlich in der Landespolitik zuhause sei.
Auch Neuhoff äußerte im Gespräch sein Unverständnis für die Lässigkeit, mit der man aus dem hohlen Bauch heraus Formulierungen des Antrags infrage stellte und eine klare europapolitische Stellungnahme verhinderte. So betonte er mir gegenüber beispielsweise den für die Resolution so wesentlichen Unterschied zwischen Ukrainekonflikt und Ukrainekrieg – also die geopolitisch so entscheidende, jahrzehntelange Anbahnung und Verschärfung eines Konflikts durch den US-geführten Westen einerseits und die kriegerische Konsequenz durch den Angriff Rußlands andererseits: ein in den auf Kriegspropaganda umgeschwenkten deutschen Medien völlig unterrepräsentiertes Diskussionsfeld.
Dies ist nur ein Beispiel von vielen, und es ist wichtig, daß sich die Partei weniger mit Personalfragen und mehr mit solchen Inhalten befaßt. Einen deutlicheren Abstand zu allen Altparteien kann man nur auf diese Weise markieren.
Hätte man einen solchen Sonntag vermeiden können? Wichtig ist: Der Bundesparteitag wurde nicht “im Chaos abgebrochen”, sondern ordentlich beendet, denn es war Sonntagnachmittag. Die einen hätten sich besser vorbereiten und die einende Bedeutung solcher Resolutionen begreifen sollen. Die anderen hätten vielleicht die Verfahrenheit der Situation verstehen und einer Verschiebung zustimmen sollen. Aber das ist Reden über vergossene Milch.
Zuletzt: Ein Beispiel traurigen Mutes ist die Video-Analyse des Chefredakteurs der Jungen Freiheit, Dieter Stein, der die Dimension der Europaresolution nicht verstanden hat und ihren Verfassern und Unterzeichnern (immerhin das oben erwähnte, beeindruckende Tableau) politische Unzurechnungsfähigkeit bescheinigte.
Auch Ann-Katrin Müller hat im Spiegel über die Vorgänge einen ihrer zur Masche gewordenen Lückentexte veröffentlicht und darin behauptet, Alice Weidel hätte aufgrund einer mit ihr konkurrierenden Personaloption zunächst Rache geschworen und dann den Sonntag zerschossen. Diese Form der Berichterstattung (die keine ist, sondern Benzinkanister in überhitzte Parteibereiche stellen möchte) wird innerhalb der AfD noch immer viel zu ernst genommen – und dies nach Jahren der Erfahrung im Umgang mit dem spalterischen, giftigen Feingefühl der Mainstreammedien.
Es gibt eigentlich keinen Grund, sich das, was am Sonntag geschah, zum alles bestimmenden Ereignis von Riesa einreden zu lassen. Chancen wurden vertan, Prozesse verzögert. Aber das läßt sich richten.
– – –
Den Telegram-Kanal der Sezession finden Sie hier. Treten Sie bei!
Uwe Lay
D.Stein hat die Europaresolution schon verstanden und erfaßt, daß die so nicht kompatibel ist mit der Europapolitik der C-Parteien. Wer auf eine CDU-AfD Regierung hofft, muß eben wie die JF und der "Meuthenflügel" auf eine Entradicalisierung der AfD setzen, daß sie brav bürgerlich werde, um dann unter einem C-Kanzler mitregieren zu können.
Ein ganz anderes Problem ist, inwieweit diese Europakonzeption wirklich realistisch ist.Wäre Polen ein Mitglied des neuen Europas, verlangte es einen klaren antirussischen Kurs, der aber nicht im Interesse Deutschlands liegen kann. Frankreich wird immer in Deutschland eine "Bedrohung" sehen und so für eine Schwächung Deutschlands sich einsetzen. Daß Rußland zu Europa gehört und erst durch den "Kalten Krieg" aus Europa herausgedrängt wurde, sollte durch ein neues Europakonzept unter Ausschluß von Rußland auch nicht zementiert werden.