Was der Winter bringen wird, vielleicht schon der Demonstrationsherbst, der dunkler ist als der Sommer, wissen wir nicht. Wir kennen aber die Beweglichkeit und die Rücksichtslosigkeit der “Offenen Gesellschaft” deutschen Zuschnitts: Ihre Mischung aus Repression, Massenformierung und Angebot ist extrem erfolgreich. Sie hat das Starre durch Flexibilität ersetzt und kann noch immer Lebenschancen bereitstellen, die in anderen Ländern nicht denkbar sind oder zu einem hohen Preis erkauft werden müssen.
Abpufferung von Widerstandspotentialen durch politische Geschenke, den Druck vom Kessel nehmen, den man selbst aufs Feuer geschoben hat – das ist das eine. Wir können es beklagen und für ungerecht befinden, daß dieselben Leute, die zunächst für die Schieflage oder sogar Katastrophe verantwortlich sind, im zweiten Schritt abmildernd und korrigierend eingreifen und so den Unmut über ihr Versagen in Zustimmung für ihre Großzügigkeit verwandeln können. Sie können es, weil sie an der Macht sind.
Besser wäre es, Machtmittel zur Linderung oder Milderung von lange angebahnten Krisen stünden nicht mehr zur Verfügung: Erst Verschärfungen von Lagen und Zustände von Aussichtslosigkeit werden jene unversöhnlichen Stimmungen hervorrufen, die der Motor jeder echten Wende sind.
Andererseits will man dem einfachen Mann solche Lagen gerade nicht zumuten: Es ist unstatthaft und zu leicht, von Verschärfung zu sprechen, wenn man selbst solche Verschärfungen nicht zuerst, sondern sehr, sehr spät zu spüren bekäme. Aber: Vielleicht unterschätzen wir diesen “einfachen Mann” einfach immer. Vielleicht ist er unanfälliger als wir uns das denken können, vielleicht zäher und von sehr viel weniger intellektueller Ambivalenz geplagt.
Uns, dies muß einmal gesagt werden, plagen ambivalente Blicke auf die Dinge, uns plagt das Uneindeutige, die Frage nach dem richtigen Leben im Falschen, und plagt die Notwendigkeit, mit den richtigen Fragen immer tiefer zu bohren und mit diesem Fragen nicht aufzuhören.
Natürlich kennen auch wir Publizisten und Magazine, deren Geschäftsmodell darin besteht, jede Unmutsregung zu Entscheidungsschlachten um die Freiheit hochzuschreiben, zu Entscheidungstagen und Epochenbrüchen, und die Teilnehmer an einer Demonstration zum revolutionären Subjekt.
Soll sein – bloß bleibt das an der Oberfläche und ermüdet die Hoffnung. Ist es nicht ehrlicher, gründlicher nachzuschauen und in Widersprüchen zu denken? Sollen wir, der Dynamik wegen, jeden Widerstandslärm als den Bühnenauftritt Verbündeter beklatschen?
Ein Beispiel, pulverdampfvernebelt zunächst, bei genauerem Hinsehen aber mindestens ambivalent:
Die Niederlande haben Gesetze beschlossen, die einem Drittel ihrer Bauern das Wirtschaften unmöglich machen könnten. Begründet wird diese Entscheidung mit einer für das Weltklima notwendigen Reduzierung der Emissionen, die aus den dichtgedrängten Viehbeständen der Fleisch-Export-Nation Holland aufsteigen.
Gase steigen aus Ställen auf, in denen massenhafte Vernutzung von Tierleben für den Massenkonsum so effektiv wie möglich organisiert ist. Tierfabrik, Massentransport, Großschlachtereien mit Kapazitäten von zehn‑, fünfzehn‑, zwanzigtausend Stück Vieh am Tag: Wenn sechs unter Klarsichtfolie verpackte Schnitzel das Fünftel einer Handwerkerstunde kosten, kann von Achtsamkeit, Sorgfalt, Würdigung, kurz: von Lebensmittel nicht mehr die Rede sein.
Das anonyme Stück Vieh, die Wegstrecke quer durch Länder, die Massenabfertigung im Schlachtvorgang, die Keulung ganzer Bestände bei Befall, die Verpackungsindustrie und die Distribution – das alles ist ebenso eingepreist wie die wortwörtlich mit Gewürzen übertünchte Geschmacklosigkeit des Fleisches und die Tatsache, daß von diesen Produkten über ein Viertel nicht verzehrt, sondern als überflüssiger Konsum mit üppiger Geste entsorgt wird.
Wir sollten das Argument, hier müsse die CO2-Bilanz verbessert werden, als Teil eines großen Verblendungszusammenhanges verwerfen: Es gibt einen grünen Kapitalismus, ein grünes Klientelinvestment in nur vermeintlich »saubere« Prozesse, einen grünen Massenkonsum, der nur aufgrund einer grünen Propagandamaschinerie schon beim Einkauf das gute Gefühl von Nachhaltigkeit, globaler Verantwortung, Reife, eben von Wokeness, von kritischer Aufmerksamkeit vermittelt.
Die grüne Massenproduktion benötigt den grünen Massenkonsum, die Verschwendung, die Kurzlebigkeit der Ware, die Notwendigkeit des Ersatzes, die Wegwerfmentalität, das Peingefühl beim Anblick in die Jahre gekommener Güter. Dies alles soll ja so bleiben, bloß wird es mit dem guten Gewissen aufgeladen, daß es sich doch um etwas ganz anderes handele, um eine Form des Konsums nämlich, die die drohende Katastrophe im Blick hat.
Fleisch kaufend die Pflanzung eines Bäumchens am Ufer des Amazonas fördern – das soll es sein.
Weiß jemand, wie viele »Dänische Lastenfahrräder« in Großstadtkellern vor sich hin rosten, weil ihr Einsatz als Autoersatz doch nicht das hielt, was er versprach? Wie viele mit gigantischem Energieeinsatz zusammengeschraubte E‑Autos rollen, weil jemand die Kaufprämie einstrich und dafür seinen bloß ein paar Jahre zuvor mit ebenso gigantischem Energieaufwand hergestellten Diesel abstieß? Ist nicht jedes Auto, das zwei Jahrzehnte läuft, ökologischer als jeder grün angepriesene Ersatz, jedes im Dorf gemästete, geschlachtete und in seine Därme gestopfte Schwein ein Energiespender, jedes industriell hergestellte, vegane Stück “Fleisch” eine Energiesenke?
Es gibt kaum etwas Verlogeneres als die Umweltbilanz der grünen Industrie und wohl kaum etwas Professionelleres als die PR-Maschine, die eine solches Lügengebäude unsichtbar zu machen versteht.
Wir sollten einerseits diese Lügen Lügen nennen, ohne uns andererseits zu denen zu gesellen, die von der menschengemachten Zerstörung organischer Gleichgewichte und Balancen nichts wissen wollen und die Verteidigung ihrer Freiheit am Grill, beim Buchen billiger Fernreisen und im jährlichen Austausch ihrer Garderobe für eine Widerstandsleistung halten.
Diese so oft so unbescheidenen Menschen sind ebenso unachtsam wie der große Komplex, der ihnen ermöglicht, was sie jahrzehntelang sollten und nun nicht mehr auf dieselbe Weise sollen, also doch weiterhin, bloß anders.
Die Bauern auf den Straßen Hollands: Wir haben sie wahrgenommen und ihren Antrieb, ihre Existenzangst, ihre Empörung verstanden. Wir verwerfen ihren widerständigen Furor nicht, wenn sie Straßen blockieren und Engpässe herbeiführen. Es kann jetzt nicht einfach so weitergehen, lautet die Botschaft.
Ihr Treiben ist uns näher als das radikalökologischer Aktivisten, die ihre Handflächen auf Straßenkreuzungen kleben und SUV-Reifen aufstechen, um den Verkehr zum Stillstand zu bringen – das nämlich ist abgesicherter Mut, profitierend von den Transferleistungen der hart arbeitenden Mittelschicht, die auch den Versorgungsapparat radikaler Teile der linksgrünen Blase mitzufinanzieren hat.
Ambivalenzen: die Landwirte verstehen, aber ihre Wirtschaftsform ablehnen, ihren Hilferuf vernehmen, aber ihre fundamentale Unfreiheit als Teilstück in Vernutzungsketten wahrnehmen, Lagesympathie empfinden, mehr nicht.
Es muß dritte Wege geben, es muß.
Franz Bettinger
Preis- und Steuer-Erhöhungen waren der Auslöser der Französischen Revolution. In Paris hungerten die Leute. Hinzu kamen Missverständnisse unter den Etablierten selbst, ja sogar unter den Befehlshabern der Bastille. Es endete mit Köpfen auf Spießen. Stimmt, es muss Einiges zusammenkommen, damit's knallt, aber das passiert; und es passiert heute mehr denn je. Insofern darf man hoffen. In der Tat scheint es eine elegante, gesichtswahrende und halbswegs schmerzlose und gewaltlose Lösung für den Sauhaufen Deutschland nicht mehr zu geben. On y va!