Wenn die Geburt eines Kindes ansteht, wird dem Umfeld von den Eltern in spe häufig das Geschlecht verraten. Das hat – natürlich nie so ausgesprochen – mit einem Relikt aus alten Zeiten zu tun. Man erwartete anno dazumal einen »Stammhalter« – oder eben nur ein Mädchen. Gut, wenn das Geschlecht beizeiten klargestellt wurde, um dumme postpartale Bemerkungen zu vermeiden.
Kein Mensch von Verstand – es sei denn ein expliziter Patriarch – wünscht sich wohl heute noch explizit einen Knaben. Ist ja auch klar – Mädchen haben heute in allen Bereichen die Nase vorn (nur in Höhlenforschung, Raumfahrt, Maschinenbau, Elektrotechnik, Chirurgie, Informatik und zwei, drei weiteren unwichtigen Bereichen nicht).
Relativ neu, von Übersee nach Deutschland herübergeschwappt und aus dem Stand äußerst populär geworden, sind sogenannte Gender Reveal Parties. Es gibt zwei Varianten: In der einen erfährt das Elternpaar das Geschlecht ihres eigenen Neulings erst auf der (möglichst bombastischen) Feier. Eine Eingeweihte durfte den untersuchenden Frauenarzt zuvor befragen. Sie backt dann beispielsweise einen Kuchen mit entsprechender Symbolik, der dann feierlich enthüllt wird. Und alle kreischen! In der anderen Variante offenbaren die Eltern selbst den darob ausgelassen Mitfeiernden (gern auch nur über Instagram), ob es einen Buben oder ein Mädel geben wird.
Solch ein TV-induzierter Budenzauber mag einerseits tragisch erscheinen – andererseits ist es doch wunderschön, daß in der westlichen Welt einem einzelnen Neuankömmling solche Aufmerksamkeit zuteil wird. Fast mag man es konterrevolutionär nennen – echte Modeopfer schaffen sich heute ein bewußt genderneutrales Kinderzimmer an. Man will das Kleine ja nicht in puncto soziales Geschlecht »manipulieren«.
Geheimer als das Geschlecht wird normalerweise der künftige Name gehalten. Logisch: Denn pränatale Einwände gegen die Namenswahl dürften häufiger sein. Die erspart man sich lieber – was klug ist. Es gibt (zumal in Deutschland) keine bundesamtliche Statistik über die Vergabe von Vornamen. Es gibt nur offiziöse Verlautbarungen, auch wenn etwaige »Statistiken« in den Vermischtes-Meldungen der Tageszeitungen quasiamtlich daherkommen. Die Namensdaten werden auf unterschiedliche Art und Weise erhoben, wobei dieser Modus gewöhnlich intransparent bleibt.
Als gründlicher Vornamensforscher hat sich hierzulande seit langem der Wirtschaftsinformatiker Knud Bielefeld etabliert. Er betreibt die vielbesuchte und reich kommentierte Netzseite www.beliebte-vornamen.de. Für seine erhellenden Namensstatistiken greift er unter anderem auf Familienanzeigen, Absolventenverzeichnisse und literarische Quellen zurück. Seit 2004 stehen ihm die Daten zahlreicher Geburtskliniken und Geburtshäuser zwecks Auswertung zur Verfügung. Im Jahr 2020 erfaßte er für seine Zählung 23 Prozent der Neugeborenen in Deutschland.
Seine Zusammenstellung (die er durch kundige Bemerkungen begleitet) ist faszinierend, sie beginnt mit den beliebtesten Namen im späten Mittelalter. Gemäß seiner Quellenlage stand auf Platz 1 der Name Margret mit vielerlei Nebenformen, auf Platz 2 Els inklusive Elsbeth, Elßlein, Bettlin und vielen anderen, gefolgt von Anna auf Platz 3. Bei den Knaben standen Hans, Kunz, Heinz, Jörg und Ulrich hoch im Kurs. Bielefelds Aufzählung ist in späteren Jahren nahezu minutiös und akribisch. 1890 sind Anna, Frieda, Bertha und Margarete sowie Karl, Wilhelm, Otto, Gustav, Heinrich und Max am populärsten. 1914 sind Hans, Walter und Karl sowie Gertrud, Hildegard und Erna die häufigsten Vornamen.
Springen wir ins Jahr 1936: Helga ist unangefochtener Spitzenreiter bei den kleinen Mädchen, es folgen Ingrid, Ursula, Renate und Karin. Bei den Buben: Günther, Klaus, Jürgen, Hans und Werner. Anno 1962 sind Susanne, Andrea, Petra und Sabine angesagt oder Thomas, Michael, Andreas und Frank.
Noch Ende des vergangenen Jahrhunderts waren die deutschen Standesämter relativ streng bei der Vergabe außergewöhnlicher Namen. »Beweise« mußten vorgelegt werden, daß der Name tatsächlich im »echten Leben« existiere. Pumuckl und Tarzan waren nicht gestattet. Heute schon, denn heute ist man wesentlich entspannter: Kinder dürfen Himmelblau, Blue (sehr beliebt übrigens, eventuell weil der Schauspieler Uwe Ochsenknecht einen Sohn so benannte; Rechtfertigung des Standesamts: »Rosa ist doch auch schon lange gängig«), Siebenstern, Trumf, Raperin, Moxxi, Dee-Jay oder Popo genannt werden. Absagen gab es für Whisky, Joghurt, Liebknecht, McDonald, Bierstübl und Satan.
Gemessen am restlichen Europa sind deutsche Eltern bei der Namenswahl besonders wandelbar bis experimentierfreudig. In anderen Ländern geschieht die Vergabe deutlich konservativer. In Großbritannien stehen Harry, Jack, Charlie und Thomas (oder Jessica, Emily und Olivia) seit Jahrzehnten weit oben in der Hitliste. In Polen sind es seit je und bis heute Jan(usz), Michal, Mateusz, Adam und Bartosz und in Spanien Pablo, Manuel, Diego, Alejandro und Javier. In diesen Ländern schlägt Tradition Mode.
Interessant für Deutschland ist die seit etwa zwei Jahrzehnten feststellbare Konjunktur »alter« Namen. Manche (Emil, Paul, Heinrich, Friedrich, Gustav, Max oder Lisa, Lena, Emma, Maria, Marie, Mia) laufen hervorragend, wohingegen andere (Jürgen, Harald, Günther, Horst oder Christa, Waltraud, Renate, Helga) überhaupt keine Abnehmer finden. Die populäre Erklärung lautet, daß stets die Großväter- und Großmütternamen (Wilhelm und Josefa kommen uns »uralt« vor) boomten, es also noch Zeit brauche, bis Inge und Eduard, Werner und Karin als Trend dran wären.
Beim Blick auf die Statistik kann das nicht ganz stimmen. Ohnehin bleibt eine Menge Forschungsbedarf: Wie kann es sein, daß ganze 40 Prozent der beliebtesten Vornamen anno 2020 auf die Anfangsbuchstaben L, M und A lauteten? Statistisch ist das enorm auffällig – rein gefühlsmäßig sind dies defensive Anlaute, anders als etwa K, T, Z oder R.
Kurios ist auch, daß Mohammed / Muhammad / Mehmet et al. ausschließlich in Berlin (Platz 1) und Bremen (Platz 3) in den Hitlisten auftaucht. Wir haben fünfeinhalb Millionen Muslime in Deutschland, und es wäre unlogisch und ohne jede Evidenz, daß diese geburtenstarke Gruppe ihre Kinder plötzlich Noah, Elias oder Hannah und Clara nennte. Ob häufige arabische Vornamen wie Tarek, Omar, Leyla und Fatima einfach unter die 77 Prozent der nicht erfaßten Vornamen (beispielsweise in Ungarn gibt es dafür eine Behörde) fallen?
Schauen wir auf die »Hitliste« 2020. Es gibt hier unter den Mädchennamen keinen einzigen Namen, der nicht auf den Weiblich- und Niedlichkeitsvokal a endete! Und dies zu Hochzeiten der »Genderneutralität«! Keine Silke, keine Doris, nicht mal eine Jette oder Alice. In Norddeutschland boomen einige wenige Vornamen, die es in Süddeutschland nicht unter die Top Ten geschafft haben. Aber auch sie enden auf a: Ella und Ida. Auch in Süddeutschland gibt es Namen, die im Norden wenig attraktiv wirken: Lea und Clara. Weithin keine Spur von genderneutralen Namen wie Kai, Jamie, Toni oder Louis.
Auch bei den Jungennamen gilt festzuhalten, daß Namensmoden heute im Schnitt unkonventioneller sind als anno dazumal. Es gab 1964 viermal mehr Thomasse, als es heute Bens gibt. Eine ungeklärte Entwicklung ist, daß die heute bevorzugten Jungennamen (anders als die jüngst populären Maximilian, Johannes, Valentin oder der Dauerbrenner Alexander) gern mit sehr wenigen Buchstaben auskommen: Finn, Luis, Paul, Noah.
»Noah« als Nummer eins gibt ohnehin Rätsel auf. Befinden wir uns etwa in einer Endzeitstimmung, in der man Bootsbauer sucht? Was sagt uns dann der steile Aufsteiger Matteo, der sowohl in urbanen wie in provinziellen Kreisen Deutschlands Hochkonjunktur feiert? »Gabe Gottes« bedeutet der Name. Nomen est omen? Wer weiß.