Vladimir Volkoff

von Konrad Markward Weiß

PDF der Druckfassung aus Sezession 103/ August 2021

Vla­di­mir Vol­koff hat als Roman­cier, Dra­ma­ti­ker, Dich­ter, Essay­ist und Bio­graph mehr als 70 Publi­ka­tio­nen hin­ter­las­sen; eini­ge Schlag­lich­ter auf Leben und Werk des tief­gläu­bi­gen ortho­do­xen Chris­ten, kämp­fe­ri­schen Anti­kommunisten, über­zeug­ten Aris­to­kra­ten, stu­dier­ten Alt­sprach­lers, pro­mo­vier­ten Phi­lo­so­phen sowie Offi­ziers im Gue­ril­la­krieg sol­len zur Beschäf­ti­gung mit dem hier­zu­lan­de noch wenig bekann­ten, hoch­po­li­ti­schen lite­ra­ri­schen Schwer­ge­wicht anregen.

Vol­koff wird 1932 in Paris als Sohn rus­si­scher Emi­gran­ten gebo­ren; der Vater, des­sen Fami­lie seit dem 16. Jahr­hun­dert den Zaren gedient hat­te, muß sich als Auto­wä­scher ver­din­gen und stößt 1939 als ein­fa­cher Sol­dat zur Frem­den­le­gi­on. Die Mut­ter, eine Ver­wand­te Tschai­kow­skis, hält die Fami­lie mit Stick­ar­bei­ten über Was­ser und die Treue zur fer­nen Hei­mat hoch: Sie ist eine eben­so lie­be­vol­le wie for­dern­de Erzie­he­rin Vla­di­mirs, der in einem Haus mit Lehm­bo­den ohne Was­ser­an­schluß und Elek­tri­zi­tät auf­wächst, wo die Milch im Win­ter gefriert. Und trotz­dem: »Ich war das glück­lichs­te Kind auf der Welt«.

Mit sie­ben schreibt er ers­te Ver­se, ent­brennt bald für die fran­zö­si­sche Lite­ra­tur und wird sein gesam­tes Werk in die­ser Spra­che ver­fas­sen, die er an der Sor­bon­ne stu­diert; jeden Don­ners­tag lie­fert er sich dort in den Rei­hen der Action fran­çai­se Schlach­ten mit Kom­mu­nis­ten, »denen Gaul­lis­ten bei­sprin­gen, sobald deren Über­zahl von zehn gegen einen ins Wan­ken gerät« – man­che Din­ge ändern sich eben nie …

Er unter­rich­tet an einem Jesui­ten­kol­le­gi­um, wird zum Wehr­dienst ein­be­ru­fen und zögert trotz ent­spre­chen­den Wun­sches, sich frei­wil­lig zum Kampf­ein­satz in Alge­ri­en zu mel­den, aus Rück­sicht auf sei­ne inzwi­schen allein­ste­hen­de Mut­ter. Doch sie wischt alle Beden­ken bei­sei­te: »Es ist Krieg. Du bist ein Vol­koff. Selbst­ver­ständ­lich bist du ein Frei­wil­li­ger.« 1958, inzwi­schen Offi­zier, beschließt Vol­koff, sich nun »voll­stän­dig als Fran­zo­se anzu­neh­men, da mir fran­zö­si­sche Leben anver­traut sein würden«.

In Alge­ri­en befeh­ligt der Mari­ne­infan­te­rist einen Außen­pos­ten, wird zum Nach­rich­ten­dienst ver­setzt und mit Spio­na­ge, Hand­strei­chen und offen­si­ver Spio­na­ge­ab­wehr betraut. Spä­ter dient Vol­koff in einer Ein­heit, die zivi­le Infra­struk­tur und Logis­tik schafft, mit dem Ziel, »die Bevöl­ke­rung dahin zu brin­gen, Frank­reich vor­zu­zie­hen«. Sein künf­ti­ges Leben sieht er ganz in Algerien.

Ange­sichts von Bom­ben­ter­ror und Greu­el­ta­ten der alge­ri­schen FLN bzw. ALN wird der jun­ge Leut­nant bald aber auch mit mora­li­schen Fra­gen kon­fron­tiert – ins­be­son­de­re der Fol­ter. Per­sön­lich kann er sich jedoch her­aus­hal­ten, da »ich es radi­kal ablehn­te, irgend etwas zu tun, das mei­ne Prin­zi­pi­en mir verbaten«.

Die quä­len­den Dilem­ma­ta eines asym­me­tri­schen Krie­ges hat Vol­koff in etli­chen hoch­dra­ma­ti­schen Roma­nen immer wie­der erör­tert: Im Jahr nach sei­nem Tod erscheint Le ­Tor­ti­on­n­aire (2006), das Dra­ma eines wie so oft stark an Lauf­bahn und Per­sön­lich­keit Vol­koffs ange­lehn­ten blut­jun­gen Offi­ziers; die­sem aller­dings, von sei­nen Vor­ge­setz­ten im Stich gelas­sen, gelingt es nicht, trotz eben­falls heh­rer Vor­sät­ze und Ehr­be­grif­fe, in einem zuneh­mend schmut­zi­gen Krieg auf Dau­er sau­ber zu bleiben.

Roman­fi­gur und Autor tei­len hin­sicht­lich eines in sich zer­ris­se­nen Frank­reichs einen Traum: »Viel­leicht könn­te man mit Hil­fe Alge­ri­ens die Tei­le wie­der zusam­men­fü­gen. In Alge­ri­en wird es kei­ne Rech­te und kei­ne Lin­ke mehr geben, son­dern ein gemein­sam zu ver­rich­ten­des Werk. ›Wenn du die Men­schen ver­ei­nen willst, gib ihnen einen Turm zu bau­en‹, hat Saint-Exupé­ry gesagt. Für die Fran­zo­sen könn­te Alge­ri­en die­ser Turm sein, die­ser gro­ße Traum«.

De Gaul­le aber führt ent­ge­gen frü­he­ren Beteue­run­gen ande­res im Schil­de, gibt Alge­ri­en auf und lie­fert die davor ent­waff­ne­ten alge­ri­schen Kämp­fer auf fran­zö­si­scher Sei­te der Rache der FLN / ALN aus, die wohl um die 100 000 »Har­kis«, häu­fig bes­tia­lisch, ermor­det. Tief beschämt soll­te Vol­koff die­sen Ver­rat Zeit sei­nes Lebens bekla­gen und anprangern.

Zurück in Frank­reich gelingt ihm mit dem Sci­ence-fic­tion-Roman ­Mét­ro pour l’enfer (1963) ein ers­ter Erfolg, in dem auch ein gewis­sen­lo­ser Staats­prä­si­dent mit dem Namen »Mon­sieur Pfui« eine fins­te­re Rol­le spielt: Ein jun­ger Stra­ßen­mu­si­ker begeg­net in der Pari­ser U‑Bahn sei­ner ver­stor­be­nen ein­zi­gen Lie­be wie­der und folgt ihr über die End­sta­ti­on hin­aus in eine Unter­welt, bevöl­kert von Unto­ten, die im Hams­ter­rad einer »gewal­ti­gen, voll­stän­dig nutz­lo­sen Maschi­ne­rie robo­ten« – eine Meta­pher für see­len­lo­se, durch­tech­no­lo­gi­sier­te Riesenstädte.

Der für Mét­ro erst­mals preis­ge­krön­te Schrift­stel­ler erlangt eine gewis­se finan­zi­el­le Unab­hän­gig­keit durch sei­ne von 1965 bis 1986 in vier­zig Bän­den vor­ge­leg­te Jugend­buch­se­rie Geheim­agent Len­net. Vol­koff ver­lebt die fol­gen­den Jahr­zehn­te in den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, wo er an einem eli­tä­ren Mäd­chen­gym­na­si­um lehrt und im »Old South« des­sen Abend­rot erlebt, zudem eine »lebens­ver­än­dern­de Erneue­rung« sei­nes ortho­do­xen Glaubens.

Sein lite­ra­ri­scher Durch­bruch erfolgt 1979 mit Die Umkehr: Des­sen Erzäh­ler, der jun­ge, rus­sisch­stäm­mi­ge Leut­nant Vol­sky, hegt lite­ra­ri­sche Ambi­tio­nen und schiebt ansons­ten eine ruhi­ge Kugel in einem dritt­ran­gi­gen fran­zö­si­schen Militärgeheimdienst.

Teils läp­pi­sche Fügun­gen füh­ren dazu, daß Vol­sky eine impro­vi­sier­te Ope­ra­ti­on aus dem Boden stampft, die sei­ne Kra­gen­wei­te deut­lich über­steigt – eben­so wie ihr Ziel: das »Umdre­hen« des skru­pel­lo­sen hoch­ran­gi­gen KGB-Offi­ziers Popov, eines eiser­nen Bol­sche­wi­ken mit leicht schwe­fe­li­gen Zügen. Die­ser hat wenig Mühe, die Manö­ver des dilet­tie­ren­den Vol­sky samt Kon­sor­ten zu durch­schau­en, und schleu­dert ihnen sei­ne Ver­ach­tung in einer Vol­koff-typi­schen peri­pa­te­ti­schen Brand­re­de offen ins Gesicht.

Der Pan­zer des Tsche­kis­ten wird bei völ­lig uner­war­te­ter Gele­gen­heit ris­sig: in einer rus­sisch-ortho­do­xen Hin­ter­hof­kir­che, wo als­bald ein epi­sches, meta­phy­si­sches Rin­gen beginnt, inner­halb eines bis zum Schluß fes­seln­den Spionageromans.

»Vol­koff hat die Welt der Phi­lo­so­phie und Meta­phy­sik in den Roman ein­ge­führt. Das war in Frank­reich uner­hört und noch nie dage­we­sen«, so ein Kri­ti­ker, und ein ande­rer: »Nach dem Tod von Ber­na­nos und Mau­riac […] gab es kei­ne neue christ­li­che Prä­senz im fran­zö­si­schen Roman, bis Vol­koff 1979 auf die Büh­ne stürmte«.

Bald dar­auf schlägt ihm Alex­and­re de Maren­ches, der legen­dä­re Chef des fran­zö­si­schen Aus­lands­ge­heim­diens­tes, die Abfas­sung eines Romans über die bedroh­li­che sowje­ti­sche Spe­zia­li­tät »Des­in­for­ma­ti­on« vor. Die­ser Topos ist ein gefun­de­nes Fres­sen für Vol­koff, als ehe­ma­li­gem Geheimdienst­offizier, glü­hen­dem Anti­kom­mu­nis­ten und mit­rei­ßen­dem Erzäh­ler gleicher­maßen, und wird ihm zu einem Lebensthema.

1982 erscheint Die ­Abspra­che, in deren Mit­tel­punkt der hoch­in­tel­li­gen­te, küh­le Alex­an­der Psar steht, ein­mal mehr ein Sohn weiß­rus­si­scher Emi­gran­ten. Pas­sen­der­wei­se auf der Gale­rie der Chi­mä­ren von Not­re-Dame wird er vom KGB ange­wor­ben, gegen das Ver­spre­chen, nach 30 Jah­ren treu­er Diens­te wohl­be­stallt nach Ruß­land »heim­keh­ren« zu dürfen.

Die­se Diens­te bestehen in der Mani­pu­la­ti­on der öffent­li­chen Mei­nung durch ein gan­zes »Orches­ter« fran­zö­si­scher Intel­lek­tu­el­ler und Jour­na­lis­ten, das Psar unter Nut­zung sei­ner Fas­sa­de als Literatur­agent und Her­aus­ge­ber ein­fluß­rei­cher Weiß­bü­cher als­bald meis­ter­haft diri­giert. Sein Leit­mo­tiv sind 13 Gebo­te, destil­liert aus den Leh­ren des chi­ne­si­schen Stra­te­gen Sun Tzu, dem zufol­ge die »höchs­te Kunst des Krie­ges dar­in besteht, den Feind kampf­los zu unterwerfen«.

Im Erschei­nungs­jahr, das sogar Le Mon­de »L‘année Vol­koff« nennt, erhält das beklem­men­de Meis­ter­werk des Roman­ciers den Grand Prix du roman de l’Académie fran­çai­se; die dar­in bloß­ge­stell­te Pres­se und Intel­li­gen­zi­ja aber soll­ten ihm nicht ver­zei­hen, wie Robert Pou­let spä­ter in einem Brief an den Schrift­stel­ler ana­ly­siert: »Frü­her oder spä­ter muß­ten Sie gegen eine Wand lau­fen. Sie wür­den zu jenen zeit­ge­nös­si­schen Autoren zäh­len, denen die ›gro­ße Pres­se‹ die ver­dien­te Aner­ken­nung zwar nicht ver­wehrt, es dabei aber so ein­rich­tet, daß man dabei vom Eigent­li­chen abge­lenkt wür­de. Begrün­dung: sie haben sich selbst ins abseits gestellt und waren so unver­fro­ren, es öffent­lich zu bekun­den. Sie haben also mit der Abspra­che eine unver­zeih­li­che Dreis­tig­keit vollzogen.«

Des­in­for­ma­ti­on also: Minu­ti­ös ana­ly­siert Vol­koff die Akteu­re und das kon­kre­te Hand­werk die­ser Herr­schafts­tech­nik. In sei­ner Peti­te his­toire de la dés­in­for­ma­ti­on (1999) defi­niert Vol­koff sie als »Mani­pu­la­ti­on der öffent­li­chen Mei­nung, zu poli­ti­schen Zwe­cken, durch eine mit ver­fäl­schen­den Mit­teln auf­be­rei­te­te Infor­ma­ti­on«. Vol­koff iden­ti­fi­ziert zahl­rei­che ent­spre­chen­de gro­ße Ope­ra­tio­nen wie die Unter­wan­de­rung west­li­cher Frie­dens­be­we­gun­gen durch die UdSSR: »Wenn du den Krieg willst, berei­te den Frie­den vor – beim Gegner«.

1991 »tritt ein nach­ge­ra­de unglaub­li­ches Ereig­nis ein: Der rote Rie­se bricht zusam­men, ohne ein ein­zi­ges Opfer zu for­dern«. Der noch im sel­ben Jahr erschie­ne­ne, mit hei­ßer Feder geschrie­be­ne schma­le Band La tri­ni­té du mal ist, so auch der Unter­ti­tel, eine »Ankla­ge­schrift zur Anwen­dung im pos­tu­men Pro­zeß gegen Lenin, Trotz­ki und Sta­lin«. Der Mar­xis­mus habe der »poli­ti­schen Ver­kör­pe­rung des Bösen drei Ele­men­te hin­zu­ge­fügt, die es davor nie­mals beses­sen hat­te, […] die dem Kom­mu­nis­mus eine Son­der­stel­lung unter den men­schen­ge­mach­ten Gei­ßeln ver­schaf­fen: den mora­li­sie­ren­den Vor­wand, den Orga­ni­sa­ti­ons­grad und die Uni­ver­sa­li­tät. […] Der Welt war nie­mals etwas Ent­setz­li­che­res zuge­sto­ßen als der Kommunismus.«

In Ana­lo­gie zu den Nürn­ber­ger Pro­zes­sen for­dert Vol­koff, auch in einem Appell an die Ver­ein­ten Natio­nen, »gegen­über dem Kom­mu­nis­mus mit sei­nen unend­lich zahl­rei­che­ren Opfern, der über die gan­ze Welt metasta­siert hat«, die Ein­rich­tung eines inter­na­tio­na­len Straf­ge­richts­hofs. Vor allem aber ver­langt Vol­koff ein öffent­li­ches Schuld­be­kennt­nis der Kom­mu­nis­ten – und daß «die wider­wär­ti­ge Pup­pe, ent­stellt von bal­sa­mi­schen, aus­trock­nen­den und anti­sep­ti­schen Injek­tio­nen, aus ihrem mons­trö­sen Kokon geris­sen» und auf die­se Wei­se der gesam­ten Mensch­heit ver­kün­det wer­de, daß Lenin sei­nen zwei­ten Tod gestor­ben und der Alp­traum vor­bei sei.

1995 mar­kiert eine wei­te­re Zäsur in der Lauf­bahn des bekennt­nis­star­ken Schrift­stel­lers: sei­ne end­gül­ti­ge Kalt­stel­lung durch die herr­schen­den Medi­en wegen sei­ner Par­tei­nah­me für Ser­bi­en wäh­rend der Bal­kan­krie­ge, die sich auch im Polit­thril­ler L’Enlèvement (2000) fin­det. Dort wird neben­bei auch der schwin­den­de »Mei­nungs­kor­ri­dor« selbst für demo­kra­tisch legi­ti­mier­te Staats­chefs behan­delt – und der Vor­marsch des Islam in Eu­ropa, mit den Wor­ten eines ent­spre­chen­den Kon­ver­ti­ten: »Mach dir kei­ne Illu­sio­nen. Wir haben die ein­zi­ge Schlacht gewon­nen, die zählt, die demographische«.

In der ein­sei­ti­gen media­len Dämo­ni­sie­rung Ser­bi­ens sieht Vol­koff eine meis­ter­haf­te, US-ame­ri­ka­nisch orches­trier­te Des­in­for­ma­ti­ons­kam­pa­gne und sagt schon damals die nächs­te vor­aus, gegen­über Ruß­land und des­sen Prä­si­dent Putin.

Sein Leib­the­ma Des­in­for­ma­ti­on tut der Viel­falt von Vol­koffs Werk kei­nen Abbruch: Im hand­fes­ten Le Bou­cla­ge (1990) wird eine nicht näher bezeich­ne­te euro­päi­sche Mit­tel­meer­stadt von so dras­ti­scher Kri­mi­na­li­tät geplagt, daß der neue »Admi­nis­tra­tor« der Metro­po­le eben­falls zu dras­ti­schen Maß­nah­men greift, um den Sumpf tro­cken zu legen.

Alles ande­re als harm­lo­se Erbau­ungs­li­te­ra­tur, aber ungleich lie­be­vol­ler in der Anla­ge sind die wun­der­sa­men, zart melan­cho­lisch-iro­ni­schen Chro­ni­ques angé­li­ques (1997), deren Autor sich ein­gangs an sei­nen Schutz­en­gel wen­det: »Mei­ne Hypo­the­se in die­sen Chro­ni­ken ist, daß eure Engels­hee­re den Geheim­dienst des lie­ben Got­tes bil­den. […] Sie erlau­ben es dem König der Köni­ge, den stets ein wenig rou­ti­ne­mä­ßi­gen, gewöhn­li­chen Gang der Schöp­fungs­ver­wal­tung zu überbrücken.«

Alle Epi­so­den fußen auf der Bibel, man­che außer­dem auf Inspi­ra­tio­nen von Tol­stoi bis Ser­gej Bul­ga­kow. »Sobald er zur Welt kam, hielt ich mich zur Rech­ten sei­ner Wie­ge und lieb­te ihn. Jener ande­re Herr pla­zier­te sich zu sei­ner Lin­ken und sann dar­über nach, wie er ihn ver­der­ben könn­te […]. Ich bin der unglück­se­ligs­te aller Schutz­en­gel gewe­sen, so wie Judas der unglück­se­ligs­te aller Men­schen war«.

Le Pro­fes­seur d’histoire (1985) schil­dert – nicht ohne Humor, nicht ohne Weh­mut – ein­schließ­lich einer letz­ten Lie­be die spä­ten Jah­re eines hoch­kul­ti­vier­ten, alters­wei­sen, katho­li­schen Reak­tio­närs und Gymnasial­lehrers, der in sei­ner Epo­che zuneh­mend ver­lo­ren ist und schließ­lich erkennt, daß es »für die Ver­gan­gen­heit kei­ne ande­re Zuflucht gibt als die Ewig­keit«. Denn »die Welt […] der Ver­gan­gen­heit beruh­te auf einem schlich­ten Grund­prin­zip: der Nach­ah­mung der Bes­ten durch die Übri­gen. […] Heu­te bemüht sich der Gene­ral­di­rek­tor zu reden wie der Hilfs­ar­bei­ter, paßt sich der Vater dem Söhn­chen an. Auf den Kopf gestell­te Nach­ah­mung, gekonnt von unse­ren Regie­run­gen beför­dert, die sich gro­ße Mühe geben, die Boll­wer­ke des Unter­schieds stück­chen­wei­se zu schleifen«.

Der Unter­schied und die Bes­ten – zwei so zen­tra­le Ele­men­te in Vol­koffs Welt­an­schau­ung, daß er ihnen jeweils ein eige­nes Werk wid­met: 2004 erscheint Pour­quoi je serais plu­tôt aris­to­cra­te, wo er zunächst fest­hält, was Aris­to­kra­tie bedeu­tet – die Herr­schaft der Bes­ten – und was nicht: ein Syn­onym für den Adelsstand.

Als schla­gen­des Bei­spiel nennt Vol­koff die KPdSU, die zumin­dest in ihrer Früh­zeit eine »aris­to­kra­ti­sche Struk­tur war, zu der man erst Zugang fand, nach­dem man sich als Revo­lu­tio­när bewährt hat­te […]«. Wäh­rend die Demo­kra­tie auf dem Prin­zip der Quan­ti­tät beru­he, sei die­ses der Aris­to­kra­tie völ­lig fremd, die zumin­dest theo­re­tisch nur das Kri­te­ri­um der Qua­li­tät ken­ne: »Ich weiß nicht, ob die ›Herr­schaft der Bes­ten‹ jemals exis­tiert hat, aber ich bin von die­sem Ide­al deut­lich mehr ange­tan als von der Ver­wirk­li­chung der Gelüs­te der grö­ße­ren Zahl«, bekennt Vol­koff. »Die Qua­li­tät wie­der­um kann kaum anders zum Aus­druck gebracht wer­den als in Begrif­fen der Über­le­gen­heit: Der Demo­krat beklagt es, den Aris­to­kra­ten erfreut es, das Fak­tum bleibt.«

Der Sport, beson­ders die Jagd nach Rekor­den, sei das aris­to­kra­ti­sche Kon­zept schlecht­hin; und nicht zuletzt des­halb so popu­lär, weil einem inne­ren Bedürf­nis nach Aris­to­kra­tie ent­spre­chend; weil der Sport, gera­de in einer Epo­che der Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit, »abso­lu­te Regeln und offen­kun­di­ge Erfol­ge bie­tet, und letzt­lich – so läp­pisch die­se auch sein mag – im Ergeb­nis die Wahr­heit her­vor­tre­ten läßt.«

Und dann der Unter­schied, der Vol­koff bereits in die Wie­ge gelegt war: »In der west­li­chen, demo­kra­ti­schen, intel­lek­tu­el­len, pazi­fis­ti­schen, agnos­ti­schen Zivi­li­sa­ti­on, in der ich leb­te, oblag es mir, den Gral einer ande­ren Zivi­li­sa­ti­on intakt zu hal­ten: öst­lich, auto­kra­tisch, theo­kra­tisch, krie­ge­risch, ortho­dox. […] Ich war für den Kult des Unter­schieds vor­aus­be­stimmt«. Die­sem hul­digt er in Le com­ple­xe de Pro­cus­te (1981), das den Namen des Wider­sa­chers im Titel trägt: des mytho­lo­gi­schen Rie­sen Pro­krus­tes, der sei­nen Opfern Glied­ma­ßen abhackt bzw. sie so lan­ge streckt, bis ihre Grö­ße der sei­nes sprich­wört­li­chen Bet­tes entspricht.

Vol­koff kommt es weni­ger auf »ver­ti­ka­le« Pri­vi­le­gi­en an, auf Über- bzw. Unter­ord­nungs­ver­hält­nis­se, son­dern auf hori­zon­ta­le Unter­schie­de, Nuan­cen, wie bei regio­na­len Volks­trach­ten oder Uni­form­de­tails inner­halb der­sel­ben Armee: »Es ist die pure Lust dar­an, sich als das wie­der­zu­er­ken­nen, was man ist – und wie­der­erken­nen kann man sich nur, wenn man sich unter­schei­det. […] Wie soll ich etwas lie­ben, das kei­ne Iden­ti­tät hat? Wie soll ich eine Iden­ti­tät an etwas erken­nen, das kei­ne Unter­schie­de hat?«

Die Gleich­ma­che­rei hin­ge­gen ist sel­ten so harm­los wie die Unter­schie­de, die sie zu besei­ti­gen trach­tet: »Die Schaf­fung von Dépar­te­ments hat­te als wesent­li­ches Ziel, die Beweh­rung der frü­he­ren Pro­vin­zen mit ihren Unter­schie­den und Ungleich­hei­ten zu bre­chen, um die Indi­vi­du­en gegen­über der Zen­tral­ge­walt in einer ein­zi­gen Rei­he aus­zu­rich­ten, wie beim Kegeln«. Pro­krus­tes, wie sich spä­tes­tens in unse­ren Tagen erweist, ist auch ein gro­ßer Globalisierer …

Der natür­li­che Lauf der Din­ge im Uni­ver­sum aber kennt nur eine Rich­tung: die Ver­grö­ße­rung der Entro­pie, mit dem End­zu­stand voll­stän­di­ger Undif­fe­ren­ziert­heit, so Vol­koff, der aus­gie­big den eben­so grim­mi­gen wie hell­sich­ti­gen rus­si­schen Phi­lo­so­phen Kon­stan­tin Leont­jew (1831 – 1891) zitiert, der Welt­re­vo­lu­ti­on, Welt­krieg und eine euro­päi­sche Föde­ra­ti­on vor­aus­sah: »Das gene­rel­le Gesetz, das die Basis der Schön­heit bil­det, ist die Viel­falt in der Ein­heit« – sprich die Harmonie.

Wie jeder Orga­nis­mus beginnt nach Leont­jew auch jedes Staats­we­sen in ursprüng­li­cher Ein­fach­heit (und mit gerin­gen Unter­schie­den), erlebt sei­ne Hoch­blü­te in der Aus­dif­fe­ren­zie­rung und schließ­lich die Sim­pli­fi­zie­rung des Nie­der­gangs in Rich­tung Unun­ter­scheid­bar­keit – end­gül­tig im Tod.

Die­ser ereilt Vla­di­mir Vol­koff am 14. Sep­tem­ber 2005 wäh­rend der Ent­ste­hung eines bemer­kens­wer­ten Kom­pen­di­ums zu sei­nem Leben und Werk, für das er eine kur­ze ein­lei­ten­de Auto­bio­gra­phie ver­faß­te. Die Lis­te des­sen, was er am Leben geliebt habe, ist lang; wirk­lich ver­ab­scheut habe er nur Fle­gel­haf­tig­keit, Pädo­phi­lie und Demokratie.

Der streit­ba­re »Dumas der Step­pen« – wie Le ­Figa­ro ihn wegen sei­ner in Ruß­land ange­sie­del­ten his­to­ri­schen Roma­ne bezeich­ne­te – bereu­te nur, sich nie duel­liert zu haben. Zum Tode Vla­di­mir Vol­koffs schrieb Domi­ni­que Ven­ner: »Wie alle Gro­ßen sei­ner Gene­ra­ti­on, Déon oder ­Ras­pail, war sein Emp­fin­den vom Krieg und den Tra­gö­di­en des Jahr­hun­derts genährt wor­den, an deren Erle­ben es den Kin­dern des Kon­sums und des lau­war­men Nihi­lis­mus so bit­ter gebricht«.

Der Krieg die­ses Gro­ßen war Alge­ri­en, zu dem er am Ende sei­nes Schaf­fens zurück­kehrt. Kei­ne 100 Sei­ten braucht Vol­koff, um span­nend wie ein Kri­mi­nal­ro­man in La Gre­na­de bis zum lako­nisch-bit­te­ren Ende die Spur einer gestoh­le­nen Hand­gra­na­te zu beschrei­ben; und wäh­rend die­se von Hand zu Hand geht anhand arche­ty­pi­scher Akteu­re ein schon damals müdes Eu­ropa, sei­ne Ver­äch­ter im Inne­ren und isla­mis­tisch-ter­ro­ris­ti­sche Geg­ner von außer­halb: Nach Jahr­zehn­ten der ers­te Vol­koff auf Deutsch, bei Karo­lin­ger; diver­se Groß­ver­la­ge hat­ten ihren ent­spre­chen­den Publi­kums­er­fol­gen bezeich­nen­der­wei­se kei­ne wei­te­ren Über­set­zun­gen fol­gen lassen.

Der Wahl­spruch der Vol­koffs lau­te­te »Der Turm stürzt ein, aber ergibt sich nicht« – und sei­nem Freund Vla­di­mir rief Jean Ras­pail nach: »Die Bru­der­schaft ist kon­ster­niert. Ich spre­che von jener win­zi­gen ›Hei­li­gen Schar‹ fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler und Roman­ciers, die an den äußers­ten lite­ra­ri­schen Rän­dern unse­res alten Euro­pa das Feu­er noch erwi­dern. Uner­meß­lich ist die Front, und wir sind so weni­ge; und nun läßt Ihr Tod gan­ze Abschnit­te der Mau­er, wo Sie uner­müd­lich patrouil­lier­ten, fast unge­schützt zurück. […] Die­ser Brief ist der letz­te. Sie wer­den ihn dort oben lesen, im Frie­den der Ewig­keit. Auf eine gewis­se Wei­se benei­de ich Sie: Sie wis­sen jetzt, war­um Sie recht hatten«.

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