Dieses Büchlein liest sich wie eine dringend nötige Hinführung auf den Briefwechsel (Volkstod – Volksauferstehung), den ich mit Martin Barkhoff im vorvergangenen Jahr über das Schicksal Deutschlands geführt habe.
Die Scheu vor dem Reichsbegriff erwies sich als so groß, daß er in keinem Dokument der Nachkriegsregelungen vorkommt und darüber hinaus aus Begriff selbst aus dem Gedächtnis der Deutschen getilgt wurde, jedenfalls aus dem Bereich der politischen Selbstverständlichkeit verbannt.
Dies schreibt Scheil fast zum Schluß seines Buches. Warum ist das so? Der Reichsbegriff ist, wichtig zum Verständnis seines Großessays, ja nicht bloß durch den NS “verbrannt” – auch wenn als “politische Bildung” gilt, dies zu behaupten – sondern stellt als Begriff selbst seit der Auflösung des Alten Reiches 1796 ununterbrochen “die deutsche Frage” .
US-Präsident Franklin D. Roosevelt dekretierte 1944, so zitiert Scheil, “dieses Wort ‘Reich’ und alles, wofür es steht, (ist) auszumerzen”. Warum? Es steht für mehr als bloß den (von Roosevelt erwähnten) “Inbegriff von Nationalität”. Es steht für weit mehr!
Stefan Scheil schreitet bezeichnenderweise den Weg der Reichskleinodien (Reichskrone, Heilige Lanze und Reichsschwert) über die Jahrhunderte ab. Wieder frage ich: warum tut er das? Auf der historischen Oberfläche läßt sich sehen, daß sie wandern: von Nürnberg nach Wien (1796), 1871 gelingt es dem re-installierten deutschen Kaiser nicht, sie von Österreich-Ungarn zurückzuerhalten, 1938 werden sie propagandaträchtig nach Nürnberg zurückgeführt, um dann 1946 auf Befehl der amerikanischen Militärverwaltung mit einem Panzerkonvoi nach Wien verbracht zu werden, wo sie bis heute in der Schatzkammer der Wiener Hofburg liegen.
Geht es um den “Symbolwert” des Reichsschatzes? Um eine Art Zeichenbeziehung zwischen “symbolisch aufgeladenen” Gegenständen und der politischen Struktur eines bzw. mehrerer (Stichworte: “Kleinstaaterei”, “groß- und kleindeutsche Lösung” etc.) Staaten der Deutschen?
Wesentlich mehr kann ein gegenwärtiger Historiker, respektive nach dem “symbolic turn”, der aus der Geschichts- eine dekonstruktivistische Kulturwissenschaft unter vielen gemacht hat, nicht herausbekommen.
Stefan Scheils kaplaken liest sich meines Erachtens deshalb so elektrisierend, weil er – ohne daß er irgendeine alte oder neumodische Großtheorie der Historikerzunft sehen läßt – diese “Symbolebene” an vielen Stellen überschreitet. Das Reich ist weder symbolisch, geschweige denn faktenhistorisch, noch politisch (also als Machtfrage) zu fassen, und auch nicht, füge ich zur Sicherheit noch hinzu, “religiös” im Sinne des alten katholischen “Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation”.
In unserem Briefwechsel faßt Martin Barkhoff “das Reich” als geistige Gestalt. Das physische Deutsche Reich ist Ausdruck eines langandauernden Geschehens, in dem die Menschengenerationen und Machtformen einander ablösen, aber etwas Höheres durchgetragen wird – auch dann und gerade dann, wenn geopolitisch das Reich bedroht ist oder gar ganz aufgelöst.
Man kann sich dieses Höhere schön greifbar vorstellen, wenn man sich einmal die zweite Bitte des Vaterunsers (“dein Reich komme” oder “zu uns komme dein Reich”) vergegenwärtigt:
Das Reich ist “nicht von dieser Welt” (Joh 18, 36), und doch beständig “inwendig in uns” (Luk 17, 21). Wir haben als Menschen in dieser Spannung tätig dazu beizutragen, daß es komme. Von solcher Art ist in einem geistigen (wieder: nicht religiösen, also an Institution und Konfession gebundenen) Sinne auch das Deutsche Reich.
Wieso nun wiederum das so ist, las ich unlängst in Rudolf Steiners Zeitgeschichtlichen Betrachtungen (eine hundert Jahre alte Folie, die der Leser auf die Ereignisse im Osten, die Ereignisse des jetzigen Krieges, legen möchte und sehen, was sich da verwirklicht). Da schreibt er:
Man muß sich darüber doch klar sein – darauf sei nochmals hingewiesen -, daß die in Mitteleuropa zusammengedrängte Bevölkerung unter einem ganz andern Gesichtswinkel zu beurteilen ist, weil da die Menschen existenziell bedrängt sind, während dasjenige, was ringsherum ist – nur soweit es kriegführende Mächte sind selbstverständlich – für eine lange Zeit noch, wenigstens bis gewisse Zustände eintreten, falls der Krieg noch jahrelang dauert – nur staatlich und politisch beurteilt werden muß. Für Mitteleuropa handelt es sich um das Geistesgut, um die Seelenentwicklung, um das, was in Jahrhunderten produziertes Geistesgut ist. (GA 173a, S. 54)
Man kann an der “existenziellen Bedrängnis” der Deutschen (damals wie heute) wie der Arzt an einem Krankheitssymptom ablesen und abspüren, daß die Not eine seelische Ursache hat. Wer nur “staatlich und politisch” interpretiert, stellt diese gewissermaßen therapeutische Beziehung nicht her.
Gerade die Deutschen haben eine sonderliche, als Volk individuelle und individuative (sich von anderen Völkern unterscheidende) Beziehung zum Reich, in welche die christliche Vorstellung vom “Reich Gottes” von Beginn an hineingespielt hat, und ohne die der “Reichsgedanke” kalt bleibt. Im Reich, das da war und das da kommen soll, bewahren wir einen Wärmestrom auf. Gegen den können die gehirnwaschenden und seelenverdrehenden Roosevelts dieser Welt nur quantitativ etwas ausrichten (wie Scheil meint: das Reich ist “aus dem Bereich der politischen Selbstverständlichkeit verbannt”, die allermeisten Deutschen fühlen und verstehen es nicht mehr), aber nicht qualitativ.
Von dieser Qualität spürt man einiges in Der deutsche Donner. Die titelgebende Metapher (mehr als nur eine “symbolische” Metapher, eher: eine “symptomatologische”) stammt von Heinrich Heine, der 1834 folgende Worte notiert hat:
Der deutsche Donner ist freilich auch ein Deutscher und ist nicht sehr gelenkig und kommt etwas langsam herangerollt; aber kommen wird er, und wenn Ihr es einst krachen hört, wie es noch niemals in der Weltgeschichte gekracht hat, so wißt, der deutsche Donner hat endlich sein Ziel erreicht.
Dieser historisch offengelassene Satz muß weiß Gott nicht auf den II. Weltkrieg als finales Moment bezogen bleiben, auch wenn ihm bislang diese Deutung aus dem Bewußtsein der “politischen Bildung” heraus automatisch zugekommen ist.
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Stefan Scheil: Der deutsche Donner. Deutschlands Kampf mit sich und der Welt 1796–1945 – hier bestellen.
Martin Barkhoff und Caroline Sommerfeld: Volkstod – Volksauferstehung – hier bestellen.
Ein Fremder aus Elea
Was "Reich" bedeutet, kann man sich am besten zu Tisch veranschaulichen, nämlich als jenen Bereich, welcher in Reichweite liegt, und wo man überall hinreichen kann, um sich etwas in den Mund zu stopfen, also politisch übertragen: Das Reich ist jener Bereich, in welchem die Dinge so eingerichtet sind, wie man es will, wobei das "man" das Reich näher bestimmt, sind's die Deutschen, so ist es das Deutsche Reich, ist's der Kaiser, so ist es das Kaiserreich und so weiter.