Spätestens mit den wirtschaftlichen Verwerfungen durch die Corona-Lockdowns kehrt die soziale Frage ins politische Bewußtsein zurück. Allerdings mangelt es gerade auf diesem Feld vielen Vertretern der parteipolitischen Rechten an einem geistigen Fundament und einem positiven Gegenentwurf zu den herrschenden Verhältnissen.
Selbst grundsätzliche Auseinandersetzungen um die soziale Frage bewegen sich meist nur innerhalb des Dualismus von liberalem Kapitalismus und sozialer Marktwirtschaft samt starkem Eingriffsrecht durch den Staat. Es wird diskutiert, ob man nun »mehr Markt« oder »mehr Staat« wagen müsse und somit unentwegt zwischen den beiden Polen der liberalen Moderne gependelt. Deren Postulat von der Unabhängigkeit des Menschen von Gott, Volk, Heimat, Familie und Geschlecht hat jedoch über Jahrtausende gewachsene Gesellschaftsordnungen zerstört und an ihre Stelle ein verheerendes Wechselspiel von Ideologien gesetzt.
Die tiefgreifenden Umwälzungen im Zuge der Französischen Revolution, des Zusammenbruchs des Heiligen Römischen Reiches und der Industrialisierung veranlaßten katholische Gelehrte im 19. Jahrhundert dazu, die geistigen Grundlagen der vormodernen europäischen Gesellschaften wiederzubeleben und neu zu begründen. Dies war die Geburt der katholischen Sozialwissenschaft oder Sozialethik. »Sie gründet auf einem Fundament, das in der Ewigkeit verankert ist. Sie baut eine neue, oder vielleicht besser gesagt, die uralte, aber in Vergessenheit geratene Ordnung auf. Die vom Schöpfer in die Welt hineingelegte Ordnung, […] das objektive vorgegebene Sein ist die Zentralidee der kirchlichen Soziallehre« (Emil Muhler).
Ihre Intention war nicht, Neues zu erfinden, sondern an Bewährtes anzuknüpfen und daran zu erinnern, was Europa begründet und aufgebaut hatte. Daher beriefen sich die Soziallehrer auf die praktische Erfahrung katholischer Gemeinwesen sowie antike und christliche Werke über das menschliche Zusammenleben, vor allem von Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin. Zentral ist überdies das klassische Naturrecht, aus dem der Anspruch folgt, für alle Menschen zu gelten.
Jedoch geht es der katholischen Soziallehre nicht um die Errichtung eines sowieso nicht möglichen irdischen Paradieses, sondern darum, die aufgrund der christlichen Heilsordnung bestehenden Ordnungsstrukturen der menschlichen Gesellschaft darzulegen und anzuwenden.
Die Grundpfeiler, um die sich herum die katholische Soziallehre durch Forschungsinstitutionen, Verbände, Hilfswerke, Autoren und Politiker aufbaut, sind die päpstlichen Sozialenzykliken. Unter diesen stechen Rerum novarum (1891), Immortale Dei (1885) und Libertas praestantissimum donum (1888) von Leo XIII. sowie Quadragesimo anno (1931) von Pius XI. hervor.
Im deutschsprachigen Raum waren Zahl und Einfluß der katholischen Sozialethiker groß. Ihr Wirken fand auch Eingang in die Praxis. So gründete etwa der Priester Adolph Kolping 1850 den Katholischen Gesellenverein und ein Gesellenhospiz zur Versorgung von Handwerkern auf Wanderschaft. Der »Arbeiterbischof« Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler war 1870 Mitbegründer der Zentrumspartei und später der katholischen Arbeitervereine. Der Jurist Karl Freiherr von Vogelsang gab ab 1878 die spätere Monatsschrift für christliche Sozialreform heraus und organisierte einen einflußreichen Studienkreis in Wien. Der Priester Franz Hitze war Abgeordneter des Zentrums, 1890 Mitbegründer des Volksvereins für das katholische Deutschland und ab 1893 in Münster der erste deutsche Professor für Christliche Gesellschaftslehre.
Die Themenfelder und die Arbeitsgebiete dieser und anderer Autoren sind vielfältig, beispielsweise Entproletarisierung, Armenfürsorge, Lohngerechtigkeit, Eigentumsbildung und internationale Zusammenarbeit. Trotz unterschiedlicher Nuancierungen von Inhalt und Begrifflichkeiten beziehen sich die Autoren dabei stets auf die gleichen sozialethischen Prinzipien. Um heute ganzheitliche und naturrechtlich fundierte Antworten auf die neue soziale Frage geben zu können, werden im folgenden drei zentrale Prinzipien einführend erläutert. Alle Prinzipien sind dem Namen nach aus politischen Diskussionen bekannt, allerdings inhaltlich ausgehöhlt und ihrer ursprünglichen Bedeutung beraubt. Um so wichtiger, diese wieder in Erinnerung zu rufen und zu betonen, daß sie einander notwendigerweise ergänzen.
Das Gemeinwohl (bonum commune) ist das Ziel einer jeden Gemeinschaft, nach dem die Glieder dieser Gemeinschaft ihr Handeln ausrichten. Gemeinwohl und Gemeinschaft bedingen einander in ihrer Existenz. Das Ziel muß in sich gut und allen Gliedern gemein sein, also nicht Partikularinteressen dienen. Zudem wird das Ziel von der Natur des Menschen bestimmt. Anders ausgedrückt: Das gemeinschaftliche Sollen ergibt sich aus dem naturhaften Sein.
Darin zeigt sich ein fundamentaler Unterschied zu subjektivistischen oder konstruktivistischen Konzepten sowie die Notwendigkeit einer Autorität, die das Ziel der jeweiligen Gemeinschaft sichert: vom Familienvater über den Unternehmer, Offizier und Priester bis zum Staatsoberhaupt. Die letzte und höchste Autorität jedoch, »die den Sinngehalt sicherstellt, kann nur dort sein, wo dieser Sinngehalt gesetzt wird« (Manfred Hättich), nämlich im Schöpfer.
Konkret ist das Gemeinwohl der »Inbegriff aller Voraussetzungen (Vorbedingungen) und Veranstaltungen (Einrichtungen) allgemeiner oder öffentlicher Art, deren es bedarf, damit die einzelnen als Glieder der Gesellschaft ihre irdische Bestimmung zu erfüllen und durch Eigentätigkeit ihr irdisches Wohlergehen erfolgreich selber zu schaffen vermögen« (Oswald von Nell-Breuning). Das Gemeinwohl ist dabei mehr als nur die Summe der Einzelwohle, nämlich die »Erhöhung des einzelnen durch Kooperation« (Muhler). Es ist kein materieller Wert, sondern ein sozialer Gleichgewichtszustand zwischen den verschiedenartigen Mitgliedern der Gesellschaft.
Auch wenn jede Gemeinschaft ein Gemeinwohl besitzt, ist meist vom Gemeinwohl des Staates die Rede, denn dieser ist die grundlegende politische Ordnung eines Volkes und umrahmt dessen kulturelles Schaffen. Als höchste weltliche Autorität umfaßt der Staat die Gemeinwohle der ihm zugeordneten Gemeinschaften. Er muß die nötigen äußeren Bedingungen schaffen, wie zum Beispiel den Frieden erhalten und das Handeln aller Gemeinschaften auf das Gemeinwohl hinordnen. Das Gemeinwohl des Staates besteht also im »Gesamt der Einrichtungen und Zustände, die es dem Einzelmenschen und den kleineren Lebenskreisen ermöglichen, in geordnetem Zusammenwirken ihrer gottgewollten Sinnerfüllung (der Entfaltung der Persönlichkeit und dem Aufbau der Kulturbereiche) zuzustreben« (Joseph Höffner).
Diese Formulierung deutet ein weiteres Prinzip an: die Subsidiarität. Dieses Prinzip entspringt der Kardinaltugend der Gerechtigkeit (suum cuique) und besagt, daß jede Gemeinschaft und die darin organisierten Personen Aufgaben besitzen, die ihnen von Natur aus eigen sind und das Recht begründen, diese Aufgaben eigenverantwortlich zu erfüllen. Die in der Hierarchie des Sozialgefüges höherstehende Institution oder Person darf nur in dem Falle und Maße eingreifen, in dem diese eigene Aufgabe nicht erfüllt werden kann. Die höhere soll dabei der niedrigeren Instanz helfen, ihre von Natur aus zukommenden Aufgaben selbst erfüllen zu können.
Ein Beispiel ist das Verhältnis von Staat und Familie. Der Staat muß der Familie ermöglichen, eigenständig zu leben, etwa in finanzieller Hinsicht, aber vor allem in der Erziehung der Kinder. Eingreifen darf der Staat nur in Form ersatzweiser Hilfestellung. Zwischen den Ebenen besteht dabei ein Abhängigkeitsverhältnis, das den organischen Aufbau von Gesellschaft und Staat ermöglicht. Damit diese wechselseitige Beziehung nicht verletzt wird, müssen die Grenzen der jeweiligen Zuständigkeit berücksichtigt werden.
Hier kommt das dritte Prinzip, die Solidarität, zum Vorschein. Sie beschreibt das gemeinsame Hinwirken von Personen und Gemeinschaften auf das Gemeinwohl. Dieser Vorgang wird durch eine Autorität und deren Gesetz geregelt und gesichert, wobei dies nicht notwendigerweise der Staat sein muß, sondern auch eine kleinere Gemeinschaftsform sein kann.
Das Besondere am Solidaritätsprinzip ist die gleichzeitige Berücksichtigung und Betonung der Personal- und Sozialnatur des Menschen. Auch wenn die Gemeinschaft mehr als nur die Summe ihrer Mitglieder ist, bilden Personen die Substanz der Gemeinschaft und müssen in ihrer Eigenständigkeit geschützt werden. Zugleich kann das Einzelwohl nur in Gemeinschaft verwirklicht werden. Individuen und Gemeinschaften bilden ein natürliches Ganzes und stehen in einer ontologischen Beziehung zueinander, die ihnen wechselseitige Verpflichtungen auferlegt.
Diese Wechselbeziehung hat zur Folge, daß, wenn einer der beiden Pole überbetont wird, sowohl Einzelpersonen als auch Gemeinschaft darunter leiden und im schlimmsten Fall zerstört werden. An die Stelle der solidarischen und subsidiär gegliederten Gemeinschaft tritt dann eine diffuse Masse isolierter und unterdrückter Individuen. »Damit sind sowohl der Individualismus, der die Sozialnatur des Menschen leugnet und in der Gesellschaft nur einen Zweckverband zum mechanistischen Ausgleich der Einzelinteressen sieht, als auch der Kollektivismus, der den Menschen seiner Personwürde beraubt und zum bloßen Objekt gesellschaftlicher, vor allem wirtschaftlicher Prozesse erniedrigt, als gesellschaftliche Ordnungsprinzipien abgelehnt.« (Höffner)
Auf Basis von Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität zieht sich eine tiefgreifende Kritik an liberalem Kapitalismus und marxistischem Sozialismus durch die Werke der katholischen Soziallehre. Diese Kritik ergibt sich aus der scharfen Verurteilung ihres »gemeinsamen Vaters« (Muhler), dem Irrtum des Liberalismus, der aufgrund seines grenzenlosen Freiheitsbegriffs die Trennung der Wirtschaft von Naturrecht und Religion fordert.
Die Wirtschaft ist jedoch kein »Mechanismus, der nach ehernen Naturgesetzen abläuft, sondern ein zweckbezogenes Ordnungsgefüge«, somit »braucht es eine höhere Lenkung, die zwar die Wirtschaft in ihrer eigenen Gesetzmäßigkeit beläßt, sie aber doch zugleich ihrer inneren Bestimmung zuführt« (Fellermeier). Dementsprechend wenden sich die Sozialethiker einerseits gegen die Anonymität und die Dominanz des Kapitals gegenüber der Arbeit, die Ausbeutung des Arbeiters, die Spaltung der Gesellschaft in Klassen und die Profitgier. Andererseits gegen Zentralismus, die Zerstörung des Privateigentums, die Unterdrückung von Eigenverantwortung und Privatinitiative und die völlige Abhängigkeit des einzelnen und kleiner Gemeinschaften vom Staat.
Als Ausweg stellen die katholischen Sozialwissenschaftler die berufsständische Ordnung vor, die als Gliederung der Gesellschaft nach Berufszugehörigkeit und in Form von Leistungsgemeinschaften beschrieben wird. Ein Berufsstand ist eine selbständige Körperschaft öffentlichen Rechts, bestehend aus verschiedenen Berufen, die gemeinsam an der gleichen Leistung arbeiten. Darunter können materielle Produkte, Dienstleistungen oder geistig-kulturelle Güter fallen.
Die Organisation in Berufsständen soll die Spaltung von Arbeit und Kapital in Klassen verhindern, die »Kompetenzen des intermediären gesellschaftlichen Bereichs zwischen Individuum und Staat« stärken und »den Staat zugunsten seiner originären Funktionen als Rechtsgemeinschaft und seiner Gemeinwohlaufgabe« (Alois Baumgartner) entlasten.
Die Aufgaben der Berufsstände können daher Richtlinien für berufliche Aus- und Weiterbildung, Vergabe der Berufszulassung, Stellenvermittlung, Regulierung von Löhnen und Preisen sowie soziale Absicherung der Mitglieder in Fällen von Arbeitslosigkeit, Krankheit oder Berufsunfähigkeit sein. Durch die Übertragung dieser Aufgaben auf die Berufsstände werde der Vorrang des Politischen vor dem Wirtschaftlichen sichergestellt, Staatsausgaben würden gesenkt, Bürokratie werde abgebaut und der soziale Aspekt aufgrund persönlicher und beruflicher Nähe erhöht. Der Staat ist dabei die einende Klammer der einzelnen Berufsstände.
Weder aber ist der Staat ein eigener Stand, noch sind die Berufsstände staatliche Organe. Das heißt, die Eigenständigkeit der Berufsstände gegenüber dem Staat bleibt gewahrt, ihr Handeln wird jedoch unter Berücksichtigung von Subsidiarität und Solidarität auf das Gemeinwohl hin ausgerichtet. Die Wahrung einer naturgemäßen Ordnung ist insofern der Zweck berufsständischer Wirtschaftspolitik.
In den 1950er Jahren wurde das Konzept der berufsständischen Ordnung allerdings zunehmend zugunsten der sozialen Marktwirtschaft aufgegeben. Auch die Übernahme liberaler und damit von der Kirche verurteilter Ideen im Zuge des Zweiten Vatikanischen Konzils machte vor den Soziallehrern nicht Halt: Viele gaben das Naturrecht als philosophische Grundlage auf. Eine Anpassung an den Zeitgeist setzte sein, sie mündete in totale Beliebigkeit und führte dazu, daß man die katholische Soziallehre heute fälschlicherweise mit den globalistischen Ideen von Papst Franziskus assoziiert.
Modelle wie die berufsständische Ordnung wurden dagegen nicht weiterentwickelt. Eine Debatte findet derzeit nicht statt. Auch nicht im Rahmen der wenigen katholischen Denkfabriken, die sich weiterhin auf das Naturrecht beziehen, wie zum Beispiel das Bonner Institut für Gesellschaftswissenschaften Walberberg oder die Wiener Johannes-Messner-Gesellschaft. Denn diese können sich bisher nicht von ihrer christdemokratischen Prägung lösen und bleiben daher einem nicht zukunftsfähigen Strukturkonservatismus verhaftet.
Eine größere Offenheit diesbezüglich gibt es etwa in Frankreich um die Organisation Civitas oder in den USA, wo über die Möglichkeit eines »katholischen Integralismus« diskutiert wird. Dennoch lohnt sich auch hierzulande der Versuch, die unverfälschte katholische Soziallehre erneut aufzugreifen. Die berufsständische Ordnung ist ein positiver, ganzheitlicher Gegenentwurf zu modernen Gesellschaftstheorien. Er beruht auf dem Naturrecht, läßt den Dualismus von Kapitalismus und Sozialismus hinter sich und befördert das Zusammenwirken der gesellschaftlichen Interessen auf das Gemeinwohl hin.
Die katholische Soziallehre bietet die Möglichkeit, der heutigen gesellschaftlichen Spaltung und Vereinsamung, der Ausgrenzung der Somewheres (David Goodhart), der Globalisierung und dem Outsourcing von Arbeit und Kapital sowie dem Niedergang ländlicher Räume entgegenzuwirken. Zudem könnten in der berufsständischen Ordnung aktuelle Ansätze zu einer fruchtbaren Synthese zusammenfinden: ein starker, aber auf seine Kernaufgaben beschränkter Ordnungsstaat (Dimitrios Kisoudis), eine durch lokale Gemeinschaften getragene »nachbarschaftliche Marktwirtschaft« (Felix Menzel) und eine auf das Gemeinwohl ausgerichtete Wirtschaftspolitik im »Solidarischen Patriotismus« (Benedikt Kaiser).
Zugleich muß diesen gegenüber betont werden, daß Parteiprogramme, Staatshilfen oder Unternehmensinitiativen die soziale Frage nicht werden lösen können. Ebenso bedarf es des organischen Aufbaus lokaler und nachhaltiger Strukturen aus Kirche, Familien, Vereinen und Genossenschaften, wofür teilweise auch an zeitgenössische Konzepte wie Bioregionalismus, Solidarischer Landwirtschaft oder Transition Towns angeknüpft werden kann.
Diese Strukturen können sich ideell, strukturell und materiell in der Umsetzung der katholischen Soziallehre gegenseitig unterstützen, ohne dabei den disruptiven Mechanismen globalisierter Wirtschaft zum Opfer zu fallen oder der Versuchung zu erliegen, sich den Staat zur Beute zu machen. Die räumliche Nähe begünstigt die Wiederherstellung eines Gemeinsinns als grundlegende Voraussetzung und läßt die Soziallehre in ihrer konkreten Praxis erfahrbar werden. Darüber hinaus steht eine solche Entwicklung in enger Wechselbeziehung mit einer sittlichen Erneuerung, die zur Verwirklichung der anspruchsvollen Ideale Gemeinwohl, Subsidiarität und Solidarität mehr denn je notwendig ist.
In diesem Sinne forderte Papst Pius X. in Il fermo proposito (1905) die katholischen Laienverbände zur »praktische[n] Lösung der sozialen Frage gemäß den christlichen Prinzipien« auf und mahnte an, sie sollten »von echter Frömmigkeit, mannhafter Tugend, reinen Sitten und so untadeligem Lebenswandel [sein], daß sie allen ein wirkungsvolles Beispiel geben können.«