Katholische Soziallehre

von Moritz Scholtysik

PDF der Druckfassung aus Sezession 103/ August 2021

Spä­tes­tens mit den wirt­schaft­li­chen Ver­wer­fun­gen durch die Coro­na-Lock­downs kehrt die sozia­le Fra­ge ins poli­ti­sche Bewußt­sein zurück. Aller­dings man­gelt es gera­de auf die­sem Feld vie­len Ver­tre­tern der par­tei­po­li­ti­schen Rech­ten an einem geis­ti­gen Fun­da­ment und einem posi­ti­ven Gegen­ent­wurf zu den herr­schen­den Verhältnissen.

Selbst grund­sätz­li­che Aus­ein­an­der­set­zun­gen um die sozia­le Fra­ge bewe­gen sich meist nur inner­halb des Dua­lis­mus von libe­ra­lem Kapi­ta­lis­mus und sozia­ler Markt­wirt­schaft samt star­kem Ein­griffs­recht durch den Staat. Es wird dis­ku­tiert, ob man nun »mehr Markt« oder »mehr Staat« wagen müs­se und somit unent­wegt zwi­schen den bei­den Polen der libe­ra­len Moder­ne gepen­delt. Deren Pos­tu­lat von der Unab­hän­gig­keit des Men­schen von Gott, Volk, Hei­mat, Fami­lie und Geschlecht hat jedoch über Jahr­tau­sen­de gewach­se­ne Gesell­schafts­ord­nun­gen zer­stört und an ihre Stel­le ein ver­hee­ren­des Wech­sel­spiel von ­Ideo­lo­gien gesetzt.

Die tief­grei­fen­den Umwäl­zun­gen im Zuge der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on, des Zusam­men­bruchs des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches und der Indus­tria­li­sie­rung ver­an­laß­ten katho­li­sche Gelehr­te im 19. Jahr­hun­dert dazu, die geis­ti­gen Grund­la­gen der vor­mo­der­nen euro­päi­schen Gesell­schaf­ten wie­der­zu­be­le­ben und neu zu begrün­den. Dies war die Geburt der katho­li­schen Sozi­al­wis­sen­schaft oder Sozi­al­ethik. »Sie grün­det auf einem Fun­da­ment, das in der Ewig­keit ver­an­kert ist. Sie baut eine neue, oder viel­leicht bes­ser gesagt, die uralte, aber in Ver­ges­sen­heit gera­te­ne Ord­nung auf. Die vom Schöp­fer in die Welt hin­ein­ge­leg­te Ord­nung, […] das objek­ti­ve vor­ge­ge­be­ne Sein ist die Zen­tral­idee der kirch­li­chen Sozi­al­leh­re« (Emil Muhler).

Ihre Inten­ti­on war nicht, Neu­es zu erfin­den, son­dern an Bewähr­tes anzu­knüp­fen und dar­an zu erin­nern, was Euro­pa begrün­det und auf­ge­baut hat­te. Daher berie­fen sich die Sozi­al­leh­rer auf die prak­ti­sche Erfah­rung katho­li­scher Gemein­we­sen sowie anti­ke und christ­li­che Wer­ke über das mensch­li­che Zusam­men­le­ben, vor allem von Aris­to­te­les, Augus­ti­nus und Tho­mas von Aquin. Zen­tral ist über­dies das klas­si­sche Natur­recht, aus dem der Anspruch folgt, für alle Men­schen zu gelten.

Jedoch geht es der katho­li­schen Sozi­al­leh­re nicht um die Errich­tung eines sowie­so nicht mög­li­chen irdi­schen Para­die­ses, son­dern dar­um, die auf­grund der christ­li­chen Heils­ord­nung bestehen­den Ord­nungs­struk­tu­ren der mensch­li­chen Gesell­schaft dar­zu­le­gen und anzuwenden.

Die Grund­pfei­ler, um die sich her­um die katho­li­sche Sozi­al­leh­re durch For­schungs­in­sti­tu­tio­nen, Ver­bän­de, Hilfs­wer­ke, Autoren und Poli­ti­ker auf­baut, sind die päpst­li­chen Sozi­al­enzy­kli­ken. Unter die­sen ste­chen Rer­um novarum (1891), Immor­ta­le Dei (1885) und Liber­tas ­praes­tan­tis­si­mum donum (1888) von Leo XIII. sowie Quad­ra­ge­si­mo anno (1931) von Pius XI. hervor.

Im deutsch­spra­chi­gen Raum waren Zahl und Ein­fluß der katho­li­schen Sozial­ethiker groß. Ihr Wir­ken fand auch Ein­gang in die Pra­xis. So grün­de­te etwa der Pries­ter Adolph Kol­ping 1850 den Katho­li­schen Gesel­len­ver­ein und ein Gesel­len­hos­piz zur Ver­sor­gung von Hand­wer­kern auf Wan­der­schaft. Der »Arbei­ter­bi­schof« Wil­helm Emma­nu­el Frei­herr von Ket­te­ler war 1870 Mit­be­grün­der der Zen­trums­par­tei und spä­ter der katho­li­schen Arbei­ter­ver­ei­ne. Der Jurist Karl Frei­herr von Vogel­sang gab ab 1878 die spä­te­re Monats­schrift für christ­li­che Sozi­al­re­form her­aus und orga­ni­sier­te einen ein­fluß­rei­chen Stu­di­en­kreis in Wien. Der Pries­ter Franz Hit­ze war Abge­ord­ne­ter des Zen­trums, 1890 Mit­be­grün­der des Volks­ver­eins für das katho­li­sche Deutsch­land und ab 1893 in Müns­ter der ers­te deut­sche Pro­fes­sor für Christ­li­che Gesellschaftslehre.

Die The­men­fel­der und die Arbeits­ge­bie­te die­ser und ande­rer Autoren sind viel­fäl­tig, bei­spiels­wei­se Ent­pro­le­ta­ri­sie­rung, Armen­für­sor­ge, Lohn­ge­rech­tig­keit, Eigen­tums­bil­dung und inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit. Trotz unter­schied­li­cher Nuan­cie­run­gen von Inhalt und Begriff­lich­kei­ten bezie­hen sich die Autoren dabei stets auf die glei­chen sozi­al­ethi­schen Prin­zi­pi­en. Um heu­te ganz­heit­li­che und natur­recht­lich fun­dier­te Ant­wor­ten auf die neue sozia­le Fra­ge geben zu kön­nen, wer­den im fol­gen­den drei zen­tra­le Prin­zi­pi­en ein­füh­rend erläu­tert. Alle Prin­zi­pi­en sind dem Namen nach aus poli­ti­schen Dis­kus­sio­nen bekannt, aller­dings inhalt­lich aus­ge­höhlt und ihrer ursprüng­li­chen Bedeu­tung beraubt. Um so wich­ti­ger, die­se wie­der in Erin­ne­rung zu rufen und zu beto­nen, daß sie ein­an­der not­wen­di­ger­wei­se ergänzen.

Das Gemein­wohl (bonum com­mu­ne) ist das Ziel einer jeden Gemein­schaft, nach dem die Glie­der die­ser Gemein­schaft ihr Han­deln aus­rich­ten. Gemein­wohl und Gemein­schaft bedin­gen ein­an­der in ihrer Exis­tenz. Das Ziel muß in sich gut und allen Glie­dern gemein sein, also nicht Partikular­interessen die­nen. Zudem wird das Ziel von der Natur des Men­schen bestimmt. Anders aus­ge­drückt: Das gemein­schaft­li­che Sol­len ergibt sich aus dem natur­haf­ten Sein.

Dar­in zeigt sich ein fun­da­men­ta­ler Unter­schied zu sub­jek­ti­vis­ti­schen oder kon­struk­ti­vis­ti­schen Kon­zep­ten sowie die Not­wen­dig­keit einer Auto­ri­tät, die das Ziel der jewei­li­gen Gemein­schaft sichert: vom Fami­li­en­va­ter über den Unter­neh­mer, Offi­zier und Pries­ter bis zum Staats­ober­haupt. Die letz­te und höchs­te Auto­ri­tät jedoch, »die den Sinn­ge­halt sicher­stellt, kann nur dort sein, wo die­ser Sinn­ge­halt gesetzt wird« (Man­fred Hät­tich), näm­lich im Schöpfer.

Kon­kret ist das Gemein­wohl der »Inbe­griff aller Vor­aus­set­zun­gen (Vor­be­din­gun­gen) und Ver­an­stal­tun­gen (Ein­rich­tun­gen) all­ge­mei­ner oder öffent­li­cher Art, deren es bedarf, damit die ein­zel­nen als Glie­der der Gesell­schaft ihre irdi­sche Bestim­mung zu erfül­len und durch Eigen­tä­tig­keit ihr irdi­sches Wohl­erge­hen erfolg­reich sel­ber zu schaf­fen ver­mö­gen« (Oswald von Nell-Breu­ning). Das Gemein­wohl ist dabei mehr als nur die Sum­me der Ein­zel­woh­le, näm­lich die »Erhö­hung des ein­zel­nen durch Koope­ra­ti­on« (Muh­ler). Es ist kein mate­ri­el­ler Wert, son­dern ein sozia­ler Gleich­ge­wichts­zu­stand zwi­schen den ver­schie­den­ar­ti­gen Mit­glie­dern der Gesellschaft.

Auch wenn jede Gemein­schaft ein Gemein­wohl besitzt, ist meist vom Gemein­wohl des Staa­tes die Rede, denn die­ser ist die grund­le­gen­de poli­ti­sche Ord­nung eines Vol­kes und umrahmt des­sen kul­tu­rel­les Schaf­fen. Als höchs­te welt­li­che Auto­ri­tät umfaßt der Staat die Gemein­woh­le der ihm zuge­ord­ne­ten Gemein­schaf­ten. Er muß die nöti­gen äuße­ren ­Bedin­gun­gen schaf­fen, wie zum Bei­spiel den Frie­den erhal­ten und das Han­deln aller Gemein­schaf­ten auf das Gemein­wohl hin­ord­nen. Das Gemein­wohl des ­Staa­tes besteht also im »Gesamt der Ein­rich­tun­gen und Zustän­de, die es dem Ein­zel­men­schen und den klei­ne­ren Lebens­krei­sen ermög­li­chen, in geord­ne­tem Zusam­men­wir­ken ihrer gott­ge­woll­ten Sinn­erfül­lung (der Ent­fal­tung der Per­sön­lich­keit und dem Auf­bau der Kul­tur­be­rei­che) zuzu­stre­ben« (­Joseph Höffner).

Die­se For­mu­lie­rung deu­tet ein wei­te­res Prin­zip an: die Sub­si­dia­ri­tät. Die­ses Prin­zip ent­springt der Kar­di­nal­tu­gend der Gerech­tig­keit (suum ­cui­que) und besagt, daß jede Gemein­schaft und die dar­in orga­ni­sier­ten Per­so­nen Auf­ga­ben besit­zen, die ihnen von Natur aus eigen sind und das Recht begrün­den, die­se Auf­ga­ben eigen­ver­ant­wort­lich zu erfül­len. Die in der Hier­ar­chie des Sozi­al­ge­fü­ges höher­ste­hen­de Insti­tu­ti­on oder Per­son darf nur in dem Fal­le und Maße ein­grei­fen, in dem die­se eige­ne Auf­ga­be nicht erfüllt wer­den kann. Die höhe­re soll dabei der nied­ri­ge­ren Instanz hel­fen, ihre von Natur aus zukom­men­den Auf­ga­ben selbst erfül­len zu können.

Ein Bei­spiel ist das Ver­hält­nis von Staat und Fami­lie. Der Staat muß der Fami­lie ermög­li­chen, eigen­stän­dig zu leben, etwa in finan­zi­el­ler Hin­sicht, aber vor allem in der Erzie­hung der Kin­der. Ein­grei­fen darf der Staat nur in Form ersatz­wei­ser Hil­fe­stel­lung. Zwi­schen den Ebe­nen besteht dabei ein Abhän­gig­keits­ver­hält­nis, das den orga­ni­schen Auf­bau von Gesell­schaft und Staat ermög­licht. Damit die­se wech­sel­sei­ti­ge Bezie­hung nicht ver­letzt wird, müs­sen die Gren­zen der jewei­li­gen Zustän­dig­keit berück­sich­tigt werden.

Hier kommt das drit­te Prin­zip, die Soli­da­ri­tät, zum Vor­schein. Sie beschreibt das gemein­sa­me Hin­wir­ken von Per­so­nen und Gemein­schaf­ten auf das Gemein­wohl. Die­ser Vor­gang wird durch eine Auto­ri­tät und deren Gesetz gere­gelt und gesi­chert, wobei dies nicht not­wen­di­ger­wei­se der Staat sein muß, son­dern auch eine klei­ne­re Gemein­schafts­form sein kann.

Das Beson­de­re am Soli­da­ri­täts­prin­zip ist die gleich­zei­ti­ge Berück­sich­ti­gung und Beto­nung der Per­so­nal- und Sozi­al­na­tur des Men­schen. Auch wenn die Gemein­schaft mehr als nur die Sum­me ihrer Mit­glie­der ist, bil­den Per­so­nen die Sub­stanz der Gemein­schaft und müs­sen in ihrer Eigen­stän­dig­keit geschützt wer­den. Zugleich kann das Ein­zel­wohl nur in Gemein­schaft ver­wirk­licht wer­den. Indi­vi­du­en und Gemein­schaf­ten bil­den ein natür­li­ches Gan­zes und ste­hen in einer onto­lo­gi­schen Bezie­hung zuein­an­der, die ihnen wech­sel­sei­ti­ge Ver­pflich­tun­gen auferlegt.

Die­se Wech­sel­be­zie­hung hat zur Fol­ge, daß, wenn einer der bei­den Pole über­be­tont wird, sowohl Ein­zel­per­so­nen als auch Gemein­schaft dar­un­ter lei­den und im schlimms­ten Fall zer­stört wer­den. An die Stel­le der soli­da­ri­schen und sub­si­di­är geglie­der­ten Gemein­schaft tritt dann eine dif­fu­se Mas­se iso­lier­ter und unter­drück­ter Indi­vi­du­en. »Damit sind sowohl der Indi­vi­dua­lis­mus, der die Sozi­al­na­tur des Men­schen leug­net und in der Gesell­schaft nur einen Zweck­ver­band zum mecha­nis­ti­schen Aus­gleich der Ein­zel­in­ter­es­sen sieht, als auch der Kol­lek­ti­vis­mus, der den Men­schen sei­ner Per­son­wür­de beraubt und zum blo­ßen Objekt gesell­schaft­li­cher, vor allem wirt­schaft­li­cher Pro­zes­se ernied­rigt, als gesell­schaft­li­che ­Ordnungs­prinzipien abge­lehnt.« (Höff­ner)

Auf Basis von Gemein­wohl, Sub­si­dia­ri­tät und Soli­da­ri­tät zieht sich eine tief­grei­fen­de Kri­tik an libe­ra­lem Kapi­ta­lis­mus und mar­xis­ti­schem Sozia­lis­mus durch die Wer­ke der katho­li­schen Sozi­al­leh­re. Die­se Kri­tik ergibt sich aus der schar­fen Ver­ur­tei­lung ihres »gemein­sa­men Vaters« (Muh­ler), dem Irr­tum des Libe­ra­lis­mus, der auf­grund sei­nes gren­zen­lo­sen Frei­heits­be­griffs die Tren­nung der Wirt­schaft von Natur­recht und Reli­gi­on fordert.

Die Wirt­schaft ist jedoch kein »Mecha­nis­mus, der nach eher­nen Natur­ge­set­zen abläuft, son­dern ein zweck­be­zo­ge­nes Ord­nungs­ge­fü­ge«, somit »braucht es eine höhe­re Len­kung, die zwar die Wirt­schaft in ihrer eige­nen Gesetz­mä­ßig­keit beläßt, sie aber doch zugleich ihrer inne­ren Bestim­mung zuführt« (Fel­ler­mei­er). Dem­entspre­chend wen­den sich die Sozi­al­ethi­ker einer­seits gegen die Anony­mi­tät und die Domi­nanz des Kapi­tals gegen­über der Arbeit, die Aus­beu­tung des Arbei­ters, die Spal­tung der Gesell­schaft in Klas­sen und die Pro­fit­gier. Ande­rer­seits gegen Zen­tra­lis­mus, die Zer­stö­rung des Pri­vat­ei­gen­tums, die Unter­drü­ckung von Eigen­ver­ant­wor­tung und Pri­vat­in­itia­ti­ve und die völ­li­ge Abhän­gig­keit des ein­zel­nen und klei­ner Gemein­schaf­ten vom Staat.

Als Aus­weg stel­len die katho­li­schen Sozi­al­wis­sen­schaft­ler die berufs­stän­di­sche Ord­nung vor, die als Glie­de­rung der Gesell­schaft nach Berufs­zu­ge­hö­rig­keit und in Form von Leis­tungs­ge­mein­schaf­ten beschrie­ben wird. Ein Berufs­stand ist eine selb­stän­di­ge Kör­per­schaft öffent­li­chen Rechts, bestehend aus ver­schie­de­nen Beru­fen, die gemein­sam an der glei­chen Leis­tung arbei­ten. Dar­un­ter kön­nen mate­ri­el­le Pro­duk­te, Dienst­leis­tun­gen oder geis­tig-kul­tu­rel­le Güter fallen.

Die Orga­ni­sa­ti­on in Berufs­stän­den soll die Spal­tung von Arbeit und Kapi­tal in Klas­sen ver­hin­dern, die »Kom­pe­ten­zen des inter­me­diä­ren gesell­schaft­li­chen Bereichs zwi­schen Indi­vi­du­um und Staat« stär­ken und »den Staat zuguns­ten sei­ner ori­gi­nä­ren Funk­tio­nen als Rechts­ge­mein­schaft und sei­ner Gemein­wohl­auf­ga­be« (Alo­is ­Baum­gart­ner) entlasten.

Die Auf­ga­ben der Berufs­stän­de kön­nen daher Richt­li­ni­en für beruf­li­che Aus- und Wei­ter­bil­dung, Ver­ga­be der Berufs­zu­las­sung, Stel­len­ver­mitt­lung, Regu­lie­rung von Löh­nen und Prei­sen sowie sozia­le Absi­che­rung der Mit­glie­der in Fäl­len von Arbeits­lo­sig­keit, Krank­heit oder Berufs­un­fä­hig­keit sein. Durch die Über­tra­gung die­ser Auf­ga­ben auf die Berufs­stän­de wer­de der Vor­rang des Poli­ti­schen vor dem Wirt­schaft­li­chen sicher­gestellt, Staats­aus­ga­ben wür­den gesenkt, Büro­kra­tie wer­de abge­baut und der sozia­le Aspekt auf­grund per­sön­li­cher und beruf­li­cher Nähe erhöht. Der Staat ist dabei die einen­de Klam­mer der ein­zel­nen Berufsstände.

Weder aber ist der Staat ein eige­ner Stand, noch sind die Berufs­stän­de staat­li­che Orga­ne. Das heißt, die Eigen­stän­dig­keit der Berufs­stän­de gegen­über dem Staat bleibt gewahrt, ihr Han­deln wird jedoch unter Berück­sich­ti­gung von Sub­si­dia­ri­tät und Soli­da­ri­tät auf das Gemein­wohl hin aus­ge­rich­tet. Die Wah­rung einer natur­ge­mä­ßen Ord­nung ist inso­fern der Zweck berufs­stän­di­scher Wirtschaftspolitik.

In den 1950er Jah­ren wur­de das Kon­zept der berufs­stän­di­schen Ord­nung aller­dings zuneh­mend zuguns­ten der sozia­len Markt­wirt­schaft auf­ge­ge­ben. Auch die Über­nah­me libe­ra­ler und damit von der Kir­che ver­ur­teil­ter Ideen im Zuge des Zwei­ten Vati­ka­ni­schen Kon­zils mach­te vor den Sozi­al­leh­rern nicht Halt: Vie­le gaben das Natur­recht als phi­lo­so­phi­sche Grund­la­ge auf. Eine Anpas­sung an den Zeit­geist setz­te sein, sie mün­de­te in tota­le Belie­big­keit und führ­te dazu, daß man die katho­li­sche Sozial­lehre heu­te fälsch­li­cher­wei­se mit den glo­ba­lis­ti­schen Ideen von Papst Fran­zis­kus assoziiert.

Model­le wie die berufs­stän­di­sche Ord­nung wur­den dage­gen nicht wei­ter­ent­wi­ckelt. Eine Debat­te fin­det der­zeit nicht statt. Auch nicht im Rah­men der weni­gen katho­li­schen Denk­fa­bri­ken, die sich wei­ter­hin auf das Natur­recht bezie­hen, wie zum Bei­spiel das Bon­ner Insti­tut für Gesell­schafts­wis­sen­schaf­ten Wal­ber­berg oder die Wie­ner Johan­nes-Mess­ner-Gesell­schaft. Denn die­se kön­nen sich bis­her nicht von ihrer christ­de­mo­kra­ti­schen Prä­gung lösen und blei­ben daher einem nicht zukunfts­fä­hi­gen Struk­tur­kon­ser­va­tis­mus verhaftet.

Eine grö­ße­re Offen­heit dies­be­züg­lich gibt es etwa in Frank­reich um die Orga­ni­sa­ti­on Civi­tas oder in den USA, wo über die Mög­lich­keit eines »katho­li­schen Inte­gra­lis­mus« dis­ku­tiert wird. Den­noch lohnt sich auch hier­zu­lan­de der Ver­such, die unver­fälsch­te katho­li­sche Sozi­al­leh­re erneut auf­zu­grei­fen. Die berufs­stän­di­sche Ord­nung ist ein posi­ti­ver, ganz­heit­li­cher Gegen­ent­wurf zu moder­nen Gesellschafts­theorien. Er beruht auf dem Natur­recht, läßt den Dua­lis­mus von Kapi­ta­lis­mus und Sozia­lis­mus hin­ter sich und beför­dert das Zusam­men­wir­ken der gesell­schaft­li­chen Inter­es­sen auf das Gemein­wohl hin.

Die katho­li­sche Sozi­al­leh­re bie­tet die Mög­lich­keit, der heu­ti­gen gesell­schaft­li­chen Spal­tung und Ver­ein­sa­mung, der Aus­gren­zung der Some­whe­res (David Good­hart), der Glo­ba­li­sie­rung und dem Out­sour­cing von Arbeit und Kapi­tal sowie dem Nie­der­gang länd­li­cher Räu­me ent­ge­gen­zu­wir­ken. Zudem könn­ten in der berufs­stän­di­schen Ord­nung aktu­el­le Ansät­ze zu einer frucht­ba­ren Syn­the­se zusam­men­fin­den: ein star­ker, aber auf sei­ne Kern­auf­ga­ben beschränk­ter Ord­nungs­staat (Dimi­tri­os Kis­ou­dis), eine durch loka­le Gemein­schaf­ten getra­ge­ne »nach­bar­schaft­li­che Markt­wirt­schaft« (Felix Men­zel) und eine auf das Gemein­wohl aus­ge­rich­te­te Wirt­schafts­po­li­tik im »Soli­da­ri­schen Patrio­tis­mus« (Bene­dikt Kaiser).

Zugleich muß die­sen gegen­über betont wer­den, daß Par­tei­pro­gram­me, Staats­hil­fen oder Unter­neh­mens­in­itia­ti­ven die sozia­le Fra­ge nicht wer­den lösen kön­nen. Eben­so bedarf es des orga­ni­schen Auf­baus loka­ler und nach­hal­ti­ger Struk­tu­ren aus Kir­che, Fami­li­en, Ver­ei­nen und Genos­sen­schaf­ten, wofür teil­wei­se auch an zeit­ge­nös­si­sche Kon­zep­te wie Bio­re­gio­na­lis­mus, Soli­da­ri­scher Land­wirt­schaft oder ­Tran­si­ti­on Towns ange­knüpft wer­den kann.

Die­se Struk­tu­ren kön­nen sich ideell, struk­tu­rell und mate­ri­ell in der Umset­zung der katho­li­schen Sozi­al­leh­re gegen­sei­tig unter­stüt­zen, ohne dabei den dis­rup­ti­ven Mecha­nis­men glo­ba­li­sier­ter Wirt­schaft zum Opfer zu fal­len oder der Ver­su­chung zu erlie­gen, sich den Staat zur Beu­te zu machen. Die räum­li­che Nähe begüns­tigt die Wie­der­her­stel­lung eines Gemein­sinns als grund­le­gen­de Vor­aus­set­zung und läßt die Sozi­al­leh­re in ihrer kon­kre­ten Pra­xis erfahr­bar wer­den. Dar­über hin­aus steht eine sol­che Ent­wick­lung in enger Wech­sel­be­zie­hung mit einer sitt­li­chen Erneue­rung, die zur Ver­wirk­li­chung der anspruchs­vol­len Idea­le Gemein­wohl, Sub­si­dia­ri­tät und Soli­da­ri­tät mehr denn je not­wen­dig ist.

In die­sem Sin­ne for­der­te Papst Pius X. in Il fer­mo pro­po­si­to (1905) die katho­li­schen Lai­en­ver­bän­de zur »praktische[n] Lösung der sozia­len Fra­ge gemäß den christ­li­chen Prin­zi­pi­en« auf und mahn­te an, sie soll­ten »von ech­ter Fröm­mig­keit, mann­haf­ter Tugend, rei­nen Sit­ten und so unta­de­li­gem Lebens­wan­del [sein], daß sie allen ein wir­kungs­vol­les Bei­spiel geben können.«

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