Am 3. Juni 2020 lancierte das World Economic Forum (WEF) ein anderthalbstündiges Video, titelnd »The Great Reset«. In den ersten Minuten wird die Richtung unmißverständlich klar: »Our world has changed«, heißt es, unsere Welt habe sich gewandelt, als wäre dieser »Wandel« der Lauf der Natur.
Auffällig ist, daß bestimmte beklemmende Elemente (Schutzmasken, Videokonferenzen, Dekontamination, zwei durch eine Glasscheibe getrennte Alte etc.) bereits oktroyierte Maßnahmen darstellen, die aber durch schnelle Schnitte mit Katastrophenbildern vermischt werden. Der Satz »our fragilities exposed« (»unsere Zerbrechlichkeiten haben sich gezeigt«) wird eingeblendet. Die »fragility« changiert in der Bildsprache dieses Propagandafilms zwischen Naturkatastrophe und menschengemachtem Leiden.
Fragility und vulnerability (Verwundbarkeit) sind in den letzten Jahren aus der Erdbebenwissenschaft, in welcher sie tektonische Schwachstellen und katastrophenversorgungstechnische Diagnosekriterien bezeichnen, in inzwischen unzählige sogenannte humanwissenschaftliche Diskurse eingewandert. Unter Berufung auf die postmodernen Philosophen Emmanuel Lévinas und Judith Butler kommt man in einer kultur‑, gender- oder minderheitenkundlichen Fachpublikation gegenwärtig kaum mehr um »Verwundbarkeiten«, »Fragilitäten« (beides im Plural billiger) und »Vulnerabilitätsdiskurse« herum.
Der Weltklimarat (IPCC) definiert »Vulnerabilität« als Anpassungsfähigkeit von betroffenen Systemen, Regionen oder Gruppen, mit den Folgen und Risiken des Klimawandels zurechtzukommen. Die notorische Wikipedia präsentiert einen Textbaustein, der in allerhand abrufbare fach- und laientheologische Statements eingefügt wurde: »In der christlichen Theologie wird Vulnerabilität derzeit zu einem Schlüsselbegriff entwickelt. So wird in gesellschaftsrelevanten Themen wie Migration, Armutsbekämpfung, Widerstand gegen Rechtsextremismus, sexueller Mißbrauch an Minderjährigen, Überwindung von Gewalt und Engagement für Menschenrechte eine neue Anschlußfähigkeit gewonnen.«
Was haben Lévinas und Butler da angerichtet? Lévinas beschloß, nach dem »Holocaust« könne, ja dürfe es kein abendländisches Subjekt mehr geben. Der Mensch sei als Individuum nicht frei (er spricht diesbezüglich sogar von einer anmaßenden »Totalität der Freiheit«), sondern immer nur im »Anderen« existent. Was zunächst Grundzug jeglicher Phänomenologie ist, von Heideggers Kritik am modernen »Rumpfsubjekt« über Ferdinand Ebners Phänomenologie der Begegnung mit dem »Du« (die er vor Martin Buber ausgeführt hat) bis zu Maurice Merleau-Pontys »Zwischenleiblichkeit« des Menschen, wird bei Lévinas moralisch aufgeladen. Der Mensch ist stets »angeklagt« als Person, die »schuldig« bleibt, weil sie den unendlichen ethischen Ansprüchen des »Anderen« nie genügen kann. »Die beste Art, dem Anderen zu begegnen, liegt darin, nicht einmal seine Augenfarbe zu bemerken«, schreibt er und zielt damit auf die »inkommensurable« Existenz des »Anderen«, die man im selben Akt vergewaltigt, foltert und verwundet, indem man ihn mit rationalen Kategorien wahrzunehmen wagt.
Nach Judith Butler hinwiederum sind wir Wesen, deren Körper verletzbar und sterblich sind (vulnerable), weshalb der menschliche Körper die moralische Grundlage der Ethik bildet (gemessen an Kant und der gesamten christlichen Tradition ist diese Begründung völlig unzureichend, gemessen an Humes Gefühlsethik und derjenigen des Utilitarismus ist sie nur einen Zacken hochgedreht). Doch nicht jeder Mensch ist gleichermaßen verwundbar: äußere Ereignisse (Hungersnöte, Krieg, Umweltverschmutzung, Klimawandel) und »vorenthaltene Anerkennung der Vulnerabilität« (Butler nennt dies »precarity«), etwa durch rassistische Vorurteile oder paternalistische Behandlungsweisen von Menschen mit besonderen Bedürfnissen, erzwingen nach Judith Butler egalitäre Verteilung von »food, shelter, work, medical care, rights of mobility and expression, protection against injury and oppression« (»Nahrung, Obdach, Arbeit, medizinische Versorgung, das Recht auf Freizügigkeit und freie Selbstdarstellung, Schutz vor Ungerechtigkeit und Unterdrückung«).
Hier wird die Wurzel des »Vulnerabilitätsdiskurses« in der postmodernen Ethik erkennbar. Daß Sozialwissenschaften, Ökonomie und schließlich auch die globalistische Ideologie solcherart ethische Begründungen zusammenspannen mit einer höchst konkreten politischen Agenda (Leon Wilhelm Plöcks nennt just diesen Zusammenhang in seinem kaplaken die »Allianz«), weist darauf hin, wie die Vulnerabilitätsethik politisch umgesetzt wird. Richard Rorty, hier nun als Dritter im Bunde der postmodernen Ethiker angeführt, definiert in seinem Hauptwerk Kontingenz, Ironie und Solidarität (1989) Linke (liberals) als solche Leute, die »mehr Angst hätten davor, grausam zu sein, als vor irgend etwas anderem«. Die Vulnerabilitätspolitik sitzt genau diesem fundamentalen Irrtum auf: Verletzung vermeiden zu müssen, Verwundbarkeit als etwas aufzufassen, das aus der Welt geschafft gehört.
Lévinas’ »Anderer« ist verwundbar in einem fundamentalanthropologischen Sinne, es wäre also begrifflich unmöglich, ihn unverwundbar machen zu wollen. Sein Menschsein würde ihm dadurch abgesprochen. Ihn jedoch als lebendigen moralischen Vorwurf zu denken impliziert, daß ein richtiger Umgang mit ihm ihn eben niemals verwunden dürfe. Butler folgert aus der Körperlichkeit als solcher durch einen veritablen naturalistischen Fehlschluß eine komplette linke Utopie, in der zur Behebung aller Fragilitäten verteilungsgerecht Vorsorge getroffen werden muß, um keine potentiell verwundbare Opfergruppe unberücksichtigt zu lassen. Die über die USA hinaus wirkmächtige Schneeflöckchen-Mentalität der safe spaces für »vulnerable Menschengruppen« speist sich direkt aus Judith Butlers Denkfehler.
Die Menschheit ist verwundbar, verletzlich, fragil. Im WEF-Video basiert auf diesem Axiom die moralische Forderung nach dem großen Neustart, derselbe naturalistische Fehlschluß wie bei Butler ist auch hier unübersehbar. In allen Bereichen der kreisförmig im Regenbogenemblem angeordneten Great-Reset-Agenda sollen Verwundbarkeiten durch den revolutionären Umbruch überwunden und fürderhin vom Erdboden getilgt werden. Alle Bereiche der hybriden Kriegsführung werden über diesen Kamm geschoren: Klima, Umweltzerstörung, Frauen, Flucht, Armut, Pandemien, Überbevölkerung, Minderheiten, Cyberspace, Finanzsystem usw.
Dies konstatierend liegt es nahe, einen Gegenentwurf zu formulieren, um die elementare menschliche Verwundbarkeit denen, die Schindluder mit ihr treiben, wieder zu entreißen und dem falschen Heilsversprechen die menschliche Heilungsbedürftigkeit entgegenzusetzen. Doch es liegt in der verdrehten Natur der Sache, daß dies so leicht nicht ist.
Ought implies can. Eine Sollensforderung muß davon ausgehen können, daß etwas Gesolltes auch machbar ist. Denn denkt man den Zugriff des weltumspannenden Systems bis hinein ins biopolitische Körperregime (wie es zuerst Michel Foucault mit durchaus anderer Absicht herauspräpariert und Giorgio Agamben vor allem in seinen unlängst erschienenen Texten noch einmal neu gedacht hat), richten metapolitische Rückeroberungsversuche wenig aus.
Den Transhumanismus in seinem Lauf halten weder konservative Philosophen noch Rechtspopulisten auf. Chinesischer Blockchain-Software für das Völkermanagement fallen alle Völker zum Opfer (dies haben David Lehmann und Yannic Weber in den letzten beiden Ausgaben der Zeitschrift Tumult beschrieben). Selbstdisseminierter Nanopartikel-Gentherapie kann man weder mit alternativmedialer Aufklärungsarbeit noch durch politische Opposition entkommen, ja nicht einmal durch Abbruch der Beziehungen zu allen Geimpften. Diese Dinge werden uns ereilen, wir entkommen ihnen nicht.
Der verwundende Zugriff auf den menschlichen Leib unter dem Deckmantel des umfassenden Schutzes vor Verwundbarkeit darf als ausgemachte Sache gelten. Es kommt also darauf an, nicht nur gegen die Macht zu argumentieren und ihr das Mitmachen zu verweigern. Verwundbarkeit bedeutet, die Verwundungen selbst auf sich zu nehmen, den Schmerz auszuhalten, hilflos zu bleiben.
Es gilt zunächst, sich bewußt dafür zu entscheiden, nicht vom Staat und seinen über- und untergeordneten Fürsorgesystemen totgepflegt, durchgeimpft, digitalisiert und hygienegeprüft werden zu wollen. Das versprochene physische Heil dankend abzulehnen, weil man sich bereits für ein anderes entschieden hat, mit allen schmerzhaften Konsequenzen, die dies mit sich bringen kann.
Das bedeutet keinesfalls, dem Arzt grundsätzlich den Rücken zuzukehren – das Prinzip der Heilung des menschlichen Leibes ist etwas zutiefst Notwendiges und wird von jedem Kranken natürlicherweise erstrebt. Die bewußte Entscheidung besteht darin, einem System, das die persönliche Integrität und die Selbstheilungskraft fundamental in Frage stellt und durch seine eigenen Mechanismen ersetzen will, eine Absage zu erteilen.
Wenn für Simone Weil die Verwundbarkeit ein Merkmal von Existenz ist, meint sie dies in einem radikal christlichen Sinn. Was auf Erden inkarniert ist, was als Mensch fleischgeworden ist, ist ephemer. Es ist nie ganz von dieser Welt, nämlich immer nur mit einem Teil seiner selbst, dem Leib. Daß der leibliche Teil verwundbar ist, verweist auf seinen unverwundbaren anderen, nämlich den geistigen Teil.
Der Satan bekommt von Gott die Erlaubnis, sich an Hiob schadlos zu halten und dessen Leib fürchterlich zu malträtieren. Er geht davon aus, daß Hiob dem Herrn im Augenblick der größten physischen Pein ins Angesicht fluchen werde, weil er aufgrund seiner Verwundbarkeit erpreßbar und verführbar ist. Hiob hockt im Staub, schabt seine Gebresten mit einer Scherbe und klagt. Als seine Freunde ihn obendrein durch Hohn zermürben wollen, spricht er: »Ohne meine Haut, die so zerfetzte, und ohne mein Fleisch werde ich Gott schauen. Ihn selber werde ich dann für mich schauen; meine Augen werden ihn sehen, nicht mehr fremd.« (Hiob 19,26 – 27) Die Wunden bringen ihn Gott näher, statt daß sie ihn an den schmerzenden Leib fesseln.
Wenn nun der leibliche Teil angegriffen wird, das System sich ihn einverleibt, indem es ihn registriert (biometrischer Fingerabdruck), modifiziert (gentechnisch umbaut), patentiert (gentechnisch veränderte Organismen, GVOs, sind fremdes Eigentum) und dezimiert (Biowaffen lassen sich populationsspezifisch designen), erweist sich der Mensch als unverfügbar, gerade insofern er verwundbar ist. Seine Verwundbarkeit kann ihm nicht genommen werden – mögen sich die Herren dieser Welt auch noch so salbungsvoll bemühen, alle Vulnerabilitäten zu beseitigen im irdischen Paradies.
Zum äußeren Willensakt, das irdische Heilsversprechen abzuweisen und sich dessen Zugriffen, so gut es irgend geht, aktiv zu entziehen, tritt der innerseelische Antrieb hinzu: niemals gleichgültig werden zu wollen, niemals schlafen zu wollen, niemals sediert werden zu wollen. Ständig gewahr zu sein, was da am Menschen vollzogen werden soll, den Autoritätsglauben insbesondere gegenüber dem »Ärztestand«, wie Rudolf Steiner nicht müde wurde zu betonen, zu überwinden, mehr und mehr seine eigene Autorität in diesen Dingen zu werden.
Doch es sollte auch noch ein dritter Akt dazugehören. Diese Verwundungen mit vollem Wachbewußtsein zu erwarten, gewissermaßen: sich sicher zu sein, daß sie da sind, zunehmen werden und genau in unserem Äon dazugehören zur irdischen Existenz.
Den Menschen und zuallererst sich selbst als verwundbar zu begreifen bedeutet, allen äußeren Heilungsversuchen gegenüber skeptisch zu werden und der Verwundung im Fall des Ernstfalles nichts entgegenzusetzen, sie zu erdulden. Dann erst ist der Mensch wirklich verwundbar, bis dahin redet er nur davon und erhofft sich doch in einem Winkel seines Herzens die von den mächtigen Neustartern versprochene Unverwundbarkeit. Es ist nahezu unmöglich, wirklich im Vollsinne des Wortes verwundbar zu sein.
Der drohenden Verwundung des Leibes keine anmaßende Ataraxie und keine politische Lösung entgegensetzen zu wollen sollte sich als Entwicklungsaufgabe des Menschen erweisen, als seine »Zone der nächsten Entwicklung« (Maria Montessori). Als Hiob aufhörte zu wollen, wurde er erhört.