Sich mit den Indianern zu beschäftigen heißt, sich mit Besiegten zu beschäftigen, oder in der Sprache ihrer Gegner: mit den Unterlegenen im Kampf gegen den Fortschritt. Den Schweregrad ihrer Niederlage kann man dabei nicht nur an der (offiziös durchaus gewollten) Verwahrlosung der ihnen zugewiesenen Reservate festmachen, sondern mehr noch an den Klischees und Projektionen, die sie in der Phantasie der meisten bis heute hervorrufen. Um so lohnender ist daher der Blick auf die Indianer von der rechten Seite.
Die Geschichte des Untergangs der indianischen Kulturen in Nordamerika (es gab dort an die 1000 Stammesgruppen) ist die Abfolge von Migrationsdruck, befeuert durch die Gier nach Bodenschätzen und daraus resultierende Vertragsbrüche und einseitige Annullierungen der jeweils »endgültigen« Verträge durch die Regierungen in Washington.
Die ersten englischen Siedler, die sich 1607 im heutigen Bundestaat Virginia niederließen, waren noch auf wohlgesinnte Indianer getroffen. Ohne formelle Verträge einzugehen, für die zu diesem Zeitpunkt keinerlei Notwendigkeit bestand, lebte man in Frieden und guter Nachbarschaft.
Die zunehmende Besiedlung des nordamerikanischen Kontinents zwang die britische Krone erstmals 1763 zu einem Indianergesetz, das eine sogenannte Indianergrenze festlegte, die kein Weißer willkürlich verletzen durfte. Dies mag ein Grund dafür gewesen sein, daß sich manche Stämme im folgenden Unabhängigkeitskrieg auf die britische Seite schlugen.
Die Sieger, die sich gern als Vertreter von Aufklärung und Fortschritt jenseits des Atlantiks sahen, waren den Ureinwohnern nicht allzu wohlgesinnt. Der siebte Präsident der USA, Andrew Jackson, hatte in seiner Militärzeit einige Feldzüge gegen die Stämme mitgemacht und glaubte nicht an eine friedliche Koexistenz beider Lebensformen. Er war es auch, der einen Kommissar für indianische Angelegenheiten berief und dem Kriegsministerium unterstellte. Daraus sollte mit der Zeit das Bureau of Indian Affairs (BIA) werden, das später ins Innenministerium eingegliedert wurde und noch eine unrühmliche Rolle in der kulturellen Umerziehung der Indianer nach den Kriegen spielen sollte.
Als ideologische Grundlage für den begonnenen Raubbau galt die Doktrin Manifest Destiny, die später ein Bestandteil der Monroe-Doktrin werden sollte und auf puritanische Überzeugungen zurückging. Darin wurde eine göttliche Vorbestimmung für die Beherrschung der neuerschlossenen Gebiete mitsamt ihren Ureinwohnern durch den weißen Mann postuliert. Sie wurde zur geistigen Munition radikaler Indianerbekämpfer, wie des Gouverneurs von Colorado, John Evans, der eine gewaltsame »Endlösung« der Indianerfrage anstrebte. Eine Folge war das Massaker an den Cheyenne am Sand Creek im Jahr 1864.
Bereits in einem frühen Stadium der Verdrängung durch immer neue Wellen von Siedlern überkamen einzelnen Häuptlingen Vorahnungen vom Untergang ihrer Kultur. Immer wieder wurde versucht, die ansonsten rivalisierenden Stämme zu einem großen Verteidigungsbündnis gegen die Weißen zu vereinen. Der erste namhafte Häuptling, dem dies gelang, war Tecumseh von den Shawnee, der 1813 im Kampf gegen die Weißen fiel. Er ist der erste einer Reihe berühmter Krieger-Häuptlinge, deren Namen die Zeiten überdauerten und Eingang in das Gedächtnis der westlichen Kultur gefunden haben. Neben ihm stehen Gestalten wie der Apache Geronimo, der Comanche Quanah Parker (ein weiß-indianisches Halbblut) oder der große Sitting Bull von den Lakota-Sioux.
Am 30. Juni 1834 verabschiedete der Kongreß ein Gesetz, das alles Land (mit Ausnahmen) westlich des Mississippi zu Indianerland erklärte. Das bedeutete, daß es dort keine weißen Ansiedlungen geben und daß kein Weißer ohne Lizenz dort Handel treiben durfte. Eine erste Grenzverschiebung legte den 95. Meridian als Grenze fest. Eine Kette von Militärstützpunkten, auch Forts genannt, sollte Unbefugten den Zutritt verwehren.
Die vertraglich zugesicherte Selbstbeschränkung des weißen Fortschritts hielt allerdings nur bis zu den ersten Goldfunden. Der Goldrausch zog Scharen in das Indianergebiet, es wurden Rodungen durchgeführt und illegal Siedlungen errichtet. Eine der gravierendsten Konsequenzen dieser Vorstöße war, daß den von der Jagd lebenden Stämmen die Nahrungsgrundlage streitig gemacht wurde. Gewalt von beiden Seiten war die Folge, die auch von Indianern mit unerhörter Grausamkeit ausgeübt wurde.
Ab 1851 kam es in Fort Laramie zu Neuverhandlungen und neuen Verträgen zwischen den Vereinigten Staaten und einigen der Chiefs großer Stammesverbände wie der Cheyenne, der Arapaho und der Sioux, in denen die Eigentumsrechte der Stämme zwar nicht abgetreten, doch dahingehend aufgeweicht wurden, daß den Weißen erlaubt wurde, weitere Militärposten und Straßen durch das Territorium zu bauen. Schon dieser erste Vertrag sorgte für Unmut unter den Indianern, so daß manche Häuptlinge der Unterzeichnung fernblieben.
Nach dem Bürgerkrieg wurde 1868 wiederum in Fort Laramie eine Neufassung des Vertrages aufgesetzt, in welcher South Dakota bis zu den Black Hills, die gleich einem indianischen Olymp als heilig galten, zum Reservatsgebiet der Sioux und der mit ihnen verbündeten Stämme deklariert wurde. Auch dieser Vertrag blieb umstritten. Nichtabgesprochene Erkundungsexpeditionen der US-Kavallerie und erneute Goldfunde im Gebiet der Black Hills (in den 1950er Jahren sollte Uran das Gold ersetzen) riefen wiederholt den Zorn der Stämme hervor.
Personifiziert wurde diese Auflehnung durch Sitting Bull, der als Schamane und Krieger gleichermaßen hohes Ansehen bei vielen Indianern, auch außerhalb seines eigenen Stammes, genoß. Er verstand es, vor allem die indianische Jugend zu mobilisieren, welche die unterwürfigen Häuptlinge verachtete, die sich in den Reservaten von ihrer angestammten Lebensweise zu entfremden begannen. Ausgestattet mit einem göttlichen Ruf des »Großen Geistes« (Wa-Kantanka), der ihm in einer Vision den baldigen Sieg über die Weißen versprochen hatte, sammelte Sitting Bull die gesamte Lakota-Sioux-Nation mitsamt den verbündeten Cheyenne und Arapaho um sich und plante den Krieg.
Es zeigte sich, daß die technisch unterlegenen Indianer gelernt hatten, gegen die US-Schwadronen effektiv zu kämpfen, und das, obwohl sie im Kampfgeschehen keine koordinierte Befehlskette kannten, was ihre Gegner wiederum zu einer fatalen Unterschätzung verführte.
Ein legendäres Beispiel hierfür ist die Schlacht am Little Bighorn im Jahr 1876, in welcher der vorpreschende General George A. Custer zum Varus der US-Mythologie aufstieg, als er mit seinen Soldaten von 2000 Sioux, Cheyenne und Arapaho umzingelt und niedergemacht wurde. Am Little Bighorn errangen die Indianer einen fulminanten Sieg, der für großes Aufsehen sorgte, doch war ihre Niederlage in diesem Ringen bereits besiegelt. Der Eisenbahnbau, die Erschließung des Wilden Westens und die siedelnden Zuwanderer konnte man in einer Schlacht nicht besiegen. Militärische Strafexpeditionen der Regierung taten ihr übriges, worunter das Massaker von Wounded Knee am 29. Dezember 1890 an 300 wehrlosen Frauen, Kindern und Greisen der Sioux-Nation, die unter dem Befehl eines Halbbruders von Sitting Bull standen, einen Tiefpunkt bildete.
Nach der militärischen Niederwerfung der Indianer begann der eigentliche Krieg. Die US-Regierung erkannte, daß ein Gegner erst dann als besiegt gelten konnte, wenn man seine Kultur besiegt hatte, wenn man seinen Geist okkupieren konnte. Von den Verheißungen des American way of life, der materialistischen Lesart des einstigen Manifest Destiny, überzeugt, ging man daran, die »Wilden« unter dem fast schon paulinisch klingenden Slogan »kill the indian, save the man« (töte den Indianer, erlöse den Menschen) umzuerziehen.
Die Reservate wurden zu öffentlich mehr schlecht als recht versorgten Homelands, deren Verwahrlosung zur Abwanderung animieren sollte. Die traditionelle Tracht der Indianer wurde ebenso verboten wie die Riten und die Kulte ihrer Religion. In Zusammenarbeit mit dem BIA und einer korrumpierten Indianer-Elite sollten langfristig eine Urbanisierung und eine Individualisierung der Indianer erreicht werden (Stichwort detribalized, ent-tribalisiert). Ansiedlungen von Weißen in unmittelbarer Nähe sollten zudem als Magnet dienen, um die frühere Lebensweise aufzugeben. Die sozialen Folgen dieser Entfremdungskampagnen waren Kriminalität und Alkoholismus. Besonders letzterer breitete sich geradezu endemisch unter den Entwurzelten aus.
In der Zeit der Bürgerrechtsbewegung erwachte mit einem Mal auch der alte indianische Selbstbehauptungswille wieder zu neuem Leben. Im Stillwater-Gefängnis in Minnesota gründeten 1962 drei Mitglieder des Ojibwa-Stammes, die wegen räuberischer Delikte einsaßen, eine Art Selbsthilfegruppe für die insgesamt 46 Insassen indianischer Abkunft. Aus dieser Gefangenenorganisation wurde 1968 das American Indian Movement (AIM), das mit Dennis Banks (1937 – 2017, ebenfalls Ojibwa) einen charismatischen Sprecher erhielt.
Das AIM wollte die Interessen der Ureinwohner offensiver vertreten als das indianische Establishment aus dem BIA. Gleichzeitig wollte man sich durch Selbstorganisation die Würde zurückerobern. In den Reservaten wurden eigene Bildungseinrichtungen eröffnet, welche die Indianer von Kindesbeinen an mit ihrer Geschichte und ihrer Kultur vertraut machen sollten. Viele der Aktivisten kehrten demonstrativ zur traditionellen Haartracht zurück und manche entdeckten ihre Ahnenreihe.
Daneben wurden Lebensmittelkooperativen gegründet und eigene Arbeitsprogramme erstellt, ein eigener Rechtsbeistand wurde organisiert und eine Bürgerwehr aufgestellt, zum Schutz vor kriminellen Übergriffen, die im Grenzgebiet der Reservate immer wieder vorkamen. Die umgedrehte US-Flagge war das provokative Symbol dieses neuen Widerstandes und sollte der Assimilierung den Kampf ansagen. Prominente Unterstützung kam unter anderem von Marlon Brando und Johnny Cash.
Es war die turbulente Zeit der Bürgerrechtsbewegungen, der Anti-Vietnamkrieg-Proteste, der Black Panther und diverser linksterroristischer Untergruppen. Eine »Red-Power-Bewegung« wurde aus diesem Grund vom FBI besonders argwöhnisch registriert, obgleich sie niemals den Bekanntheitsgrad erreichte, auf dem die Bewegungen der Afroamerikaner segelten. Das AIM suchte die Loslösung vom staatlichen BIA und strebte gar eine Neuverhandlung der Verträge von 1868 an. Besonders an den Zuständen im ärmsten Reservat Pine Ridge mit seinem korrupten wie autoritären Vorsteher Dick Wilson (1934 – 1990), einem Oglala-Sioux, entzündeten sich immer wieder die Proteste.
Das AIM entschloß sich 1973 zu einer großangelegten Besetzung des symbolträchtigen Ortes Wounded Knee und konnte für diese Aktion ein Stammesbündnis wie zu Sitting Bulls Zeiten schmieden. 200 Besetzer aus verschiedenen Stämmen waren angereist, hielten bis zum 8. Mai 1973 den Ort 71 Tage lang besetzt und zwangen das FBI zu einer martialischen Polizeiaktion, die aus dem Ruder lief. Die Polizei und dubiose örtliche Milizen hatten die Aktivisten umzingelt und lieferten sich aus bis heute nicht restlos aufgeklärten Gründen Feuergefechte mit den Eingekreisten. In der Presse war schnell von einem »Wounded Knee II« die Rede. In den juristischen Nachspielen wurde seitens der Behörden fälschlicherweise auf eine kommunistische Unterwanderung des AIM und dessen Steuerung aus Kuba hingewiesen, die zu den größten Befürchtungen Anlaß gegeben hätten.
Ein anderes Nachspiel dieses Showdowns mit dem FBI ereignete sich am 26. Juni 1975. Während eines Schußwechsels im Reservatsgebiet von Pine Ridge starben zwei Beamte des FBI. Der festgenommene Leonard Peltier (*1944, ein Lakota-Halbblut mit franz. Vorfahren) wurde 1977 in einem fragwürdigen Prozeß, der wiederholt angefochten wurde, zu zweimal lebenslänglich verurteilt und gilt seinen AIM-Mitkämpfern seitdem als eine Art indianischer Nelson Mandela. In und außerhalb Nordamerikas blieb er hingegen weitgehend unbekannt.
Das bürgerliche Zeitalter hat mit jeder Form von Stammesdenken gründlich aufgeräumt. Selbst »retardierende Momente« wie die Totalitarismen des letzten Jahrhunderts, in denen eine moderne Abart des Phyletismus noch einmal zum Ausbruch gelangte, konnten den Gang der Geschichte nicht stoppen. Am Ausgang der bürgerlichen Epoche, wie er sich in unseren Tagen ankündigt, wird das Denken in Solidar- und Kampfgemeinschaften von außereuropäischen Kulturen mit Vehemenz in den alten Kontinent hineingetragen. Im Vergleich zu den indianischen Kulturen Nordamerikas sind die Rollen in Europa allerdings klar vertauscht: Eine robuste, selbstgewisse Stammesmentalität erdrückt eine erschöpfte, überzivilisierte Bürgerlichkeit.
Der französische Soziologe Michel Maffesoli fragt sich angesichts dieses tiefgreifenden Paradigmenwechsels, welchen kollektiven Ausdruck eine bedrängte Kultur noch erreichen könne. Er sieht, ähnlich wie das auf deutscher Seite schon Henning Eichberg getan hat, den bisher kaum hinterfragten Individualismus einmünden in neue Geflechte, die keinen intellektuellen Konzepten mehr gehorchen. Weder Bourgeoisie noch Proletariat oder ähnliches sind die Bezugspunkte der Zukunft, sondern ein als Schicksalsgemeinschaft erfahrenes alltägliches, lokales Beziehungsgeflecht.
Diese neu erfahrbare Gemeinsamkeit fußt auf Grundlagen längst überholt geglaubter Werte wie Abkunft, Sprache, Religion, Verwurzelung. Im Fokus steht nicht mehr allein das Individuum, sondern das, was allen innerhalb dieser Gemeinschaft gemeinsam ist. Vermittelnde und damit Distanz schaffende Institutionen, wie sie für die bürgerliche Zeit mit ihrer primär juridischen Mentalität charakteristisch waren, werden schrittweise (Maffesoli rechnet mit einer Übergangszeit) von neuen Unmittelbarkeiten abgelöst. Verbindlichkeiten und Pflichten werden anders erlebt, da sie immer im unmittelbaren Lebenshorizont erscheinen und dort ihre existentielle Notwendigkeit offenbaren.
Damit propagiert Maffesoli keinerlei neototalitäre Uniformität, sondern ein organisches Ganzes, in welchem das Individuum seinen Platz und sein Recht erhält, in welchem es aber durch seine Verwurzelung eine Erweiterung an sich erfährt, ohne hierbei zu verwahrlosen. Der Mensch wird in dieser Vision nicht mehr zusammenhanglos vor sich hin leben.
Sein Vorgänger in Deutschland, Henning Eichberg, erblickte in dieser sozio-tektonischen Grundverschiebung vom Staatlichen zum Volklichen überdies eine Bewegung »auf ein matriarchalisches Selbstverständnis« hin. Das staatlich verfaßte (und so verstandene) Vaterland werde zum nährenden Mutterland werden. Eine so konnotierte Loyalität werde, so die Annahme, weder zu korrumpieren noch leichthin aufzukündigen sein, wie es in unseren Tagen im Land der »Mutti« leider geschieht.