Stammhalter: der Überlebenskampf der US-Indianer

von Marcel Kehlberg

PDF der Druckfassung aus Sezession 103/ August 2021

Sich mit den India­nern zu beschäf­ti­gen heißt, sich mit Besieg­ten zu beschäf­ti­gen, oder in der Spra­che ihrer Geg­ner: mit den Unter­le­ge­nen im Kampf gegen den Fort­schritt. Den Schwe­re­grad ihrer Nie­der­la­ge kann man dabei nicht nur an der (offi­zi­ös durch­aus gewoll­ten) Ver­wahr­lo­sung der ihnen zuge­wie­se­nen Reser­va­te fest­ma­chen, son­dern mehr noch an den Kli­schees und Pro­jek­tio­nen, die sie in der Phan­ta­sie der meis­ten bis heu­te her­vor­ru­fen. Um so loh­nen­der ist daher der Blick auf die India­ner von der rech­ten Seite.

 Die Geschich­te des Unter­gangs der india­ni­schen Kul­tu­ren in Nord­ame­ri­ka (es gab dort an die 1000 Stam­mes­grup­pen) ist die Abfol­ge von Migra­ti­ons­druck, befeu­ert durch die Gier nach Boden­schät­zen und dar­aus resul­tie­ren­de Ver­trags­brü­che und ein­sei­ti­ge Annul­lie­run­gen der jeweils »end­gül­ti­gen« Ver­trä­ge durch die Regie­run­gen in Washington.

Die ers­ten eng­li­schen Sied­ler, die sich 1607 im heu­ti­gen Bun­destaat Vir­gi­nia nie­der­lie­ßen, waren noch auf wohl­ge­sinn­te India­ner getrof­fen. Ohne for­mel­le Ver­trä­ge ein­zu­ge­hen, für die zu die­sem Zeit­punkt kei­ner­lei Not­wen­dig­keit bestand, leb­te man in Frie­den und guter Nachbarschaft.

Die zuneh­men­de Besied­lung des nord­ame­ri­ka­ni­schen Kon­ti­nents zwang die bri­ti­sche Kro­ne erst­mals 1763 zu einem India­ner­ge­setz, das eine soge­nann­te India­ner­gren­ze fest­leg­te, die kein Wei­ßer will­kür­lich ver­let­zen durf­te. Dies mag ein Grund dafür gewe­sen sein, daß sich man­che Stäm­me im fol­gen­den Unab­hän­gig­keits­krieg auf die bri­ti­sche Sei­te schlugen.

Die Sie­ger, die sich gern als Ver­tre­ter von Auf­klä­rung und Fort­schritt jen­seits des Atlan­tiks sahen, waren den Urein­woh­nern nicht all­zu wohl­ge­sinnt. Der sieb­te Prä­si­dent der USA, Andrew Jack­son, hat­te in sei­ner Mili­tär­zeit eini­ge Feld­zü­ge gegen die Stäm­me mit­ge­macht und glaub­te nicht an eine fried­li­che ­Koexis­tenz bei­der Lebens­for­men. Er war es auch, der einen Kom­mis­sar für india­ni­sche Ange­le­gen­hei­ten berief und dem Kriegs­mi­nis­te­ri­um unter­stell­te. Dar­aus soll­te mit der Zeit das Bureau of Indi­an Affairs (BIA) wer­den, das spä­ter ins Innen­mi­nis­te­ri­um ein­ge­glie­dert wur­de und noch eine unrühm­li­che Rol­le in der kul­tu­rel­len Umer­zie­hung der India­ner nach den Krie­gen spie­len sollte.

Als ideo­lo­gi­sche Grund­la­ge für den begon­ne­nen Raub­bau galt die Dok­trin Mani­fest Desti­ny, die spä­ter ein Bestand­teil der Mon­roe-­Dok­trin wer­den soll­te und auf puri­ta­ni­sche Über­zeu­gun­gen zurück­ging. Dar­in wur­de eine gött­li­che Vor­be­stim­mung für die Beherr­schung der neu­erschlos­se­nen Gebie­te mit­samt ihren Urein­woh­nern durch den wei­ßen Mann pos­tu­liert. Sie wur­de zur geis­ti­gen Muni­ti­on radi­ka­ler Indianer­bekämpfer, wie des Gou­ver­neurs von Colo­ra­do, John Evans, der eine gewalt­sa­me »End­lö­sung« der India­ner­fra­ge anstreb­te. Eine Fol­ge war das Mas­sa­ker an den Che­yenne am Sand Creek im Jahr 1864.

Bereits in einem frü­hen Sta­di­um der Ver­drän­gung durch immer neue Wel­len von Sied­lern über­ka­men ein­zel­nen Häupt­lin­gen Vor­ah­nun­gen vom Unter­gang ihrer Kul­tur. Immer wie­der wur­de ver­sucht, die ansons­ten riva­li­sie­ren­den Stäm­me zu einem gro­ßen Ver­tei­di­gungs­bünd­nis gegen die Wei­ßen zu ver­ei­nen. Der ers­te nam­haf­te Häupt­ling, dem dies gelang, war ­Tecum­seh von den Shaw­nee, der 1813 im Kampf gegen die Wei­ßen fiel. Er ist der ers­te einer Rei­he berühm­ter Krie­ger-Häupt­lin­ge, deren Namen die Zei­ten über­dau­er­ten und Ein­gang in das Gedächt­nis der west­li­chen Kul­tur gefun­den haben. Neben ihm ste­hen Gestal­ten wie der Apa­che Gero­ni­mo, der Coman­che Qua­nah Par­ker (ein weiß-india­ni­sches Halb­blut) oder der gro­ße Sit­ting Bull von den Lakota-Sioux.

Am 30. Juni 1834 ver­ab­schie­de­te der Kon­greß ein Gesetz, das alles Land (mit Aus­nah­men) west­lich des Mis­sis­sip­pi zu India­ner­land erklär­te. Das bedeu­te­te, daß es dort kei­ne wei­ßen Ansied­lun­gen geben und daß kein Wei­ßer ohne Lizenz dort Han­del trei­ben durf­te. Eine ers­te Grenz­ver­schie­bung leg­te den 95. Meri­di­an als Gren­ze fest. Eine Ket­te von Mili­tär­stütz­punk­ten, auch Forts genannt, soll­te Unbe­fug­ten den Zutritt verwehren.

Die ver­trag­lich zuge­si­cher­te Selbst­be­schrän­kung des wei­ßen Fort­schritts hielt aller­dings nur bis zu den ers­ten Gold­fun­den. Der Gold­rausch zog Scha­ren in das India­ner­ge­biet, es wur­den Rodun­gen durch­ge­führt und ille­gal Sied­lun­gen errich­tet. Eine der gra­vie­rends­ten Kon­se­quen­zen die­ser Vor­stö­ße war, daß den von der Jagd leben­den Stäm­men die Nah­rungs­grund­la­ge strei­tig gemacht wur­de. Gewalt von bei­den Sei­ten war die Fol­ge, die auch von India­nern mit uner­hör­ter Grau­sam­keit aus­ge­übt wurde.

Ab 1851 kam es in Fort Lara­mie zu Neu­ver­hand­lun­gen und neu­en Ver­trä­gen zwi­schen den Ver­ei­nig­ten Staa­ten und eini­gen der Chiefs gro­ßer Stam­mes­ver­bän­de wie der Che­yenne, der Ara­pa­ho und der Sioux, in denen die Eigen­tums­rech­te der Stäm­me zwar nicht abge­tre­ten, doch dahin­ge­hend auf­ge­weicht wur­den, daß den Wei­ßen erlaubt wur­de, wei­te­re Mili­tär­pos­ten und Stra­ßen durch das Ter­ri­to­ri­um zu bau­en. Schon die­ser ers­te Ver­trag sorg­te für Unmut unter den India­nern, so daß man­che Häupt­lin­ge der Unter­zeich­nung fernblieben.

Nach dem Bür­ger­krieg wur­de 1868 wie­der­um in Fort Lara­mie eine Neu­fas­sung des Ver­tra­ges auf­ge­setzt, in wel­cher South Dako­ta bis zu den Black Hills, die gleich einem india­ni­schen Olymp als hei­lig gal­ten, zum Reser­vat­s­ge­biet der Sioux und der mit ihnen ver­bün­de­ten Stäm­me dekla­riert wur­de. Auch die­ser Ver­trag blieb umstrit­ten. Nicht­ab­ge­spro­che­ne Erkun­dungs­expe­di­tio­nen der US-Kaval­le­rie und erneu­te Gold­fun­de im Gebiet der Black Hills (in den 1950er Jah­ren soll­te Uran das Gold erset­zen) rie­fen wie­der­holt den Zorn der Stäm­me hervor.

Per­so­ni­fi­ziert wur­de die­se Auf­leh­nung durch Sit­ting Bull, der als Scha­ma­ne und Krie­ger glei­cher­ma­ßen hohes Anse­hen bei vie­len India­nern, auch außer­halb sei­nes eige­nen Stam­mes, genoß. Er ver­stand es, vor allem die india­ni­sche Jugend zu mobi­li­sie­ren, wel­che die unter­wür­fi­gen Häupt­lin­ge ver­ach­te­te, die sich in den Reser­va­ten von ihrer ange­stamm­ten Lebens­wei­se zu ent­frem­den began­nen. Aus­ge­stat­tet mit einem gött­li­chen Ruf des »Gro­ßen Geis­tes« (Wa-Kan­tan­ka), der ihm in einer Visi­on den bal­di­gen Sieg über die Wei­ßen ver­spro­chen hat­te, sam­mel­te Sit­ting Bull die gesam­te Lako­ta-Sioux-Nati­on mit­samt den ver­bün­de­ten Che­yenne und Ara­pa­ho um sich und plan­te den Krieg.

Es zeig­te sich, daß die tech­nisch unter­le­ge­nen India­ner gelernt hat­ten, gegen die US-Schwa­dro­nen effek­tiv zu kämp­fen, und das, obwohl sie im Kampf­ge­sche­hen kei­ne koor­di­nier­te Befehls­ket­te kann­ten, was ihre Geg­ner wie­der­um zu einer fata­len Unter­schät­zung verführte.

Ein legen­dä­res Bei­spiel hier­für ist die Schlacht am Litt­le Big­horn im Jahr 1876, in wel­cher der vor­pre­schen­de Gene­ral Geor­ge A. Cus­ter zum Varus der US-Mytho­lo­gie auf­stieg, als er mit sei­nen Sol­da­ten von 2000 Sioux, Che­yenne und Ara­pa­ho umzin­gelt und nie­der­ge­macht wur­de. Am Litt­le Big­horn erran­gen die India­ner einen ful­mi­nan­ten Sieg, der für gro­ßes Auf­se­hen sorg­te, doch war ihre Nie­der­la­ge in die­sem Rin­gen bereits besie­gelt. Der Eisen­bahn­bau, die Erschlie­ßung des Wil­den Wes­tens und die sie­deln­den Zuwan­de­rer konn­te man in einer Schlacht nicht besie­gen. Mili­tä­ri­sche Straf­ex­pe­di­tio­nen der Regie­rung taten ihr übri­ges, wor­un­ter das ­Mas­sa­ker von Woun­ded Knee am 29. Dezem­ber 1890 an 300 wehr­lo­sen Frau­en, Kin­dern und Grei­sen der Sioux-Nati­on, die unter dem Befehl eines Halb­bru­ders von Sit­ting Bull stan­den, einen Tief­punkt bildete.

Nach der mili­tä­ri­schen Nie­der­wer­fung der India­ner begann der eigent­li­che Krieg. Die US-Regie­rung erkann­te, daß ein Geg­ner erst dann als besiegt gel­ten konn­te, wenn man sei­ne Kul­tur besiegt hat­te, wenn man sei­nen Geist okku­pie­ren konn­te. Von den Ver­hei­ßun­gen des Ame­ri­can way of life, der mate­ria­lis­ti­schen Les­art des eins­ti­gen Mani­fest Desti­ny, über­zeugt, ging man dar­an, die »Wil­den« unter dem fast schon pau­li­nisch klin­gen­den Slo­gan »kill the indi­an, save the man« (töte den India­ner, erlö­se den Men­schen) umzuerziehen.

Die Reser­va­te wur­den zu öffent­lich mehr schlecht als recht ver­sorg­ten Home­lands, deren Ver­wahr­lo­sung zur Abwan­de­rung ani­mie­ren soll­te. Die tra­di­tio­nel­le Tracht der India­ner wur­de eben­so ver­bo­ten wie die Riten und die Kul­te ihrer Reli­gi­on. In Zusam­men­ar­beit mit dem BIA und einer kor­rum­pier­ten India­ner-Eli­te soll­ten lang­fris­tig eine ­Urba­ni­sie­rung und eine Indi­vi­dua­li­sie­rung der India­ner erreicht wer­den (Stich­wort ­detri­ba­li­zed, ent-tri­ba­li­siert). Ansied­lun­gen von Wei­ßen in unmit­tel­ba­rer Nähe soll­ten zudem als Magnet die­nen, um die frü­he­re Lebens­wei­se auf­zu­ge­ben. Die sozia­len Fol­gen die­ser Entfremdungs­­kampagnen waren Kri­mi­na­li­tät und Alko­ho­lis­mus. Beson­ders letz­te­rer brei­te­te sich gera­de­zu ende­misch unter den Ent­wur­zel­ten aus.

In der Zeit der Bür­ger­rechts­be­we­gung erwach­te mit einem Mal auch der alte india­ni­sche Selbst­be­haup­tungs­wil­le wie­der zu neu­em Leben. Im Still­wa­ter-Gefäng­nis in Min­ne­so­ta grün­de­ten 1962 drei Mit­glie­der des Ojib­wa-Stam­mes, die wegen räu­be­ri­scher Delik­te ein­sa­ßen, eine Art Selbst­hil­fe­grup­pe für die ins­ge­samt 46 Insas­sen india­ni­scher Abkunft. Aus die­ser Gefan­ge­nen­or­ga­ni­sa­ti­on wur­de 1968 das Ame­ri­can Indi­an Move­ment (AIM), das mit Den­nis Banks (1937 – 2017, eben­falls Ojib­wa) einen cha­ris­ma­ti­schen Spre­cher erhielt.

Das AIM woll­te die Inter­es­sen der Urein­woh­ner offen­si­ver ver­tre­ten als das india­ni­sche Estab­lish­ment aus dem BIA. Gleich­zei­tig woll­te man sich durch Selbst­or­ga­ni­sa­ti­on die Wür­de zurück­er­obern. In den Reser­va­ten wur­den eige­ne Bil­dungs­ein­rich­tun­gen eröff­net, wel­che die India­ner von Kin­des­bei­nen an mit ihrer Geschich­te und ihrer Kul­tur ver­traut machen soll­ten. Vie­le der Akti­vis­ten kehr­ten demons­tra­tiv zur tra­di­tio­nel­len Haar­tracht zurück und man­che ent­deck­ten ihre Ahnenreihe.

Dane­ben wur­den Lebens­mit­tel­ko­ope­ra­ti­ven gegrün­det und eige­ne Arbeits­pro­gram­me erstellt, ein eige­ner Rechts­bei­stand wur­de orga­ni­siert und eine Bür­ger­wehr auf­ge­stellt, zum Schutz vor kri­mi­nel­len ­Über­grif­fen, die im Grenz­ge­biet der Reser­va­te immer wie­der vor­ka­men. Die umge­dreh­te US-Flag­ge war das pro­vo­ka­ti­ve Sym­bol die­ses neu­en Wider­stan­des und soll­te der Assi­mi­lie­rung den Kampf ansa­gen. Pro­mi­nen­te Unter­stüt­zung kam unter ande­rem von Mar­lon Bran­do und John­ny Cash.

Es war die tur­bu­len­te Zeit der Bür­ger­rechts­be­we­gun­gen, der Anti-Viet­nam­krieg-Pro­tes­te, der Black Pan­ther und diver­ser links­ter­ro­ris­ti­scher Unter­grup­pen. Eine »Red-Power-Bewe­gung« wur­de aus die­sem Grund vom FBI beson­ders arg­wöh­nisch regis­triert, obgleich sie nie­mals den Bekannt­heits­grad erreich­te, auf dem die Bewe­gun­gen der Afro­ame­ri­ka­ner segel­ten. Das AIM such­te die Los­lö­sung vom staat­li­chen BIA und streb­te gar eine Neu­ver­hand­lung der Ver­trä­ge von 1868 an. Beson­ders an den Zustän­den im ärms­ten Reser­vat Pine Ridge mit sei­nem kor­rup­ten wie auto­ri­tä­ren Vor­ste­her Dick Wil­son (1934 – 1990), einem Ogla­la-Sioux, ent­zün­de­ten sich immer wie­der die Proteste.

Das AIM ent­schloß sich 1973 zu einer groß­an­ge­leg­ten Beset­zung des sym­bol­träch­ti­gen Ortes Woun­ded Knee und konn­te für die­se Akti­on ein Stam­mes­bünd­nis wie zu Sit­ting Bulls Zei­ten schmie­den. 200 Beset­zer aus ver­schie­de­nen Stäm­men waren ange­reist, hiel­ten bis zum 8. Mai 1973 den Ort 71 Tage lang besetzt und zwan­gen das FBI zu einer mar­tia­li­schen Poli­zei­ak­ti­on, die aus dem Ruder lief. Die Poli­zei und dubio­se ört­li­che Mili­zen hat­ten die Akti­vis­ten umzin­gelt und lie­fer­ten sich aus bis heu­te nicht rest­los auf­ge­klär­ten Grün­den Feu­er­ge­fech­te mit den Ein­ge­kreis­ten. In der Pres­se war schnell von einem »Woun­ded Knee II« die Rede. In den juris­ti­schen Nach­spie­len wur­de sei­tens der Behör­den fälsch­li­cher­wei­se auf eine kom­mu­nis­ti­sche Unter­wan­de­rung des AIM und des­sen Steue­rung aus Kuba hin­ge­wie­sen, die zu den größ­ten Befürch­tun­gen Anlaß gege­ben hätten.

Ein ande­res Nach­spiel die­ses Show­downs mit dem FBI ereig­ne­te sich am 26. Juni 1975. Wäh­rend eines Schuß­wech­sels im Reser­vat­s­ge­biet von Pine Ridge star­ben zwei Beam­te des FBI. Der fest­ge­nom­me­ne Leo­nard ­Pel­tier (*1944, ein Lako­ta-Halb­blut mit franz. Vor­fah­ren) wur­de 1977 in einem frag­wür­di­gen Pro­zeß, der wie­der­holt ange­foch­ten wur­de, zu zwei­mal lebens­läng­lich ver­ur­teilt und gilt sei­nen AIM-Mit­kämp­fern seit­dem als eine Art india­ni­scher Nel­son Man­de­la. In und außer­halb Nord­ame­ri­kas blieb er hin­ge­gen weit­ge­hend unbekannt.

Das bür­ger­li­che Zeit­al­ter hat mit jeder Form von Stam­mes­den­ken gründ­lich auf­ge­räumt. Selbst »retar­die­ren­de Momen­te« wie die Tota­li­ta­ris­men des letz­ten Jahr­hun­derts, in denen eine moder­ne Abart des Phyl­etis­mus noch ein­mal zum Aus­bruch gelang­te, konn­ten den Gang der Geschich­te nicht stop­pen. Am Aus­gang der bür­ger­li­chen Epo­che, wie er sich in unse­ren Tagen ankün­digt, wird das Den­ken in Soli­dar- und Kampf­ge­mein­schaf­ten von außer­eu­ro­päi­schen Kul­tu­ren mit Vehe­menz in den alten Kon­ti­nent hin­ein­ge­tra­gen. Im Ver­gleich zu den india­ni­schen Kul­tu­ren Nord­amerikas sind die Rol­len in Euro­pa aller­dings klar ver­tauscht: Eine robus­te, selbst­ge­wis­se Stam­mes­men­ta­li­tät erdrückt eine erschöpf­te, über­zi­vi­li­sier­te Bürgerlichkeit.

Der fran­zö­si­sche Sozio­lo­ge Michel Maf­fe­so­li fragt sich ange­sichts die­ses tief­grei­fen­den Para­dig­men­wech­sels, wel­chen kol­lek­ti­ven Aus­druck eine bedräng­te Kul­tur noch errei­chen kön­ne. Er sieht, ähn­lich wie das auf deut­scher Sei­te schon Hen­ning Eich­berg getan hat, den bis­her kaum hin­ter­frag­ten Indi­vi­dua­lis­mus ein­mün­den in neue Geflech­te, die kei­nen intel­lek­tu­el­len Kon­zep­ten mehr gehor­chen. Weder Bour­geoi­sie noch Pro­le­ta­ri­at oder ähn­li­ches sind die Bezugs­punk­te der Zukunft, son­dern ein als Schick­sals­ge­mein­schaft erfah­re­nes all­täg­li­ches, loka­les Beziehungsgeflecht.

Die­se neu erfahr­ba­re Gemein­sam­keit fußt auf Grund­la­gen längst über­holt geglaub­ter Wer­te wie Abkunft, Spra­che, Reli­gi­on, Ver­wur­ze­lung. Im Fokus steht nicht mehr allein das Indi­vi­du­um, son­dern das, was allen inner­halb die­ser Gemein­schaft gemein­sam ist. Ver­mit­teln­de und damit Distanz schaf­fen­de Insti­tu­tio­nen, wie sie für die bür­ger­li­che Zeit mit ihrer pri­mär juri­di­schen Men­ta­li­tät cha­rak­te­ris­tisch waren, wer­den schritt­wei­se (Maf­fe­so­li rech­net mit einer Über­gangs­zeit) von neu­en Unmit­tel­bar­kei­ten abge­löst. Ver­bind­lich­kei­ten und Pflich­ten wer­den anders erlebt, da sie immer im unmit­tel­ba­ren Lebens­ho­ri­zont erschei­nen und dort ihre exis­ten­ti­el­le Not­wen­dig­keit offenbaren.

Damit pro­pa­giert Maf­fe­so­li kei­ner­lei neo­to­ta­li­tä­re Uni­for­mi­tät, son­dern ein orga­ni­sches Gan­zes, in wel­chem das Indi­vi­du­um sei­nen Platz und sein Recht erhält, in wel­chem es aber durch sei­ne Ver­wur­ze­lung eine Erwei­te­rung an sich erfährt, ohne hier­bei zu ver­wahr­lo­sen. Der Mensch wird in die­ser Visi­on nicht mehr zusam­men­hang­los vor sich hin leben.

Sein Vor­gän­ger in Deutsch­land, Hen­ning Eich­berg, erblick­te in die­ser sozio-tek­to­ni­schen Grund­ver­schie­bung vom Staat­li­chen zum Volk­li­chen über­dies eine Bewe­gung »auf ein matri­ar­cha­li­sches Selbst­ver­ständ­nis« hin. Das staat­lich ver­faß­te (und so ver­stan­de­ne) Vater­land wer­de zum näh­ren­den Mut­ter­land wer­den. Eine so kon­no­tier­te Loya­li­tät wer­de, so die Annah­me, weder zu kor­rum­pie­ren noch leicht­hin auf­zu­kün­di­gen sein, wie es in unse­ren Tagen im Land der »Mut­ti« lei­der geschieht.

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