Assimilation – eine unrealistische Forderung?

Thomas Hennetier (éléments) im Gespräch mit Vincent Coussedière und Michel Geoffroy

PDF der Druckfassung aus Sezession 103/ August 2021

Nie­mals wur­de – vor allem auf sei­ten der poli­ti­schen Rech­ten – mehr über Assi­mi­la­ti­on gespro­chen als seit der Zeit, da sie nicht mehr funk­tio­niert. Von allen Plä­doy­ers, die sich neu­er­dings mit ihr befas­sen, ist jenes von Vin­cent Cous­se­diè­re, Élo­ge de l’assimilation. Cri­tique de l’idéologie migra­toire (»Lob der Assi­mi­la­ti­on. Eine Kri­tik der Migra­ti­ons­ideo­lo­gie«, Mona­co 2021), sicher­lich das ori­gi­nells­te und gehalt­volls­te. Doch konn­te Cous­se­diè­re Michel Geoff­roy nicht über­zeu­gen, der sei­ner­seits eine kom­pro­miß­lo­se Abrech­nung mit dem Sta­tus quo, Immi­gra­ti­on de mas­se. L’assimilation impos­si­ble (»Mas­sen­ein­wan­de­rung. Die unmög­li­che Assi­mi­la­ti­on«, ­Paris 2021), ver­faß­te. Wir stel­len bei­de ein­an­der in einer Debat­te gegenüber.

 

ÉLÉMENTS: Wie Raphaël Doan in Le Rêve de l‘assimilation. De la Grè­ce antique à nos jours (»Der Traum von der Assi­mi­la­ti­on. Vom anti­ken Grie­chen­land bis heu­te«, Paris 2021) unter­streicht, wird die For­de­rung nach Assi­mi­la­ti­on poli­tisch rechts, ja sogar am äuße­ren Rand der Rech­ten ver­or­tet, wo sie doch eigent­lich auf eine erst durch die Auf­klä­rung ermög­lich­te uni­ver­sa­lis­ti­sche Auf­fas­sung zurück­zu­füh­ren ist. Wie kam es zu die­ser Verschiebung?

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Es ist die Lin­ke, die die Assi­mi­la­ti­on als ein rech­tes, ja radi­kal rech­tes Phä­no­men erschei­nen läßt! Sie wirft der Rech­ten vor, mit ihrer For­de­rung nach Assi­mi­lie­rung die Anders­ar­tig­keit der Frem­den zu leug­nen, und brand­markt sie als ras­sis­tisch und xeno­phob. Sart­re ist der Pio­nier die­ser radi­ka­len Assi­mi­la­ti­ons­kri­tik, die heu­te von Ein­wan­de­rungs­his­to­ri­kern und ‑sozio­lo­gen wie Gérard Noi­ri­el oder Patrick Weil auf­ge­grif­fen wird.

Die iden­ti­tä­re Rech­te ihrer­seits kri­ti­siert die Assi­mi­la­ti­on auch, aber vom ent­ge­gen­ge­setz­ten Stand­punkt: Sie befürch­tet, daß durch Assi­mi­la­ti­on der Frem­den die natio­na­le Iden­ti­tät zer­stört wird. In bei­den Fäl­len pran­gert man also die Assi­mi­la­ti­on im Namen der Iden­ti­tät an – der Iden­ti­tät des Ein­wan­de­rers auf der einen Sei­te, der natio­na­len Iden­ti­tät auf der ande­ren Seite.

Mei­ner Mei­nung nach kann aber die Assi­mi­la­ti­on weder der Rech­ten noch der Lin­ken zuge­schrie­ben wer­den, weder dem uni­ver­sa­lis­ti­schen Prin­zip noch einem, das die Unter­schie­de betont. Ich ver­su­che sie als »Nach­ah­mungs­as­si­mi­la­ti­on« begriff­lich neu zu fas­sen, und zwar aus­ge­hend von einer Über­le­gung Gabri­el Tar­des, der in der »Nach­ah­mung« eine uni­ver­sel­le sozia­le Tat­sa­che sieht. Wenn wir nun in die­sem Sin­ne von der Assi­mi­la­ti­on als »uni­ver­sel­lem« Phä­no­men spre­chen, heißt dies kei­nes­wegs, daß sie »uni­ver­sa­lis­tisch« wäre – wenn man unter »Uni­ver­sa­lis­mus« den Wil­len ver­steht, der gan­zen Welt die eige­nen Gebräu­che und die eige­nen Geset­ze, die eige­ne Moral und die eige­ne Poli­tik auf­zu­zwin­gen. Inso­fern sie Nach­ah­mung bestimm­ter Vor­bil­der in Abset­zung von ande­ren ist – Vor­bil­der sind nicht belie­big kumu­lier­bar, da sie sich wider­spre­chen –, geht Assi­mi­la­ti­on »aus­son­dernd« vor und trägt zur Viel­falt mensch­li­cher Gemein­schaf­ten bei.

 

MICHEL GEOFFROY: Wenn man in unse­ren Tagen die Assi­mi­la­ti­on aufs Tapet bringt, beklagt man damit im Grun­de genom­men nur die ver­lo­ren­ge­gan­ge­ne Homo­ge­ni­tät unse­rer Gesell­schaft. Ihre The­ma­ti­sie­rung zeugt also eher von wohl­fei­ler Nost­al­gie – vor allem wenn sie sich mit den »Wer­ten der Repu­blik« schmückt! – als von einer real umsetz­ba­ren For­de­rung im Zeit­al­ter der Mas­sen­ein­wan­de­rung. Ja, ich gin­ge noch wei­ter und wür­de sagen, daß es sich hier um eine Art Tag­traum han­delt: Tat­säch­lich hät­te man sich die Assi­mi­la­ti­ons­fra­ge vor 30 Jah­ren stel­len müs­sen, in den 1980er Jah­ren, zu einer Zeit, als wir der Zuwan­de­rung zum Zwe­cke der Ansied­lung Tür und Tor geöff­net haben! Aber damals muß­te man, woll­te man salon­fä­hig blei­ben, die Ein­wan­de­rungs­fra­ge gera­de­zu leug­nen – sie galt als Obses­si­on der radi­ka­len Rechten.

Es mutet sur­re­al an, die Assi­mi­la­ti­on heu­te zu the­ma­ti­sie­ren, da Frank­reich in ­ver­schie­de­ne Gemein­schaf­ten zer­fällt, wo 20 Pro­zent der männ­li­chen Neu­ge­bo­re­nen einen mus­li­mi­schen Vor­na­men tra­gen und offi­zi­ell jahr­aus, jahr­ein 450 000 Per­so­nen nach Frank­reich ein­wan­dern, wobei in die­ser Zahl die ille­ga­len Immi­gran­ten noch gar nicht erfaßt sind. Es kann nicht ver­wun­dern, daß sich eini­ge in der Rech­ten die­ses The­mas anneh­men: Die Rech­te in Frank­reich hat­te schon immer die Nei­gung, die Stra­ße im Rück­spie­gel zu betrachten …

 

ÉLÉMENTS: Besteht das Pro­blem nicht in der Dop­pel­deu­tig­keit der fran­zö­si­schen Poli­tik? In der Pra­xis – dies sagen Sie ja bei­de – hat man (wobei noch zu erläu­tern wäre, wer unter die­sem »man« zu ver­ste­hen ist) auf die Assi­mi­la­ti­on ver­zich­tet; offi­zi­ell jedoch ist sie nach wie vor – ohne sich als sol­che zu »outen« – die Stich­wort­ge­be­rin bei der Erlas­sung der jüngs­ten Geset­ze, die das Tra­gen des Schlei­ers in der Schu­le oder der Bur­ka im öffent­li­chen Raum verbieten.

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Die Geset­ze bezüg­lich des Schlei­ers oder der Bur­ka über­spie­len den Ver­zicht auf eine Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik und ihre Erset­zung durch eine Poli­tik, die der »Lai­zi­tät« eine Rol­le zuschan­zen will, die die­se nicht erfül­len kann. 1989 ent­deckt die fran­zö­si­sche Gesell­schaft mit der »Kopf­tuch-Affä­re von Creil« (nord­afrikanische Ein­wan­de­rer konn­ten einen Etap­pen­sieg gegen den Lai­zis­mus erzie­len, d. Red.) die Pro­ble­me, die bald schon im Zusam­men­hang mit einem Teil der mus­li­mi­schen Ein­wan­de­rungs­ge­mein­de akut wer­den soll­ten, da letz­te­re nicht gewillt ist, ihre reli­giö­sen Prak­ti­ken auf die Pri­vat­sphä­re zu beschrän­ken, son­dern sie im Gegen­teil zur Schau stellt und ver­brei­tet. »Alles beginnt 1989«, schreibt Alain Fin­kiel­kraut in L’identité maheu­reu­se (»Die unglück­li­che Iden­ti­tät«, Paris 2013): Das heißt, die­se »repu­bli­ka­ni­schen« Intel­lek­tu­el­len wer­den sich schlag­ar­tig der Fol­gen einer isla­mi­schen Zuwan­de­rung bewußt, deren Men­ge oder Assi­mi­lier­bar­keit bis dahin nicht pro­ble­ma­ti­siert wur­de. Dies erklärt auch den Erfolg und den begin­nen­den Sie­ges­zug des Kon­zepts der »Inte­gra­ti­on«: Man ver­zich­te­te auf die For­de­rung nach Assi­mi­lie­rung an die Nati­on, um sich mit einer Pseu­do-For­de­rung nach Inte­gra­ti­on in die Repu­blik zu begnü­gen. Der Zuge­wan­der­te soll­te zwar die gesetz­lich fest­ge­schrie­be­nen Rech­te und Pflich­ten beach­ten, doch stand es ihm frei, sei­ne Sit­ten in der Pri­vat­sphä­re zu prak­ti­zie­ren. Der Gegen­satz zwi­schen pri­vat und öffent­lich wur­de damit zur Zau­ber­for­mel der gelun­ge­nen Inte­gra­ti­on. Statt die enge Ver­bin­dung zwi­schen unse­ren Geset­zen und unse­ren Sit­ten zu begrei­fen, errich­te­te man eine abs­trak­te Trenn­wand zwi­schen ihnen. Dabei ging man von der Tabu­la rasa der Repu­blik und der lai­zis­ti­schen Neu­tra­li­tät aus, die, so glaub­te man, fort­an auch die Assi­mi­la­ti­on über­flüs­sig machen würden.

 

MICHEL GEOFFROY: Dies ist eine fran­zö­si­sche Spe­zia­li­tät: Die Regel unbeug­sam, die Pra­xis nach­gie­big … Bei einem unlängst statt­ge­fun­de­nen Audit stell­te der Rech­nungs­hof (Cour des comp­tes) fest, daß der Ein­bür­ge­rungs­test »kurz und for­mell« sei und einer Über­prü­fung des Assi­mi­la­ti­ons­gra­des, vor­ge­schrie­ben von den Para­gra­phen 21 bis 24 des Code civil, »äußerst lax nach­ge­gan­gen wer­de«. Hin­sicht­lich des Ver­trags für repu­bli­ka­ni­sche Inte­gra­ti­on (cont­rat d’intégration répu­bli­cai­ne), der ins­be­son­de­re die Beherr­schung der fran­zö­si­schen Spra­che garan­tie­ren soll­te, räumt der­sel­be Gerichts­hof ein, daß unge­ach­tet der Tat­sa­che, daß die ein­zi­ge Ver­pflich­tung in der gewis­sen­haf­ten Teil­nah­me an den Sprach­kur­sen besteht, es »unmög­lich ist, die Nicht­be­ach­tung [die­ser Ver­pflich­tung] mit dem Nicht­aus­hän­di­gen einer mehr­jäh­ri­gen Auf­ent­halts­ge­neh­mi­gung zu korrelieren.«

Mit ande­ren Wor­ten: Die Ein­rich­tun­gen, die ein Mini­mum an Assi­mi­la­ti­on garan­tie­ren soll­ten, funk­tio­nie­ren nicht, weil sie einem unun­ter­bro­che­nen Zustrom von zu vie­len Neu­an­kömm­lin­gen aus­ge­setzt sind, deren Sta­tus von der Ver­wal­tung nicht mehr ver­nünf­tig bear­bei­tet wer­den kann – vor­aus­ge­setzt, daß dies über­haupt gewollt ist. Es genügt, die lan­gen War­te­schlan­gen vor unse­ren Prä­fek­tur­ge­bäu­den Ende des Monats zu sehen!

Übri­gens darf man nicht ver­ges­sen, daß im Gegen­satz zur offi­zi­el­len Pro­pa­gan­da Frank­reich nie­mals ein Ein­wan­de­rungs­land war und schon gar nicht ein Mas­sen­ein­wan­de­rungs­land wie heu­te. Damit wird auch ver­ständ­lich, ­war­um unser Land weder über die nöti­gen Mit­tel noch über die Erfah­run­gen ver­fügt, um den stän­di­gen Zustrom der außer­eu­ro­päi­schen Ein­wan­de­rer zu assi­mi­lie­ren. Dar­über hin­aus wird auch klar, daß die berühm­te »Assi­mi­la­ti­on à la ­fran­çai­se« schlech­ter­dings ein Mär­chen ist, denn unser Land hat immer nur eine über­schau­ba­re Anzahl von Frem­den assi­mi­liert, unter Berück­sich­ti­gung sei­ner Bevöl­ke­rung und sei­ner Geschichte.

 

ÉLÉMENTS: Wenn man eine Assi­mi­lie­rung an Frank­reich för­dern will, die nicht bezie­hungs­wei­se nicht nur eine Assi­mi­lie­rung an die »Repu­blik« sein soll, ist es da not­wen­dig, die fran­zö­si­sche Iden­ti­tät zu defi­nie­ren, oder kann man davon aus­ge­hen, daß die­se selbst­evi­dent ist?

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Man »defi­niert« Frank­reich nur über in viel­fäl­ti­ger Wei­se erfolg­te Nach­ah­mun­gen der Vor­bil­der, die von den vor­an­ge­gan­ge­nen Gene­ra­tio­nen auf uns gekom­men sind, aber dane­ben auch durch Inno­va­tio­nen ange­sichts der neu­en geschicht­li­chen Her­aus­for­de­run­gen. Die Assi­mi­lie­rung an Vor­bil­der erfolgt über zwi­schen­mensch­li­che, auf Nach­ah­mung basie­ren­de Bezie­hun­gen über alle Insti­tu­ti­ons­gren­zen hin­weg. Ohne sol­che Bezie­hun­gen ver­kom­men die Insti­tu­tio­nen zu geist­lo­sen, toten Ein­rich­tun­gen. Frank­reich »defi­niert« sich also durch sei­ne Assi­mi­lie­rung an sich selbst – ohne die­se unab­läs­sig zu erbrin­gen­de Leis­tung, die sich nicht auf den Besitz einer pas­si­ven und zuge­si­cher­ten »Iden­ti­tät« her­un­ter­bre­chen läßt, ist die Assi­mi­la­ti­on der Frem­den eine lee­re Behauptung.

Insti­tu­tio­nen kön­nen ihre Rol­le nur erfül­len, wenn die Men­schen, die ihre See­le sind, sich in allen Berei­chen wie­der auf­raf­fen. Fami­lie, Schu­le, Arbeit, Reli­gi­on, Kul­tur, Staat sind die ver­schie­de­nen kon­zen­tri­schen Krei­se der natio­na­len Assi­mi­la­ti­on. Die­se Insti­tu­tio­nen befin­den sich in der Kri­se, denn statt dem Indi­vi­du­um nach­ah­mens­wer­te Vor­bil­der zur Ver­fü­gung zu stel­len, dekla­rie­ren sie das Indi­vi­du­um selbst zum Vor­bild. Damit sug­ge­rie­ren sie, daß es nichts Nach­ah­mens­wer­tes fin­den kön­ne und die eige­ne Iden­ti­tät aus sich selbst schöp­fen müs­se. Indem sie das Indi­vi­du­um sol­cher­ma­ßen zur nar­ziß­ti­schen Selbst­kon­struk­ti­on ver­ur­tei­len, wird es zur Beu­te unter­schied­lichs­ter kom­mu­ni­ta­ris­ti­scher Rattenfänger.

 

MICHEL GEOFFROY: Jene, die sich unab­läs­sig auf den Geist der Repu­blik beru­fen, die Repu­blik, die die Dia­lek­te in der Schu­le ver­bo­ten hat­te, behaup­ten heu­te, daß zum Zweck einer bes­se­ren Inte­gra­ti­on der Ein­wan­de­rer­kin­der Ara­bisch unter­rich­tet wer­den müs­se. Oder sie bestä­ti­gen, daß sich Frank­reich künf­tig aus Gemein­schaf­ten zusam­men­set­zen wer­de. Und doch könn­te der repu­bli­ka­ni­schen Ideo­lo­gie à la fran­çai­se nichts mehr zuwi­der­lau­fen! Man hat in Frank­reich ziel­stre­big alle holis­ti­schen Insti­tu­tio­nen dekon­stru­iert, die die Assi­mi­lie­rung der Indi­vi­du­en an die natio­na­le Gemein­schaft geför­dert haben. Und gera­de die­se Dekon­struk­teu­re geben sich heu­te betrof­fen vom Schei­tern der Integration!

Folg­lich ist die Fra­ge nicht, wie man die Gesell­schaft gestal­ten müß­te, um eine Mas­sen­as­si­mi­la­ti­on zu ermög­li­chen – dies scheint mir ein gänz­lich uto­pi­sches Ziel zu sein –, son­dern wie man die Fort­set­zung der Mas­sen­ein­wan­de­rung unter­bin­den könn­te, die jede Assi­mi­la­ti­on verunmöglicht!

 

ÉLÉMENTS: Wel­ches wären die Bedin­gun­gen, um wie­der an eine Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik anzuknüpfen?

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Eine Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik muß auf der Grund­la­ge einer dop­pel­ten Aus­rich­tung neu geschaf­fen wer­den: Sie muß sowohl die Ein­hei­mi­schen als auch die Frem­den ein­bin­den, denn man stützt sich auf ers­te­re, um letz­te­re zu assi­mi­lie­ren. Sit­ten wer­den durch Nach­ah­mungs­pro­zes­se und den sozia­len Druck inner­halb des Vol­kes erwor­ben und erst sekun­där durch Geset­ze. Die Men­ge ist ein wesent­li­cher Fak­tor, denn in einer Demo­kra­tie führt die Tat­sa­che, daß die unter­schied­li­chen Lebens­ent­wür­fe alle auf die glei­che Stu­fe gestellt wer­den, zu einer Kri­se der Vor­bil­der, die es nicht mehr wagen oder es schlicht nicht mehr schaf­fen, für ihre Über­le­gen­heit die nöti­ge Aner­ken­nung zu bekom­men. Die Men­ge ver­leiht somit dem Vor­bild eine Über­le­gen­heit, die es nicht mehr aus sich selbst hat.

Eine Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik muß also die Men­ge der Frem­den ein­schrän­ken, um sie assi­mi­lie­ren zu kön­nen. Dadurch begüns­tigt sie indi­rekt den Druck, der durch die natio­na­len Sit­ten der Mehr­heit auf die frem­den Sit­ten der Min­der­heit aus­ge­übt wird. Sie muß auch auf Eli­ten zurück­grei­fen kön­nen, die fähig sind, zur Nach­ah­mung bereit­ge­stell­te Vor­bil­der zu för­dern, um so Bewun­de­rung und den Wunsch nach Nach­ah­mung zu wecken.

 

MICHEL GEOFFROY: Ich habe zuge­ge­be­ner­ma­ßen gro­ße Schwie­rig­kei­ten mit der Vor­stel­lung, daß eine Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik (für Frem­de) in einer euro­päi­schen Nati­on wie der fran­zö­si­schen not­wen­dig sein soll. Wir sind im Gegen­satz zu den Ver­ei­nig­ten Staa­ten, Aus­tra­li­en, Kana­da oder Neu­see­land tat­säch­lich nicht sehr bewan­dert in Ein­wan­de­rungs- und Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus­fra­gen. Wir sind kei­ne Nati­on von Sied­lern, son­dern von Erben. Unse­re Vor­fah­ren leb­ten bereits vor Tau­sen­den von Jah­ren in Euro­pa: In Euro­pa sind wir zu Hause!

Im übri­gen kann Assi­mi­la­ti­on nur funk­tio­nie­ren, wenn sechs Bedin­gun­gen erfüllt sind: Wenn die Per­son wirk­lich den Wil­len hat, die Kul­tur und die Sit­ten ihres Auf­nah­me­lan­des zu assi­mi­lie­ren; wenn das Auf­nah­me­land in hin­rei­chen­dem Maße Zuver­sicht in die eige­ne Iden­ti­tät und die eige­nen Wer­te hat, um etwas anbie­ten zu kön­nen, das man sich aneig­nen kann; wenn der kul­tu­rel­le Unter­schied zwi­schen Auf­nah­me- und Her­kunfts­land des Ein­wan­de­rers nicht zu groß ist; wenn der Ein­wan­de­rer sei­ne Bin­dun­gen zum Her­kunfts­land kappt; wenn die Ein­wan­de­rer­strö­me über­schau­bar und auf gro­ße Zeit­räu­me ver­teilt blei­ben; wenn es im Auf­nah­me­land nicht bereits eine gro­ße Gemein­schaft von Leu­ten mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund gibt. Kei­ne die­ser Bedin­gun­gen ist heu­te erfüllt, und zwar haupt­säch­lich auf­grund des Mas­sen­ef­fekts, der von der Zuwan­de­rung zum Zwe­cke der Ansied­lung her­vor­ge­ru­fen wird.

 

ÉLÉMENTS: Besteht eine erfolg­rei­che Assi­mi­la­ti­ons­po­li­tik nicht dar­in, daß der Ein­wan­de­rer, wenn er sein Inter­es­se, sich zu »fran­zi­sie­ren«, mit dem, sei­ne Her­kunft auf­zu­wer­ten, ver­gleicht, sich für ers­te­res entscheidet?

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Assi­mi­la­ti­on ist kein Mit­tel zu einem äuße­ren Zweck: um eine Anstel­lung, eine Kran­ken­ver­si­che­rung etc. bekom­men. Sie ist ihr eige­ner Zweck, weil sie moti­viert wird durch die Bewun­de­rung, die man dem Vor­bild ent­ge­gen­bringt. Der Frem­de, der sich assi­mi­liert, assi­mi­liert sich aus kei­nem ande­ren Grund als dem einen: Fran­zo­se zu wer­den. Wenn der Frem­de sei­ne Her­kunft höher schätzt als den Erwerb der »Qua­li­tät eines Fran­zo­sen«, dann kann und will er nicht assi­mi­liert wer­den, denn Assi­mi­la­ti­on ist ein Pro­zeß nicht des Ver­zichts, son­dern der Umwand­lung und der Sub­li­mie­rung der eige­nen »Her­kunft«. Man kann ihn nicht gegen sei­nen Wil­len zu die­sem Pro­zeß zwin­gen, und wenn er sich nicht selbst in die­sem Sin­ne ent­schei­det, soll­te man ihm die Staats­bür­ger­schaft ver­weh­ren. Er wird unter gewis­sen Umstän­den als Frem­der im Land blei­ben dür­fen, das heißt mit den Rech­ten und den Pflich­ten eines Frem­den, die dem­entspre­chend beschränkt wer­den müs­sen, aber er wird nicht ein­ge­bür­gert – denn dafür ist die Assi­mi­la­ti­on die uner­läß­li­che Bedingung.

 

MICHEL GEOFFROY: Die Medi­en insze­nie­ren mit Vor­lie­be Bei­spie­le gelun­ge­ner Assi­mi­la­ti­on: ­einen ENA-Absol­ven­ten kop­ti­scher Her­kunft, eine bril­lan­te fran­ko-tune­si­sche Jour­na­lis­tin oder einen talen­tier­ten migran­ti­schen Pole­mi­ker. Han­delt es sich dabei aber wirk­lich um indi­vi­du­el­le Schick­sa­le, die für die Rea­li­tät der Mas­sen­ein­wan­de­rung reprä­sen­ta­tiv sind? Man darf dies zu Recht bezweifeln.

Vie­le Ein­wan­de­rer suchen in Frank­reich nicht irgend­ei­ne mehr oder min­der zusam­men­phan­ta­sier­te fran­ci­té, son­dern sie hof­fen auf bes­se­re Lebens­be­din­gun­gen, auf ein leich­te­res Leben als in ihrem Hei­mat­land. Oft zah­len sie übri­gens Schleu­sern sehr viel dafür. Migran­ten kom­men gera­de auch des­halb nach West­eu­ro­pa, weil die­ses die Immi­gra­ti­ons­fra­ge nicht gesetz­lich regelt und sei­ne Gren­zen nicht wirk­lich kontrolliert.

Zudem leben wir nicht mehr im 19. Jahr­hun­dert, als die ande­ren Zivi­li­sa­tio­nen, im Ban­ne der euro­päi­schen Vor­herr­schaft, davon träum­ten, unse­ren Lebens­stil, unse­re Wer­te und unse­re Macht­struk­tu­ren zu kopie­ren. Die­se Zeit ist end­gül­tig vor­bei, und heu­te, im Zeit­al­ter des »Kampfs der Kul­tu­ren«, ver­lei­ten wir ande­re nicht mehr zum Träu­men: Wir machen ande­re nei­disch, was über­haupt nicht das­sel­be ist.

 

ÉLÉMENTS: Vin­cent Cous­se­diè­re, Sie haben behaup­tet, daß Nach­ah­mungs­as­si­mi­la­ti­on beim Men­schen ein lebens­not­wen­di­ger Pro­zeß sei. Wenn sich nun die Ein­wan­de­rer die fran­zö­si­sche Kul­tur nicht aneig­nen, wür­de dies dann hei­ßen, daß die Fran­zo­sen die frem­de Kul­tur über­neh­men werden?

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Ich habe die ver­zwei­fel­te Anhäng­lich­keit an ein Frank­reich, des­sen Sit­ten von der Eli­te nicht mehr ver­tei­digt wer­den, den »Volks­po­pu­lis­mus« genannt.

Aber der Ver­fall der natio­na­len Assi­mi­la­ti­ons­vor­bil­der und der Insti­tu­tio­nen, die die­se ver­mit­telt haben, beschleu­nigt sich zuse­hends. Dies nun führt dazu, daß die Fran­zo­sen den Frem­den nicht nur kei­ne Vor­bil­der mehr bereit­stel­len kön­nen, son­dern daß sie auch für sich selbst kei­ne Vor­bil­der mehr haben. Der Islam in sei­ner isla­mis­ti­schen Vari­an­te pro­fi­tiert von die­sem Vaku­um. Die Wich­tig­keit, wel­che der Isla­mis­mus dem Mecha­nis­mus der auf Nach­ah­mung der Sit­ten beru­hen­den Assi­mi­la­ti­on bei­mißt, ist beein­dru­ckend, wäh­rend wir selbst die Assi­mi­la­ti­on dem per­sön­li­chen Befin­den über­las­sen und blind dem Gesetz ver­trau­en, das ein Zusam­men­le­ben ermög­li­chen soll. Die­ser Umstand aber erzeugt eine Ver­füh­rungs­kraft des Isla­mis­mus, die jene der Isla­mo-Lin­ken (Isla­mo-Gauchis­me) bei wei­tem über­trifft und jun­ge Fran­zo­sen in Erman­ge­lung natio­na­ler Vor­bil­der anspricht. Die vie­len »Kon­ver­ti­ten« sind dafür ein bered­tes Zeug­nis. Die mime­ti­sche und demo­gra­phi­sche Dyna­mik des Islam könn­te auf lan­ge Sicht die Assi­mi­la­ti­ons­rich­tung sehr wohl umkeh­ren. Wir sind zwar noch weit davon ent­fernt, selbst wenn die Wirk­lich­keit fik­tio­na­le Kata­stro­phen­sze­na­ri­en, wie sie bei­spiels­wei­se von Hou­el­le­becq im Roman Unter­wer­fung talent­voll beschrie­ben wer­den, manch­mal zu über­tref­fen scheint.

 

ÉLÉMENTS: Unter den Geg­nern der Assi­mi­la­ti­on stel­len jene, die in ihr eine Art Ver­bre­chen gegen die Iden­ti­tät der Ein­wan­de­rer sehen, im Grun­de genom­men fol­gen­de Fra­ge: Im Namen wel­chen Prin­zips darf der Staat den Men­schen ihre Lebens­wei­se vorschreiben?

 

VINCENT COUSSEDIÈRE: Auch hier müs­sen wir unter­schei­den zwi­schen der Inte­gra­ti­on durch das Gesetz und der Assi­mi­la­ti­on durch die Sit­ten. Wir ste­cken in fol­gen­der Sack­gas­se: Wir wol­len die Sit­ten durch das Gesetz über­for­men, wäh­rend wir gleich­zei­tig die Auf­lö­sung des fran­zö­si­schen Sozi­al­ge­fü­ges in Kauf genom­men haben, das durch viel­fäl­ti­ge Nach­ah­mungs­ak­te geeig­net war, sich selbst zu bilden.

Die­se bei­den Dimen­sio­nen der Nach­ah­mung – die staat­li­che und die sozia­le – kön­nen sich gegen­sei­tig ver­stär­ken oder ein­an­der wider­spre­chen. Es obliegt tat­säch­lich nicht dem Staat, den Leu­ten in der Schu­le oder am Strand Klei­der­vor­schrif­ten zu machen – eine dezen­te Klei­dung im ers­ten Fall, kein Bur­kini im zwei­ten. Aber er sieht sich dazu auf­ge­ru­fen, gera­de weil der Pro­zeß der Nach­ah­mung von ver­bind­li­chen Vor­bil­dern zutiefst im argen liegt; die­ser aber liegt zutiefst im argen, weil die Sit­ten einer­seits der rei­nen Will­kür des ein­zel­nen, ande­rer­seits dem reli­giö­sen Puri­ta­nis­mus geop­fert werden.

 

MICHEL GEOFFROY: Das liber­tä­re Argu­ment, dem zufol­ge dem Staat jeg­li­che Legi­ti­mi­tät fehlt, dem ein­zel­nen Vor­schrif­ten zu machen, beruht auf einem radi­ka­len metho­do­lo­gi­schen Indi­vi­dua­lis­mus, der im Staat nur den Garan­ten von Ver­trags­rech­ten und Rech­ten des ein­zel­nen sieht, in Wirk­lich­keit also den Garan­ten eines abs­trak­ten Men­schen, den es so nicht gibt. Was soll man dazu sagen?

Zunächst, daß es die Gesell­schaft sehr wohl gibt und daß sie den Indi­vi­du­en vor­aus­geht. Man kann also die Rech­te des ein­zel­nen kei­nes­wegs von denen der Gesell­schaft tren­nen, und auch nicht auf Dau­er ers­te­re gegen letz­te­re ausspielen.

Danach, daß der Plan, Men­schen­grup­pen zum Zusam­men­le­ben zu nöti­gen, die nicht die­sel­be Wer­te­hier­ar­chie tei­len, weil sie aus unter­schied­li­chen Kul­tu­ren stam­men, unmög­lich zur Ein­tracht füh­ren kann; Men­schen­grup­pen, von denen die einen bei­spiels­wei­se mei­nen, daß auf den Boden zu spu­cken ein Zei­chen von Männ­lich­keit ist, wäh­rend die ande­ren dar­in nur ein Zei­chen von Vul­ga­ri­tät erken­nen kön­nen; sol­che, die den­ken, daß es den guten Sit­ten ent­spricht, wenn Frau­en ihre Gestalt ver­hül­len, wäh­rend die ande­ren im Gegen­teil mei­nen, daß Frau­en ihre Gestalt stolz zei­gen sol­len; sol­che, die glau­ben, daß jede bild­li­che Dar­stel­lung Got­tes zu ver­bie­ten ist, wäh­rend die ande­ren den­ken, daß Gott Men­schen­ge­stalt anneh­men mußte.

Als poli­ti­sches und sozia­les Wesen bevor­zugt der Mensch tat­säch­lich die Gemein­schaft mit ähn­lich Gesinn­ten und nicht mit Frem­den, die ihm zu Recht fremd sein müssen.

 

ÉLÉMENTS: Michel Geoff­roy, Sie schrei­ben, daß die Ein­wan­de­rung eine Kata­stro­phe ist, weil die Assi­mi­la­ti­on nicht mehr funk­tio­niert. Vor­aus­ge­setzt, sie wür­de wie­der funk­tio­nie­ren, wäre dann die Ein­wan­de­rung kei­ne Kata­stro­phe mehr?

 

MICHEL GEOFFROY: Man darf die Ein­wan­de­rung nicht aus­schließ­lich auf die Assi­mi­la­ti­ons­fra­ge redu­zie­ren. Die Mas­sen­ein­wan­de­rung wirft in der Tat nicht nur auf­grund des kul­tu­rel­len Unter­schieds zwi­schen Ein­wan­de­rern und Auf­nah­me­ge­sell­schaft Fra­gen auf. Der Mas­sen­ef­fekt an sich spielt eine nega­ti­ve Rolle.

Wenn ab mor­gen jedes Jahr Hun­dert­tau­sen­de von Schwe­den kämen, um sich in Frank­reich anzu­sie­deln, hät­ten wir mit ihnen eben­falls ein Inte­gra­ti­ons- oder Assi­mi­la­ti­ons­pro­blem, weil sie ja luthe­ri­schen Bekennt­nis­ses sind … Die Mas­se an und für sich führt zum Segre­ga­ti­ons­ef­fekt, weil die Neu­an­kömm­lin­ge die Ten­denz haben, sich in Gegen­den nie­der­zu­las­sen, die bereits von Grup­pen der­sel­ben Her­kunft bewohnt werden.

Die Ein­wan­de­rung stellt wegen ihrer Grö­ße und ihrer Kon­zen­tra­ti­on in Raum und Zeit ein Pro­blem dar, denn die euro­päi­schen Völ­ker waren noch nie in ihrer ansons­ten reich­lich beweg­ten Geschich­te mit die­sem Phä­no­men kon­fron­tiert. Wenn wir die Men­ge der Ein­wan­de­rer und Asyl­be­an­tra­ger, die sich jähr­lich in Frank­reich nie­der­las­sen, mit der Gesamt­be­völ­keung ver­glei­chen, haben wir es ver­hält­nis­mä­ßig mit einem viel wich­ti­ge­ren Zustrom als die Ver­ei­nig­ten Staa­ten zu tun, die dem eige­nen Selbst­ver­ständ­nis nach ein Land von Sied­lern und Ein­wan­de­rern sind. Und dabei will ich noch gar nicht die Grö­ße unse­res Lan­des mit den Land­mas­sen der Ver­ei­nig­ten Staa­ten ver­glei­chen, deren Ober­flä­che vier­zehn­mal jene von Frank­reich über­trifft! Assi­mi­la­ti­on funk­tio­niert nur im Ein­zel­fall, sie braucht viel Zeit, und man darf auch nicht ver­ges­sen, daß es sich dabei um einen schwie­ri­gen und oft unvoll­stän­di­gen Pro­zeß han­delt. Solan­ge wir die Ein­wan­de­rer­strö­me nicht ein­däm­men, kön­nen weder Assi­mi­la­ti­on noch Inte­gra­ti­on ­funk­tio­nie­ren, und das Ergeb­nis wird ver­hee­rend sein.

 

(Die­ses Gespräch erschien zuerst in Heft 190, Juni/Juli 2021, der Zeit­schrift élé­ments. Abdruck mit freund­li­cher Geneh­mi­gung der Redak­ti­on in Paris; die Übersetzung
besorg­te Chris­ta Nitsch.)

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