Salman Rushdie – Fatwa und Lektüre

von Jörg Seidel -- Vor 33 Jahren wurde die Fatwa gegen Salman Rushdie, den Verfasser des bedeutenden Buches „Die Satanischen Verse“, verhängt.

Vor­ges­tern gab es den ver­mut­lich ers­ten erfolg­rei­chen Ver­such, sie durch­zu­füh­ren. War­um aber has­sen vie­le Mus­li­me den Mann und das Buch?

Ich habe die „Sata­ni­schen Ver­se“ gele­sen, als alle sie gele­sen haben – irgend­wann um das Jahr 1990 her­um – und außer der gran­dio­sen Ein­gangs­sze­ne, dem himm­li­schen Sturz der bei­den Prot­ago­nis­ten Gib­re­el Farish­ta und Sala­din Cham­cha und der Vor­stel­lung pesti­len­zia­li­schen Mund­ge­ruchs, ist mir nichts geblieben.

Kurz: das Buch blieb ein Rät­sel, die Suche nach der Fra­ge, wes­halb nun das gan­ze Thea­ter, blieb wei­test­ge­hend unbe­ant­wor­tet. Und ich habe mich gequält, wahr­lich gequält, die 500 Sei­ten zu bewäl­ti­gen. Das mag auch an der Über­set­zung gele­gen haben, denn nun, nach der Zweit­lek­tü­re, 25 Jah­re spä­ter und dies­mal auf Eng­lisch, ist mir mei­ne dama­li­ge Reak­ti­on unbe­greif­lich. Dies­mal habe ich es ver­schlun­gen! – ohne es voll­kom­men ver­stan­den zu haben. Aber doch ein biß­chen besser …

Was dem geüb­ten Leser sofort auf­fal­len soll­te, ist die wah­re Grö­ße die­ses Meis­ter­wer­kes. Rush­die schwelgt in der Spra­che und reizt die unend­li­chen Mög­lich­kei­ten des Eng­li­schen auf ganz phan­tas­ti­sche Wei­se aus. Es ist, als läse man ein epi­sches Gedicht, ein phi­lo­so­phi­sches Werk und einen End­los­witz zugleich.

Das Grin­sen will nicht aus dem Gesicht wei­chen ob der unge­zähl­ten herr­li­chen Bos­haf­tig­kei­ten gegen alle und alles, das Stau­nen fin­det kein Ende ob der uner­gründ­li­chen Tie­fen und des über­bor­den­den Wis­sens, die see­li­sche Befrie­di­gung ist immens, ob der ara­bes­ken Schön­hei­ten, der Sprach­wun­der, der kathe­dra­len Archi­tek­tur. Es ist ein Jahr­hun­der­t­ro­man in der Tra­di­ti­on eines James Joy­ce, eines Arno Schmidt, eines Bor­ges, eines Gogol …

Das alles darf man behaup­ten, auch wenn man das Unge­nü­gen der eige­nen Leser­schaft begreift. Um dem Buch bis in die feins­ten Kapil­la­ren fol­gen zu kön­nen, müß­te man nicht nur des Eng­li­schen tadel­los mäch­tig sein, müß­te man nicht nur wenigs­tens Grund­kennt­nis­se der indi­schen und ande­rer Spra­chen haben, man müß­te auch mit der Geschich­te Groß­bri­tan­ni­ens, Indi­ens, Paki­stans, Ara­bi­ens intim ver­traut sein, man müß­te Lon­don und Bom­bay gut ken­nen, man müß­te im Stoff ver­schie­dens­ter theo­lo­gi­scher, his­to­ri­scher und phi­lo­so­phi­scher Dis­kur­se meh­re­rer Reli­gio­nen – vor allem natür­lich des Islam – ste­hen, man müß­te die Welt­li­te­ra­tur überblicken.

Die Ein­stiegs­hür­de ist sehr hoch und schon an die­sem Punkt ahnt man, daß von den Mil­lio­nen auf­ge­reg­ten Pro­tes­tie­ren­den in aller Welt kaum ein ein­zi­ger das Buch gele­sen haben dürf­te, ja, daß selbst ein Aya­tol­lah Kho­mei­ni kaum geahnt haben dürf­te, was er da ver­bie­tet und über wen er die Todes­stra­fe verhängte.

Nun also ist die Zeit, das Buch noch ein­mal zu behan­deln, sich der „Rush­die-Affä­re“ zu ent­sin­nen, ihre Mecha­nis­men auf­zu­zei­gen, bren­nend aktu­el­le Fra­gen zu stel­len. Denn was 1988/89 geschah, ist die Blau­pau­se für meh­re­re Fol­ge­ka­ta­stro­phen gewor­den – von denen eini­ge noch in der Zukunft liegen.

Das Buch

Es sind drei wesent­li­che Erzähl­strän­ge zu unter­schei­den. Zum einen die Geschich­te der bei­den Prot­ago­nis­ten, indi­scher Schau­spie­ler, die nach einem Flug­zeug­ab­sturz die Iden­ti­tä­ten des Erz­engels Gabri­el und des Satans anneh­men. Zum zwei­ten die Geschich­te eines mit­tel­al­ter­li­chen ara­bi­schen Pro­phe­ten namens Mahound und drit­tens die Geschich­te einer wun­der­sa­men Pil­ger­wan­de­rung eines indi­schen Dor­fes, ange­führt durch eine Hei­li­ge mit dem Namen Ayesha.

Ver­bun­den wer­den die­se wech­seln­den Geschich­ten meist durch Träu­me. Das zu wis­sen ist wich­tig, denn was vie­le Mus­li­me als anstö­ßig emp­fan­den, sind letzt­lich Träu­me eines Geis­tes­kran­ken in einem fik­tio­na­len Werk. Schon die Namens­ge­bung zeigt Rush­dies Ziel­rich­tung: Es war der Erz­engel Gabri­el, der Moham­med den hei­li­gen Koran dik­tier­te; die Kreuz­fah­rer nann­ten den Pro­phe­ten abwer­tend Mahound („fal­scher Pro­phet“); Aye­sha war Moham­meds Lieb­lings­frau, die er als Sechs­jäh­ri­ge hei­ra­te­te und mit der er drei Jah­re spä­ter die Ehe voll­zo­gen haben soll.

Trotz­dem ist es viel­mehr ein moder­nes Buch, das die Fra­ge des Iden­ti­täts­ver­lus­tes durch Reli­gi­ons­ver­lust und Migra­ti­on eben­so the­ma­ti­siert wie die zuneh­men­de Belie­big­keit des Ichs in der post­mo­der­nen Welt. Es behan­delt die Fra­ge nach dem Sein des moder­nen Men­schen im Ange­sicht des Todes Gottes.

Das Pro­blem

Hät­ten die Mus­li­me das Buch ver­ste­hend gele­sen, dann wäre es ihnen mög­lich gewe­sen, es auch für eige­ne mis­sio­na­ri­sche Zwe­cke zu nut­zen. Anschei­nend war der Insult jedoch zu groß, um die pro­is­la­mi­schen, pro­re­li­giö­sen Unter­tö­ne ver­neh­men zu kön­nen und zu begrei­fen, daß hier ein Suchen­der hät­te viel­leicht auf­ge­fan­gen wer­den können.

Statt­des­sen arbei­te­te man sich an den „Belei­di­gun­gen“ ab. Derer gab es frei­lich meh­re­re. Da sind zuvör­derst die soge­nann­ten „Sata­ni­schen Ver­se“ – wie alles bei Rush­die hat die­ser Begriff eine viel­fa­che Bedeu­tung –, die auf eine kora­ni­sche Epi­so­de zurück­ge­hen. Dem­nach hat Moham­med – und die His­to­ri­zi­tät des Ereig­nis­ses wird all­ge­mein aner­kannt – sei­nen Anhän­gern die Anbe­tung drei­er paga­ner vor­is­la­mi­scher weib­li­cher Gott­hei­ten – Lat, Uzza, Manat – aus macht­stra­te­gi­schen Grün­den und nach gabrie­li­scher Offen­ba­rung gestat­tet, die­se Ord­re spä­ter aber als vom Satan ein­ge­flüs­ter­te wider­ru­fen (vgl: Sure 53 Vers 20ff.).

Es gab dem­nach einen tri­ni­ta­ri­schen Moment im frü­hen Islam, von dem der tra­dier­te Islam als stren­ger Mono­the­is­mus nichts wis­sen und auch nicht dar­an erin­nert wer­den will.

Des­wei­te­ren ist die Namens­ge­bung als sol­che pro­vo­ka­tiv, denn daß sich hin­ter Mahound Moham­med ver­birgt, ist offen­sicht­lich. Auch Moham­meds nächs­te Gefähr­ten spie­len eine oft unrühm­li­che Rol­le, und der Pro­phet selbst, so wird insi­nu­iert (und es ent­spricht evtl. sogar der his­to­ri­schen Wahr­heit), bekommt just jene Offen­ba­run­gen, die ihm in der jewei­li­gen poli­ti­schen Situa­ti­on am ehes­ten helfen.

Beson­ders anstö­ßig muß­ten Mus­li­me die legen­dä­re Bor­dell­sze­ne emp­fin­den. Dort neh­men die zwölf Huren des Freu­den­hau­ses in Jahi­lia (Mek­kas Name in vor­is­la­mi­scher Zeit) die Namen der zwölf Frau­en des Pro­phe­ten an, um den Umsatz anzu­kur­beln. Die blas­phe­mi­sche ero­ti­sche Vor­stel­lung belebt tat­säch­lich das Geschäft ungemein.

Rush­die wen­det hier einen cle­ve­ren para­doxa­len Psy­cho­t­rick an, ein sati­ri­sches Grund­mus­ter: Stel­le dir jetzt kei­nen blau­en Ele­fan­ten vor. Indem er den Huren die Namen der zwölf Frau­en des Pro­phe­ten gibt, zwingt er (mus­li­mi­sche) Leser, sich das Unvor­stell­ba­re vor­zu­stel­len: Die Vor­stel­lung erhitzt die Gemü­ter viel­leicht des­we­gen so stark, weil die eige­ne sexu­el­le Phan­ta­sie am Undenk­ba­ren erregt wird.

Wenig Gegen­lie­be dürf­te auch die Apo­sta­sie der Hel­den her­vor­ge­ru­fen haben, die laut Scha­ria die Todes­stra­fe zur Fol­ge hat. So stopft sich Gib­re­el Farish­ta etwa besin­nungs­los mit Schwei­ne­fleisch, Speck und Schin­ken voll, nach­dem ihm die Nicht­exis­tenz Got­tes auf­ge­gan­gen ist.

Wie wenig das Buch in mus­li­mi­schen Krei­sen bekannt war, zeigt auch der Vor­trag Ahmed Deedats. (Wer den intel­lek­tu­el­len Zustand der isla­mi­schen Welt in wei­ten Krei­sen begrei­fen will, der ist gut bera­ten, den welt­be­rühm­ten isla­mi­schen Fern­seh­pre­di­gern zu fol­gen, die eine immense Zuhö­rer­schaft haben.) Die graue Emi­nenz die­ser Gil­de war Ahmed Deedat.

Er ver­faß­te eine Schrift „How Rush­die foo­led the West“, in der er das Werk zer­stört zu haben mein­te. Sei­ne Haupt­ar­gu­men­te zeu­gen vom kom­plet­ten Unver­ständ­nis für Lite­ra­tur, vor aus­ver­kauf­ten Hal­len tour­te er um die Welt und zitier­te unter tosen­dem Bei­fall „uner­träg­li­che“ Schimpf­wör­ter wie „shit“ oder Laut­wör­ter und der­glei­chen. Gin­ge es danach, müß­te die hal­be Welt­li­te­ra­tur ver­bo­ten wer­den, und fast die gan­ze restliche …

Die Fat­wa

Lan­ge vor Kho­mei­nis Fat­wa zeich­ne­ten sich Pro­ble­me mit dem Roman ab – sie müs­sen als Vor­ge­schich­te ver­stan­den werden.

Schon befreun­de­te Lek­to­ren warn­ten Rush­die vor mög­li­chen Kon­se­quen­zen. Beim gera­de eröff­ne­ten indi­schen Able­ger des „Penguin“-Verlagshauses lehnt man die Über­set­zung und Druck­le­gung ab. Indi­en steht vor einer ent­schei­den­den Wahl und Rajiv Gan­dhi kann es nicht ris­kie­ren, die über 100 Mil­lio­nen Mus­li­me des Lan­des zu brüs­kie­ren. Zehn mus­li­mi­sche Län­der fol­gen bald, in Süd­afri­ka gelingt es der mus­li­mi­schen Min­der­heit, genü­gend Druck auszuüben.

Kaum ist das Buch in Groß­bri­tan­ni­en erschie­nen, gibt es in Lei­ces­ter und Brad­ford – Städ­ten mit gro­ßen mus­li­mi­schen Gemein­den – Mas­sen­pro­tes­te. Es kommt zu Auto­dafès, Rush­die-Stroh­pup­pen wer­den ver­brannt. Ein lang ange­stau­ter Frust bricht sich Bahn. Wie über­all wird auch hier das Buch instru­men­ta­li­siert. Gele­sen hat es ver­mut­lich kaum ein Demons­trant, die For­de­run­gen, es zu ver­bie­ten, wer­den trotz­dem mit aller Macht skan­diert. Dar­auf­hin zie­hen ers­te Buch­ket­ten das Werk zurück.

Die Ver­lei­hung des ange­se­he­nen Whit­bread-Awards im Novem­ber 1988 dürf­te noch ein­mal Öl ins Feu­er gegos­sen haben. Nun kommt es zu Mas­sen­pro­tes­ten und ers­ten Todes­dro­hun­gen – das Buch fun­giert als Kata­ly­sa­tor einer selbst­be­wuß­ter wer­den­den mus­li­mi­schen Kom­mu­ne. In Paki­stan gibt es der­weil die ers­ten Toten.

Erst jetzt, im Febru­ar 1989 schal­tet sich der Iran ein. Das Ende des Ira­nisch-Ira­ki­schen Krie­ges liegt weni­ge Mona­te zurück und lebt in innen­po­li­ti­schen Kon­flik­ten wei­ter, im Liba­non wer­den bri­ti­sche Gei­seln durch die schii­ti­sche His­bol­lah gehal­ten, die Bezie­hun­gen zu Groß­bri­tan­ni­en sind jung und mäch­tig ange­spannt, als der Aya­tol­lah die Fat­wa, das Todes­ur­teil gegen Rush­die und all jene, die an der Ver­brei­tung des Buches betei­ligt sind, ausspricht.

Eine Geist­li­che Stif­tung setzt eine Kopf­prä­mie von 1 Mio. Dol­lar aus. Rush­die ist nun Frei­wild. Die öffent­li­che Wir­kung ist umfas­send. Plötz­lich steht fast die gesam­te mus­li­mi­sche Sphä­re in Flam­men, Sun­nis und Schii­ten demons­trie­ren auf der gan­zen Welt, Wut und Haß in unvor­stell­ba­rem Aus­ma­ße wer­den gegen­über Rush­die, Groß­bri­tan­ni­en, den USA, der gan­zen west­li­chen Welt vor­ge­tra­gen und Isra­el sowieso.

Flag­gen bren­nen, Bücher bren­nen, Men­schen bren­nen. Ver­ein­zel­te kri­ti­sche Stim­men gehen in der Hys­te­rie unter oder wer­den zum Ver­stum­men gebracht. Der Wes­ten reagiert geschockt und verschüchtert.

Weni­ge Tage dar­auf bie­tet der ira­ni­sche Prä­si­dent Cham­ei­ni dem Autor an, sich zu ent­schul­di­gen, was die­ser umge­hend und offen­sicht­lich unter Schock ste­hend – er ist bereits unter Staats­schutz abge­taucht – auch tut. Aber erneut schal­tet sich Kho­mei­ni ein, indem er die Ent­schul­di­gung zurückweist:

Es ist die Pflicht jedes Mus­lims, alles, was er hat, ein­zu­set­zen, sein Leben und sei­nen Reich­tum, um Rush­die in die Höl­le zu schicken.

Nun zieht Groß­bri­tan­ni­en sei­nen erst seit weni­gen Mona­ten in Tehe­ran sta­tio­nier­ten Bot­schaf­ter zurück und bricht die diplo­ma­ti­schen Bezie­hun­gen zum Iran ab. Der wie­der­um wei­tet die Fat­wa auf muti­ge Jour­na­lis­ten aus. Die bri­ti­sche Regie­rung distan­ziert sich nun vom Buch, fin­det es „belei­di­gend“, ent­schul­digt sich bei den Mus­li­men und zieht sich auf die Mei­nungs­frei­heit zurück. Die Gei­sel­ver­hand­lun­gen sind nun auf Eis und dro­hen mit der Kata­stro­phe zu enden.

In Bel­gi­en wird das geis­ti­ge Ober­haupt der mus­li­mi­schen Gemein­de ermor­det – er hat­te sich gegen die Fat­wa aus­ge­spro­chen. In Eng­land kommt es zu Stra­ßen­schlach­ten, Über­set­zer und Her­aus­ge­ber in ande­ren Län­dern wer­den ermor­det oder angegriffen …

Im Juni 1989 stirbt Kho­mei­ni. Nie­mand wagt die Fat­wa auf­zu­he­ben, sie erhält damit Per­ma­nenz. Der ira­ni­sche Prä­si­dent Raf­sand­scha­ni bekräf­tigt stattdessen:

Was Aya­tol­lah Kho­mei­ni sag­te, war eine Vor­schrift der Scha­ria und nicht sei­ne per­sön­li­che Mei­nung. Es gibt nie­man­den im Iran, der die­se Vor­schrift zurück­neh­men woll­te oder könnte.

Ein offen­sicht­lich ent­nerv­ter Rush­die gibt sei­ne Kon­ver­si­on zum Islam bekannt, erfährt jedoch wenig Unter­stüt­zung. Selbst alte Freun­de wen­den sich von ihm ab. Wenig spä­ter wird er die Kon­ver­si­on als Feh­ler begreifen:

Ever sin­ce I made my com­pro­mi­se with the Mus­lim scho­lars I’ve been fee­ling sick, sick at heart and in my sto­mach. This isn’t me. … One of the mul­lahs I met with is on TV, vili­fy­ing homo­se­xu­als. One of the scho­lars I met with has writ­ten an artic­le say­ing it is okay to slap your wife if she is dis­o­be­dient. What have I done?

Erst 1998 wird die Fat­wa vom ira­ni­schen Staat auf­ge­ho­ben. Wikipedia:

Im Febru­ar 2016 mel­de­te die ira­ni­sche Nach­rich­ten­agen­tur Fars, daß vier­zig staat­li­che ira­ni­sche Medi­en zum Jah­res­tag der Fat­wa das Kopf­geld für den Tod Rush­dies um 600.000 Dol­lar – auf ins­ge­samt mitt­ler­wei­le fast 4 Mil­li­on Dol­lar – erhöht hatten.

Die Fra­gen

Man hät­te sich die Aus­führ­lich­keit spa­ren kön­nen, wenn das The­ma nicht hoch­ak­tu­ell wäre. Es gibt erschre­cken­de Par­al­le­len zur soge­nann­ten Moham­med-Kri­se, als 2005 ver­schie­de­ne Kari­ka­tu­ren des Pro­phe­ten in einer däni­schen Zei­tung zu welt­wei­ten Hys­te­rien führ­ten. Seit­her wis­sen wir, daß der modus ope­ran­di sich jeder­zeit wie­der­ho­len oder, wie bei „Char­lie Heb­do“, auch radi­ka­li­sie­ren kann.

Einer­seits erweist sich die mus­li­mi­sche Welt, der „real exis­tie­ren­de Islam“ (Rush­die), als kon­di­tio­nier­bar und damit erpreß­bar, ande­rer­seits beweist sie in wei­ten Tei­len ihre Zivi­li­sa­ti­ons­fer­ne, sofern man Zivi­li­siert­heit als Affekt­be­herr­schung ver­steht. Einer wei­test­ge­hend buch- und buch­sta­ben­gläu­bi­gen Kul­tur fällt es offen­bar schwer, lite­ra­ri­sche und fik­tio­na­le Tex­te als sol­che zu ent­zif­fern, den Fik­tio­nen­ver­trag, der am Anfang eines jeden Kunst­wer­kes als Selbst­ver­ständ­lich­keit steht, einzugehen.

Aber auch für den Wes­ten steht viel auf dem Spiel. Er ist eben­so erpreß­bar gewor­den. Die Angst sitzt den west­li­chen Län­dern tief in den Kno­chen, eine Angst, die das höchs­te west­li­che Gut – die Mei­nungs­frei­heit – immer öfter und oft auch im vor­aus­ei­len­den Gehor­sam – in Fra­ge stellt. Ver­schwän­de das Recht auf die freie Mei­nungs­äu­ße­rung, dann wäre das Pro­jekt Auf­klä­rung end­gül­tig geschei­tert und mit ihm jeg­li­che Form der Demokratie.

Wür­de heu­te – es wäre wich­ti­ger denn je – noch jemand ein sol­ches Buch wagen? Wür­de es einen Ver­lag finden? …

Bei­den Sei­ten ste­hen schwe­re Lern­auf­ga­ben bevor. Der Wes­ten muß vor allem sei­ne Nai­vi­tät und sein ekla­tan­tes Unwis­sen able­gen, die sich exem­pla­risch in Gün­ter Grass‘ Brief an Rush­die aussprechen:

Jesus Chris­tus lieb­te Pro­vo­ka­tio­nen; wes­halb ich auch sicher bin, daß jener Mann namens Moham­med, der uns als Pro­phet über­lie­fert ist, die Roma­ne des Schrift­stel­lers Sal­man Rush­die und ins­be­son­de­re die Sata­ni­schen Ver­se mit Ver­gnü­gen gele­sen hätte.

Ob wir wol­len oder nicht, wir müs­sen uns mit dem Islam all­um­fas­send und affekt­frei aus­ein­an­der­set­zen, denn nur nach die­ser all­um­fas­sen­den Aus­ein­an­der­set­zung wird es mög­lich sein, die frei­heit­li­che Posi­ti­on zu ver­tei­di­gen und die intrin­si­schen Schwie­rig­kei­ten die­ser Reli­gi­on zu begrei­fen und bewer­ten zu können.

Selbst gut­ge­mein­te Ver­tei­di­gun­gen wie die des ser­bi­schen Schrift­stel­lers Dra­gan Veli­kic, der in den Sata­ni­schen Ver­sen ein Buch sieht, „in dem kein ver­nünf­ti­ger Mensch eine Häre­sie fin­den kann“, müs­sen durch­schaut wer­den, denn ob Häre­sie oder nicht: Es gilt, unser Recht auch auf Häre­si­en zu ver­tei­di­gen! Was, so muß man sich doch fra­gen, geht es meist illi­te­ra­te Mus­li­me in Paki­stan an, ob Ex-Mus­lim Sal­man Rush­die in Eng­land ein Buch schreibt oder Nicht-Mus­lim Kurt Wes­ter­gaard in Däne­mark eine Kari­ka­tur zeich­net oder ob in Chi­na ein Sack Reis umfällt?

Dank der vie­len Stei­ne, die man Rush­die in den Weg leg­te, wur­den die Sata­ni­schen Ver­se das, was sie ver­die­nen: ein Best- und Longseller

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Kommentare (30)

RMH

15. August 2022 16:14

Ein wirklich guter Beitrag - der Mainstream berichtet kleinlaut und freut sich, dass es Rushdie schon wieder besser geht und er erste Scherze mache. Richtige Hintergrundinformation erfolgt aber wieder einmal hier, auf den Seiten der sog. Staatsverächter. Auch in der deutschen Übersetzung (Hand aufs Herz - wer hat eine Ausgabe seit Jahrzehnten im Schrank und sie zu Ende gelesen? Der Artikel gibt es gut wieder, warum man das Buch oft nach einem grandiosen Einstieg irgendwann weg gelegt hat) bekommt man die Wucht der Sprachgewalt Rushdies durchaus vermittelt. Mahound enthält das Wort "Hound", was die im englischen Alltag weniger übliche Alternative für dog, also Hund, ist. Hunde sind im Islam nicht beliebt (unrein?). Moha-Hund also. Wer weiß, wie kurz die Sicherungen bei vielen Moslems sind, wird nachvollziehen können, dass alleine das ausreicht, um sie hoch gehen zu lassen. Das Christentum ist seit mindestens 150 Jahren in der Tat anders, oder hat schon mal wer was von einem Todesbann wegen Christusbeleidigung gehört?

quarz

15. August 2022 17:33

Dass der Islam von Politik und Medien so hofiert (und nicht wie eine seltsame Sekte behandelt) wird und dass seine Botschaft mit den absurdesten hermeneutischen Verrenkungen bis zur Unkenntlichkeit verdreht und in ein politisch erwünschtes Licht der Verträglichkeit gezerrt wird, liegt ja nicht daran, dass seine Lehre Bewunderung und Respekt einflößt, sondern daran, dass diese Religion historisch so viel machtpolitischen Einfluss ausgeübt hat und die gesellschaftspolitischen Zügelhalter die Hosen gestrichen voll haben angesichts dessen, was sie erwarten, wenn die immer zahlreicher Europa kolonisierenden Anhänger dieser Religion gereizt werden und ihre inzwischen erlangte demographische Macht nutzen, um auf mangelnde Bereitschaft zur Unterwerfung zu reagieren.

Umlautkombinat

15. August 2022 18:01

"Verschwände das Recht auf die freie Meinungsäußerung, dann wäre das Projekt Aufklärung endgültig gescheitert und mit ihm jegliche Form der Demokratie."

Das sehe ich nicht so. In gewisser Weise das Gegenteil. Aufklaerung selbst ist ja keine Aussage ueber Meinungsaeusserung, sondern ueber Erkenntnisfaehigkeit. Sonst wuerde Kant fordern die Stimme zu trainieren, statt die Guete des eigenen Verstandes. Das ist aus verschiedenen Gruenden keine Polemik. Kant selbst hatte noch einen grossen Gegner im Auge: die Kirche, auch Religion selbst. Da brauchte es noch den Mut aus seinem bekannten Satz. Eine meiner ersten Erfahrungen in der BRD war die der Beliebigkeit des Wortes. Geschwafel, egal. Luege, egal. Manche Intellektuelle der DDR sind daran regelrecht zerbrochen. Auch - und oft gerade - wenn Gegner des Regimes, konnten sie sich trotzdem Wertschaetzungen oder "Wertschaetzungen" sicher sein. Diese fielen dann unmittelbar weg.

Jetzt ist es wieder so, das Wort zaehlt und wird bekaempft, auch in der Breite. Es braucht Mut, Verstand und auch oefter und von viel mehr bisher unbetroffenen Leuten auch im Alltag Charakter. Die Gegner sind hochgeruestet mit Mitteln, die vor 30 Jahren unvorstellbar waren. Meinung allein unterliegt den Mitteln der Manipulation nahezu vollstaendig. V.a.D. dem Gesetz der grossen Zahl, dem "Konsens". Das zu durchbrechen, dafuer braucht es eigenstaendiges Denken, gerade weil das in der Minderheitsposition ist.

Rushdie kollidiert mit der alten Form, die im Christlichen wohl schon zu Zeiten Kants kaum mehr relevant war. Ketzer durften zumindest schon weiterleben.

Ein Fremder aus Elea

15. August 2022 18:01

For if the reality had perished, yet the name of philosophy still seemed magnificent and admirable to those who held the highest offices in the community. So then once it happened that Cyril who was bishop of the opposing faction, passing by the house of Hypatia, saw that there was a great pushing and shoving against the doors, "of men and horses together," some approaching, some departing, and some standing by. When he asked what crowd this was and what the tumult at the house was, he heard from those who followed that the philosopher Hypatia was now speaking and that it was her house. When he learned this, his soul was bitten, so that he immediately plotted her death, a most unholy of all deaths. For as she came out as usual many close-packed ferocious men, truly despicable, fearing neither the eye of the gods nor the vengeance of men, killed the philosopher, inflicting this very great pollution and shame on their homeland. And the emperor would have been angry at this, if Aidesios had not been bribed. He remitted the penalty for the murders, but drew this on himself and his family, and his offspring paid the price.

Damaskios, letztes Oberhaupt der platonischen Akademie, zum Thema Wut, Korruption und Vergeltung: Wut entspricht der göttlichen Ordnung, Zivilität legt sich korrumpierend über sie und die Vergeltung entspricht der Differenz zu ihr. Mit anderen Worten: Ein Recht auf irgendwelche Experimente gibt es nicht.

tearjerker

15. August 2022 18:02

Es geht dabei wohl kaum um literarische Aspekte. Die Stichworte sind: falscher Ort, falsche Zeit, mangelnder Überblick trotz Abgehobenheit und mangelnde Reife. Dumm gelaufen und Pech noch dazu.

Auf Sehrohrtiefe

15. August 2022 19:56

Guter Beitrag mit Tiefgang, bis auf den letzten Absatz.

Ich habe weder Sympathien für Rushdie noch für den Attentäter. Rushdie erscheint mir ein perfektes Beispiel eines verwestlichten Intellektuellen, der sich in seiner Brillanz sonnt und dabei die Gefühle und den Glauben anderer durch den Dreck zieht, weil diese ihm schlicht egal sind. Man könnte sagen, er ist ein pseudoliberaler Westler, wie ihn die US-dominierte Unkultur unserer Zeit gerne überall auf dieser Welt haben möchte: ein borniertes, selbstbezogenes Nichts.

Dem gegenüber steht das, was als primitiv abgetan wird und dieses Buch angeblich weder liest noch versteht, doch ahnt, daß hier eine Grenzüberschreitung zum eigenen Nachteil stattfindet. Das rechtfertigt in diesem Fall aus meiner Sicht noch keine Gewalt, aber verteidigen muß ich hinsichtlich der Vorgehensweise Rushdies und den Folgen seines Tuns rein gar nichts, und solidarisieren mit ihm muß ich mich auch nicht. Dieses Buch ist überflüssig wie nur irgendetwas, ebenso wie die Geisteshaltung, für die es steht (und, nein, meine Sympathien für den Islam gehen gegen null, aber nur weil ich den Islam kritisiere, muß ich dieses Buch nicht verteidigen).

der michel

15. August 2022 21:13

waren die märchen aus "1001er nacht" noch ein stück kultur aus einem fremden 

kulturkreis, so sind die "satanischen verse" lediglich eine verquastete travestie

aus eben demselben, ganz klar geschrieben, um im "westen" aufzufallen (und ab-

zukassieren).

herr rushdie hat sich nur verkalkuliert - nicht was das letztere im völlig vertrottelten

"westen" angeht, sondern was die toleranz der ayatollahs etc. angeht.

(...)
ansonsten: chapeau, herr quarz.

 

dojon86

15. August 2022 22:09

@quarz Ich besuchte in der ersten Hälfte der 80ger Jahre eine Universitäre Lehrveranstaltung über Demographie und Geschichte. Schon damals prophezeite einer der beiden Lehrveranstaltungsleiter, es handelte sich übrigens um einen echten Emigranten, ethnischen Perser und Kommunisten die kommende Völkerwanderung. So etwas konnte man damals auf einer Universität noch sagen ! Seitdem ist nichts geschehen, um das zu verhindern. Jetzt ist nichts mehr zu ändern. Die westlichen intellektuellen, deren wesentlicher Charakterzug die Feigheit ist, werden das Zeichen, das durch das Attentat gesetzt wurde, verstehen, und künftig bei bestimmten Themen äußerste Zurückhaltung üben.

Adler und Drache

15. August 2022 22:59

Vielen Dank für diesen Überblick zu einem Werk, von dem ich bisher keinerlei Ahnung hatte!

Zum Thema "Fiktionsvertrag" allerdings ein Einwand: Verstehen es Rushdies Feinde nicht genau richtig? Sehen Sie, mich ärgert es auch, wenn Leute von unserer Seite durch den Dreck gezogen werden, und dann heißt es: "Kunst" oder "Ironie". Ich sehe schon ein, dass bei Rushdie die Verhältnisse anders liegen, nämlich durchaus wie bei uns: Da bietet ein Einzelner dem Kollektiv die Stirn, da ist es vielleicht Klugheit, ironisch zu verklausulieren. Man schafft sich einen doppelten Boden und kann immer sagen: "War nicht so gemeint", aber der Betreffende spürt in der Regel doch, dass es genauso gemeint war. In der Position des Unterlegenen ist das gerechtfertigt, aber wenn ich ein Buch schreiben wollte, ohne die Speerspitze gegen den Feind zu richten, wäre es nicht nötig, einen Vorhang aus Kunst und Ironie vor der Speerspitze zu drapieren.  

Gracchus

15. August 2022 23:36

Scheußliche Tat.

Warum aber der "vermutlich erste erfolgreiche Versuch"? Wenn das Ziel ist, Rushdie zu töten, kann es nur einen erfolgreichen Versuch geben.

Ich habe noch nichts von Rushdie gelesen, nur bei Freunden in die Mitternachtskinder reingelesen; irgendwie hat sich mir anhand der Rezensionen zu seinen letzten Büchern und gewissen Statements der Eindruck eines den magischen Realismus verramschenden, eine fade Aufklärung vertretenden Autors vermittelt. Wenn Rushdie mit märchenhaften und magischen Elementen spielt, aber zugleich ein Weltbild vertritt, in der dergleichen nicht vorkommt - stimmt mich das skeptisch.

Seidels enthusiastische Besprechung gibt Anlass, das zu ändern bzw. zu überprüfen. 

Die Tradition Joyce - Schmidt - Borges - Gogol scheinen mir zwei zu sein. Borges z. B. hat nie einen Roman geschrieben, und seine Sprache ist klassisch. Arno Schmidt ist so eine Sache; mich hat er nie so recht begeistert.

 

kikl

16. August 2022 00:15

Ein gut geschriebener Beitrag. Nur scheint mir der Autor, die muslimischen Geistlichen zu unterschätzen, wenn er meint, dass hier Muslime aufgrund mangelhafter Affektbeherrschung eine Todesstrafe aussprechen. Die Muslime werden schon gemerkt haben, dass ihr Prophet und ihre Religion verspottet wurden.

Die Schariah hat mehrere Gesetzesquellen, neben dem Koran ist die Sunna Gesetzesquelle, also die Worte und Taten Mohammeds. In diesem Fall orientieren sich die muslimischen Gelehrten daran, wie Mohammed auf Spott reagiert hat. Denn der Prophet gilt bekanntlich als Al-Insan al-Kamil, d.h. als vollkommener Mensch. 

Mir fällt in diesem Zusammenhang jedenfalls das Schicksal von Asma bint Marwan ein:

"Asmāʾ bint Marwān (...) war eine jüdische Dichterin, die in der islamischen Historiographie im Zusammenhang mit ihrer Opposition gegen Mohammed aufgeführt wird und aufgrund eines von ihr verfassten, gegen den Propheten und seine Anhängerschaft gerichteten Schmähgedichts getötet wurde."

https://en.wikipedia.org/wiki/Asma_bint_Marwan

Daher ist es aus islamischer Perspektive folgerichtig, die Todesstrafe für Salman Rushdi auszusprechen. 

Ich lehne das natürlich ab. Aber es bringt nichts so zu tun als ob das eine Aberration im Affekt wäre. Das ist es nicht. Das ist einfach Islam.

Maiordomus

16. August 2022 00:20

@Sehrohrtiefe. So, wie Sie über Rushdie schreiben, müssten Sie indes auch Voltaire ähnlich ablehnen, seinerzeit mit dem Index der verbotenen Bücher in der westlichen Welt eher belohnt als bestraft. Voltaire, der ehemalige Jesuitenschüler, hat aber seine Gegner weithin besser verstanden  als diese ihn. 

RMH

16. August 2022 07:18

Ein Beitrag wie der von @Sehrorhtiefe darf in so einer Debatte natürlich nicht fehlen, liegt er doch dem "Pack schlägt sich, Pack verträgt sich" Verhalten der westlichen Kirchen nah, die immer Respekt für Glaubensdinge einfordern, gerne für die des Islam, weil sie selber für ihren eigenen Glauben keinen Respekt mehr durchsetzen können. Da kommt eine insgeheime Bewunderung für die harten Kerle durch, die für ihren "Glauben" nicht nur sterben (das darf man als Christ auch noch mit kirchlichem Segen) sondern auch töten und damit Respekt nicht durch Argumente sondern durch Einschüchterung erzeugen.

Im Bereich der Literatur gibt es unzähliges, was man abgeschmackt, daneben, beleidigend etc. etc. finden kann. Das schöne an Büchern ist, dass man sie zuschlagen und weglegen kann und in unseren Breiten besteht auch kein Lesezwang. Und diese Werte verteidigt man, wenn man sich für Rushdie einsetzt und nicht den Inhalt seiner Bücher (Abstraktion fällt aber meistens schwer).

@Sehrohr, auf den üblichen neurechten Schlagwort-Schmarrn der pseudoliberalen-USA-dominierten "Unkultur" kann man nur kommen, wenn man keine Seite von den S.V. gelesen hat. Wenn man es nicht gelesen hat, sollte man mit dem Abladen seiner kleinen Schubladenwelt etwas zurückhaltender sein. Aus den S.V. tropfen Mumbai und Cambridge aus allen Poren - aber nicht die USA.

quarz

16. August 2022 09:47

@kikl

"Das ist einfach Islam"

Eben. Solange der verzweifelte Versuch der Harmoniesüchtigen, all die negativen Aspekte des Islam als Auswüchse einer Entartung ("Islamismus") hinzustellen, nicht als Selbstbetrug erkannt wird, sind alle Ansätze, mit dieser Religion umzugehen, nur Quacksalberei.

Gotlandfahrer

16. August 2022 11:02

Danke für diesen hochinteressanten und informativen Beitrag.  An dem Rushdie-Thema zeigt sich wohl unser ganzes Problem mit dem Islam: Obwohl muslimische Länder auch Kultur und kluge Köpfe hervorgebracht haben, ist durch die Gleichzeitigkeit von Bevölkerungsexplosion der dortigen Unterschichten und der modernen technischen Reichweite ein Vereinfachungsdruck auf die dortigen Eliten entstanden, der sich angesichts unserer gegenläufigen Implosionsentwicklung prächtig in unsere Richtung entladen lässt. Gut daran ist, dass es Doppelmoral, Lügen und Widersprüchlichkeit der westlichen Herrschaftsnarrative bloßstellt.  Nur die Konsequenzen daraus müssen noch gezogen werden.

Carl Sand

16. August 2022 11:24

Isläm, Klima und Corona scheinen ein tiefsitzendes Bedürfnis nach Puritanismus zu befriedigen. Möge die Medizin den Ingeborgs und Horst-Güntherchens wohl schmecken. 

Maiordomus

16. August 2022 12:01

@quarz. Meine ersten Begegnungen mit dem Islam waren ab 1956 Karl May, auch die Märchen von 1001 Nacht, als Gymnasiast Goethes "West-östlicher Divan" mit den besonders wertvollen Noten und Abhandlungen dazu, liess mich darüber an Abitur prüfen, mit ergänzender Lektüre des Schweizer Arabisten Fritz Meier. Insofern habe ich mir das noch Positive zum Beispiel des Sufismus nie nehmen lassen, auf dieser Grundlage interessante und mich weiterbringende Gespräche zu führen vermochte mit dem sowohl nach links wie nach rechts zuweilen extrem ausschweifenden Ahmed Huber, der im Schweizer Fernsehen 1989 bei einer Debatte um Salman Rushdie und die berüchtigte Fahtwa seinen Gegnern Frank A. Meyer und Adolf Muschg noch stark Paroli bot, nicht zuletzt mit dem Hinweis, dass die Toleranz flächendeckend überall dort aufhöre, auch bei den Toleranten, wo man seine eigenen höchsten Werte in Gefahr sehe. 

heinrichbrueck

16. August 2022 12:38

"Das ist einfach Islam."
Das ist einfach Zuwanderung. 
Außerhalb realer Machtverhältnisse sind alle Diskussionen Makulatur. 
Hadi Matar (Libanese) sticht auf Salman Rushdie (Inder) ein. Der Islam hat die USA nicht erledigt. Das weiße Amerika ist Geschichte. Auswanderungsmöglichkeiten bestehen noch. 

quarz

16. August 2022 12:52

@Maiordomus

Die positiven Aspekte, die Sie aufzuspüren bemüht sind, erscheinen mir eher Früchte der Kultur als der Religion zu sein. Und bemerkenswerterweise sind sie vorzugsweise dort anzutreffen, wo eine skeptische Distanz zum religiösen Kern des Islam vorhanden ist.

Mir ging es aber um des Kerngerüst der islamischen Lehre, wie es sich dem Durchschnittsmoslem aufdrängen muss und nicht dem Dichterfürsten in seiner noblen Klause oder mystisch angehauchten Ordensleuten, die wenig unter Verstrickungen in das nach islamischen Normen geprägte Sozialgefüge zu leiden haben.

Als Problem bleiben ein politischer Weltherrschaftsanspruch und religiöse Normen, die sich aus dem überlieferten Verhalten eines als makelloses Vorbild geltenden Propheten ableiten, der charakterlich nicht den besten Eindruck hinterlässt.

Volksdeutscher

16. August 2022 13:13

Warum die Linken so eine starke Sympathie für den Islam haben, dürfte mitunter mit der ihnen beiden gemeinsamen Moral samt den primitiven Instinkten zu tun haben: "Willst du nicht mein Bruder sein, so haue ich dir den Schädel ein." Man darf sich auch fragen, was CDU-ler motiviert, sich mit dem Islam zu verbünden und wie in Wuppertal, die Aufstellung einer Scharia-Polizei zu genehmigen.

dojon86

16. August 2022 13:42

@RMH "Aus den Zeilen der Satanischen Verse trieft nicht die US amerikanische Populärkultur sondern Mumbai und Cambridge. Dem stimme ich zu aber sehe in Cambridge nur die Oberschichtvariante der angelsächsischen Dominanz. Und ich lehne auch diese Oberschichtvariante ab. Nicht weil sie an sich so abzulehnen wäre, sondern weil auch sie nach zumindest ideologischer Weltherrschaft strebt. Was ich übrigens ebenso beim Islam ablehne.

Hesperiolus

16. August 2022 15:07

(1)

Welchen Stellenwert hat diese Attacke auf einen blasierten Zivilisationsliteraten in meiner Gegenwartsperzeption? Ein bedauerlicher Vorfall, alltäglicher, einer unter unzähligen im Irrenhaus Welt, und ich bedauere ihn, unter diesen vielen, nicht weniger als die Untat an einer beliebigen Arbeiterin in Hyderabad und mehr nicht. Die Umstände, der Täterhintergrund, pathologische Dispositionen sind noch unklar. Im Grunde interessieren sie nicht. - Auf SiN führt er erstaunlich zu einer sich als Lektüreempfehlung lesenden Hommage, die allerdings irritiert, wenn auf „Meinungsfreiheit“ als „höchstes westliches Gut“ und gradezu masonisch ein „Projekt Aufklärung“ verwiesen wird.

Hesperiolus

16. August 2022 15:08

(2)

Dann lese ich sogar die Vokabel „freiheit-lich“. Ein eigenartiges Wort, mit dem etwas nicht stimmt. War es Josef Pieper, der sich darüber mokiert hat? „Freiheit-lich“? - „Schönheit-lich“? Was soll das. - Und warum Rushdie lesen? Vielleicht doch seelenlose Nervenkunst für späte Weltstädter, zweifellos elaboriert und intelligent - „Grinsen“ erregend? Artisans eines globalistischen taediums? Egal ob ich der Kubitschekschen Lesedoktrin des „multum, non multa“ oder der entgegengesetzten Kositzaschen des „multa, non multum“ folge, sehe ich keinen Grund, solange ich mich nicht durch „Finnegans Wake“ gequält oder als gebildeter Abendländer Mignes Patrologia durch oder den „Nachsommer“ zum fünften Mal gelesen oder zu Vehses Hofgeschichten gegriffen habe. Geschweige, die interessanteren Ostasiaten wie Mishima. - Es ist wohl nicht der Anlaß, takt-physiognomische Idiosynkrasien und persönliche Eindrücke, gar Ausführungen zum anglophilen Indertum der Medienerscheinung Rushdies, dekadenter Existenzen, die zusammen mit Julian Huxley und John Lennon von drogierten Nackttänzen in ihren Luxuslogen oder um die nunmehr ekrasierten Georgia Guidestones träumen,hier anzubringen. - Aus den Kommentaren sei „Sehrohrtiefe“ gedankt, einer Reaktion gradezu aus „altsezessionistischer“ Sphäre. - Womöglich hätte ich dazu auch einfach lieber M. Lichtmesz gelesen. - Je ne suis pas Salman. Überlassen sie ihn der GBS, da gehört er hin.

 

Maiordomus

16. August 2022 15:14

@quarz. Was Sie sagen, stimmt, auch wenn man das bei uns einst in Klosterschulen vermittelte humanistische und musische Wissen ("Verstehen, was man singt" in einem didaktischen Standardwerk von 1317) mit Bigotterien des  historisch realen Alltagskatholizismus vergleicht. Was Sie entsprechend über den Islam ausführen, würde ich nicht in Abrede stellen. Bestätige Ihnen ausserdem, was Sie andeuten, gemäss einem 1990 geführten  Gespräch mit einem fundamentalistischen Schiiten. Er warnte mich davor, Gelehrte wie Avicenna, Razes, gar Averroes und andere aus meiner Sicht hochintellektuelle  Muslime einer kulturellen Blütezeit zu überschätzen, das sei nicht mehr der neueste Stand. Heute gäbe es viel bessere muslimische Gelehrte, zu denen dann prompt der Imam Ajatollah Ruholla Chomeini gezählt wurde. Von dem selben las ich dann eine Art Mao-Büchlein mit Merksätzen, etwa zur Bibel und zu Platon, die vielfach hinter das Niveau der mittelalterlichen muslimischen Aristoteliker zurückgefallen waren: aus meiner Sicht eine arge sektiererische Vulgarisierung, gerade noch vergleichbar mit besonders fundamentalistischen amerikanischen jüdisch-christlich orientierten Sekten. Immerhin ist das nicht der Standard vorhandener Ansätze zu einem aufgeklärten Islam. Diese Ansätze dürfen aber nicht überschätzt werden.

Maiordomus

16. August 2022 17:22

@Hesperiolus. Bei Rushdie geht es zwar um Meinungsfreiheit, aber gewiss nicht nur um Geschwätzfreiheit. Er testete für den über die Welt ausgestreuten Islam, was christliche Vorgänger wie Boccaccio, Giordano Bruno, Serveto bis Voltaire längst auf unterschiedlichem Niveau  mit unterschiedlichem Risiko in ihrem damaligen Kulturkreis "ausprobiert" hatten, und solches ist nun mal, als Kulturattacke eines Täters, nicht mit einer beliebigen "Untat" einer Arbeiterin in Hyderabad zu verwechseln. Es herrscht, auf verschiedenen Ebenen, Kulturkampf. Um den man sich nun mal nicht drücken kann; siehe auch alles, was mit "cancel culture" zu tun hat. Von "Hammer oder Amboss sein", dichtete diesbezüglich mal Goethe.  

Kurativ

16. August 2022 19:23

Wenn das Teil ähnlich erquickend ist wie das von James Joyce, dann kann ich gerne auf dieses Geschäftsmodell verzichten. Ulysses war die angelsächsische Zeitverschwendung meines Lebens. Danach habe ich endgültig keine Prosa mehr angefasst. Positive Rezensionen solcher Literatur scheint als Ursache eine Art Stockholmsyndrom zu haben, bei dem das zuvor Erlittene post mortem positiv umgewertet werden musste. Unvermeidlich auch die darin enthaltenen schwanzgesteuerten Passagen für die Massen.

Kurativ

16. August 2022 19:33

Der Text Artikel bietet eine erste gute Einführung. Es werden verschiedene Aspekte beschrieben.

Ein Aspekt wird hier aber verschwiegen: Die aktuellen Atom-Verhandlungen der USA mit dem Iran.

Je nach Motivlage fallen einen hier verschiedene Erklärungsansätze ein. Einen Zufall würde ich hier ausschließen. Dafür ist die Zeitspanne ohne Anschlag viel zu groß.

Gracchus

16. August 2022 21:18

Ob Rushdie nun seelenlose Nervenkunst fabriziert oder nicht, vermag man ja erst beurteilen, wenn man ihn gelesen hat. 

Was ich aber an Artikel etwas schief finde, dass wir uns allumfassend mit dem Islam auseinandersetzen müssten, um unsere freiheitliche Position zu verteidigen und die intrinsischen Schwierigkeiten zu begreifen und bewerten zu können.

"Wir" kennen oftmals nicht die Religion, die unseren Kulturkreis vormals geprägt hat. Zu meiner "freiheitlichen Position" gehört zunächst, dass ich es auch ablehnen kann, mich mit dem Islam beschäftigen zu müssen. Ganz unabhängig von irgendwelchen "intrinsischen Schwierigkeiten" sind solche Messerattacken inakzeptabel. 

Ich sehe das eher so: "Der Feind ist die eigene Frage als Gestalt." Oder: Sag, wie hast du's mit der Religion. Gibt es im Westen noch etwas, was uns heilig ist?  

 

kikl

17. August 2022 07:08

Wer sich für die historischen Ursprünge des Islams interessiert und/oder für den real existierenden Islam heute, dem empfehle ich die Videos des christlichen Predigers Jay Smith auf Pfander films.

Hier ist seine Besprechung des Mordanschlags auf Salman Rushdie:

https://www.youtube.com/watch?v=eEAUAG0efuE

Jay Smith kritisiert den Islam vor allem aus christlicher Perspektive, daran darf man sich nicht stören. Der Koran hat viele christliche Quellen, was das Studium des Islams auch für Christen interessant macht. 

Dann lässt Jay Smith auch unorthodoxe Stimmen zu den Ursprüngen des Islams zu Wort kommen. Denn diese Ursprünge sind aus vielerlei Gründen sehr sehr dunkel.

Faszinierend ist beispielsweise die Deutung der Inschrift des Felsendoms in Jerusalem als christliche Häresie durch Christoph Luxenberg. Die Inschrift beschäftigt sich ausführlich mit christologischen Fragen:

http://inarah.de/wp-content/uploads/2015/08/Felsendom-08.pdf

Muhammad wird als Titel aufgefasst mit der Bedeutung der Gepriesene. Der Gepriesene ist Jesus Christus (der gesalbte bzw. der Messias) = Gepriesen sei, der da kommt in Namen des Herren (das berühmte Benedictus).

Mohammed ist im Islam vor allem der Bote (Rassul) Gottes, der im Namen Gottes eine Botschaft an die Menschheit überbringt.

In diesem Video wird mit Lloyd de Jongh besprochen unter welchen Umständen Totschlag im Islam erlaubt und geboten ist:

https://www.youtube.com/watch?v=O_ULJheEdiI

Maiordomus

17. August 2022 08:00

@Kurativ. James Joyce, in Zürich begraben, nunmehr in Nachbarschaft von Elias Canetti, kann mit seinem "Bloom" vielfach als Zumutung für den Leser wahrgenommen werden. Eigentlich kein Vergleich mit seinem wirklichen Meisterwerk "Die Toten", aus "Dubliners", einzigartig verfilmt von John Huston in seinem letzten Oeuvre, schauen Sie sich nur mal die Schluss-Sequenz an! . Ausserdem erzählte Joyce für seinen in Zürich lebenden Enkel noch ganz vorzüglich die Sage von der Teufelsbrücke auf dem Weg zu St. Gotthard. Die Frage ist, ob Sie @Kurativ, dafür Leser von Dante und Boccaccio (letzterer Biograf von Dante) seien wie auch von Cervantes und Flaubert. Könnte Ihr Urteil dann gut nachvollziehen. Sie sollten indes Ihr Urteil über die Angelsachsen so lange zurückhalten, als Sie sagen wir am zum vielleicht zum zehnten Male den Hamlet, die Sonette oder auch nur den König Lear oder den Sommernachtstraum von Shakespeare wirklich zur Kenntnis genommen habe, letzterer übrigens eine Fussnote zu Paracelsus' liber de nymphis, sylphis, pygmaeis, salamandris  ac ceteris spiritibus" von 1538, also ziemlich ur-germanisch.

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