Neben dem speziellen Humor begegnete uns hier eine ungeschönte soziale Wirklichkeit, die bei allem Klamauk, dem Mark Twain frönt, für die Glaubhaftigkeit dieser Geschichten sorgt. Den Lausbubengeschichten haftet nichts Biedermeierliches an, was sie von vielen anderen unterscheidet und sicherlich auch dazu geführt hat, daß sie ihren Platz in der Weltliteratur behauptet haben.
Darüber ist der Autor und dessen umfangreiches Werk etwas in Vergessenheit geraten. Zwar waren die Hauptwerke Twains immer lieferbar, aber um eine Werkausgabe bemühte man sich nur in der DDR (wo der ehemalige Jungenschaftsführer Eberhard Koebel-tusk den Yankee an König Artus’ Hof übersetzte). Das hing damit zusammen, daß man den Autor nicht in erster Linie als Humoristen begriff, sondern in ihm den Realisten sah, der durch die Schilderung der sozialen Wirklichkeit als Augenöffner und Feindzeuge gegen die USA zu gebrauchen war.
Das zu seinen Lebzeiten erfolgreichste Buch Mark Twains war der Reisebericht Die Arglosen im Ausland, der 1869 erschien. Er beruhte auf einer Serie von Reisefeuilletons für amerikanische Zeitungen, in denen Twain 1867 von einer Reise nach Europa und in den Nahen Osten berichtet hatte. Für die Buchveröffentlichung überarbeitete er diese gründlich, so daß zwischen den Originalreportagen und dem Buch beträchtliche Unterschiede bestehen. Auf deutsch erschien dieser Band erst 1961 im Rahmen der DDR-Werkausgabe, zehn Jahre später wurde er in der BRD nachgedruckt.
Der Mare-Verlag hat nun die Originalreportagen durch Alexander Pechmann übersetzen lassen (der Twain das Wort »Schwarzer« unterjubelt) und in einer ausgesprochen schönen Ausgabe (Leineneinband und Schuber) veröffentlicht. Der Unterschied zwischen beiden Ausgaben besteht vor allem in der Unmittelbarkeit der ursprünglichen Schilderungen, die Twain während der Reise verfaßte und sofort zur Veröffentlichung in die Vereinigten Staaten übermittelte. Für die Buchausgabe damals strich er einige scharfe Äußerungen, die religiöse Gefühle verletzen konnten.
Der Reiz des Buches besteht vor allem darin, daß Twain sich gemeinsam mit amerikanischen Pilgern auf den Weg macht, die sich mit dem Besuch der heiligen Stätten des Christentums einen Lebenstraum erfüllen. Twain steht den religiösen Überlieferungen eher skeptisch gegenüber und läßt an den Orten der Reise, die auf ihn ernüchternd wirken, und an seinen Mitreisenden, die sich von jedem Denkmal ein Andenken abbrechen, kaum ein gutes Haar.
Die Reise mit einem demilitarisierten Raddampfer aus dem Bürgerkrieg führt von New York über die Azoren ins Mittelmeer, wo zahlreiche Abstecher in das Landesinnere Spaniens, Frankreichs und Italiens auf dem Programm stehen. Von Griechenland geht es auf die Krim, wo man dem Zaren begegnet, und von dort in die heutige Türkei und schließlich nach Beirut. Dort geht es mit dem Pferd weiter durch Syrien und das heutige Israel, um die heiligen Stätten der Christenheit zu besichtigen. In Jaffa wartet das Schiff, das die Pilger und Twain über Alexandria und die Bermudas nach mehr als fünf Monaten wieder in New York abliefert.
Den Reisereportagen merkt man an, daß man es mit dem frühen Twain zu tun hat. Viele Schilderungen, die ironisch sein sollen, sind zu platt, um die gewollte Wirkung erzielen zu können. Oftmals handelt es sich um die typisch amerikanische Selbstverständlichkeit, sein eigenes Land für den Nabel der Welt zu halten, gegen den nicht nur die Stätten der Christenheit, sondern das ganze alte Europa mit seinen Kunstschätzen wie ein Trödelladen wirken. Das einzige, was Twain Respekt einflößt, sind die ebenen Straßen in Italien, die er vorbehaltlos bewundert.
Den Nahen Osten beschreibt Twain als eine von Moslems, Bettlern und Kranken bewohnte Einöde, in der Touristen angebettelt oder als Christen verachtet werden. Seine Schilderung soll den möglichst größten Kontrast zur Entzückung der Pilger erzeugen, die sich im Nachvollzug der Leidensgeschichte Christi wähnen.
An einer schönen Stelle schildert Twain den Versuch der Pilger, am See Genezareth einen Fischer für eine Bootsfahrt zu gewinnen. Als der einen stolzen Preis aufruft, beginnen die Pilger zu feilschen und müssen, als sich der Fischer nicht darauf einläßt, vom Ziel ihrer Träume, auf den Spuren von Jesus über das Wasser zu fahren, Abstand nehmen.
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Mark Twain: Unterwegs mit den Arglosen. Die Originalreportagen aus Europa und dem Heiligen Land, Hamburg: mareverlag 2021. 527 S., 44 €
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