Und auch eine Emigration ins Ausland schöbe den Zugriff Behemoths und Leviathans auf uns selbst nur auf. Die entscheidende Frage lautet, wer in der Bundesrepublik einen Rütlischwur ablegen kann und will, ob und wie überhaupt ein »neuer Bund« möglich ist.
Wir müssen hier zunächst zwei Kröten schlucken: daß es, erstens, weder für uns noch irgend jemand anderen einen Weg zurück zu irgendeinem Vorher gibt; und zweitens, daß für einen Rütlischwur Männer nötig sind, die in den Institutionen des schwindsüchtigen Staates eingebunden und in der Wirtschaft tätig sind, also über Einsicht, Kenntnisse und Erfahrung verfügen.
Damit befinden wir uns bereits inmitten jener Gedankenspielereien oder Großraumgespräche, von denen Du sprichst. Sie sind notwendig, um uns über unsere Lage und Möglichkeiten klarzuwerden – wir dürfen dabei freilich nicht so tun, als verfügten wir über Mittel und Kräfte, die wir nicht haben.
Gibt es denn noch Leute, die willens und fähig wären, einen neuen »Kreisauer Kreis« zu bilden? Wie wären sie zu identifizieren, wie zusammenzuführen, ohne von den Schergen frühzeitig vernichtet zu werden?
Die »große Lage« spielt hier, damals wie heute, eine entscheidende Rolle, denn wir brauchen uns keiner Illusion hinzugeben: Hierzulande geschieht nichts, das nicht »von außen« zugelassen oder beeinflußt wäre, und den USA geht es sowenig um das Wohlergehen der Deutschen wie den Russen oder den Chinesen.
Damit sind wir auch bei Deiner Frage nach einer Feindbestimmung im aktuellen Krieg im Osten. De facto wird den Deutschen massiv vor Augen geführt, wer der Feind sein soll, was zu den bekannt-absurden Verrenkungen führt: Bandera-Traditionen in der Ukraine, vor einem Jahr noch Ausgeburten des Schaitans, bilden jetzt die Basis europäischer Vorneverteidigung gegen russisch-asiatische Horden, während grüne und rosarote Wehrdienstverweigerer, Christ- und Freizeitdemokraten ihre friedlichen bundesdeutschen Schafe tapfer auf einen Kampf gegen den alt bösen Feind einschwören.
Hier ist der Versuch einer eigenen Feindbestimmung von uns Machtlosen im aktuellen Krieg wohl ein Sandkastenspiel, das indes, betreibt man es richtig, die Grundlage künftiger Entscheidungen bilden kann.
Von einer deutschen Position aus zerstört uns die Politik der USA und der EU, aber auch die russische Politik operiert, insbesondere vergangenheitspolitisch, so, daß sie uns mehr schadet als nützt. Daraus ergibt sich für mich mit Blick auf die gegebenen Kräfteverhältnisse eine Linie, wie sie unser Cum-Ex-Scholz mit seinen beschränkten Fähigkeiten zu verfolgen suchte: sich heraushalten, ohne zu sehr anzuecken.
Wenn ich mir vorstelle, BlackRock-Merz oder gar einer der pensionierten AfD-Obristen säße an seiner Stelle, bin ich fast froh, daß der vormalige Jungsozialist heute als Kanzler herumzueiern versucht.
Weder eine »Rote Kapelle« noch die geforderte Nibelungentreue zur NATO können derzeit die Option einer deutschen Dissidenz sein. Die drängende Frage, was einem selbst in dieser beschissenen Lage an politischen Handlungsmöglichkeiten bleibt, brennt mir weiter auf der Haut, aus meiner Ratlosigkeit habe ich noch nicht herausgefunden.
Was also tun?
Sans aucune illusion,
Ivor
– – –
Schnellroda, 12. Juli 2022
Lieber Ivor,
Deine Skizze der Lage würde, das war mir klar, ein für uns Deutsche lähmendes Bild abgeben. Kannst Du Dich an die irre Szene erinnern, die sich am Rand jener Berliner Großdemonstration vom 1. August 2021 abspielte, von der einer unserer Landsmänner beim vorabendlichen Gang über das kommende Schlachtfeld behauptete, dies würde der wohl wichtigste Tag der deutschen Geschichte seit dem 8. Mai 1945 werden?
Es scharte sich damals ein Haufe vor den Eingängen der russischen und der amerikanischen Botschaft und flehte um Friedensverträge und um Erlösung von den Schulderzählungen. Diese Bittgesuche wurden von den Veranstaltern aufgegriffen und verkündet. Glaub mir, Ivor: Diese Szene verpaßte mir Gänsehaut und eine Aufwallung von Mitleid. Die Hoffnung dieser Leute war spürbar echt, sie war nicht abgebrüht oder kalkuliert, sondern kam aus dem Herzen, hatte für diejenigen, die mitwogten und mitflehten, tatsächlich die verdichtende Kraft einer Sternstunde der Menschheit, war zugleich aber für ferne Beobachter wie mich irrsinnig wie ein Veitstanz.
Als die Spannkraft nachließ, kam es zu Ernüchterungsszenen. Verzweifelt weinende Demonstranten, jähe Unbehaustheit im Potemkinschen Dorf, Scham: der Deutsche als politischer Romantiker mit der Gemütsverfassung eines kleinen Kindes … Jede Seite ist die falsche – Meister Klonovsky verwendet dieses Diktum gern, es paßt auch hierher.
Ich spreche immer vom Windschatten, in den ich unser Land wünsche, wenn mich einer nach dem politischen Minimum fragt. Bloß ist Deutschland für den Windschatten zu groß, immer noch zu wesentlich. Wir sind halt nicht Portugal oder Ungarn.
Laß uns also mal ein paar Wahrnehmungen auf der unteren Ebene durchdeklinieren und Schlußfolgerungen aus ihnen ziehen. Ich will mit einem Themenkomplex beginnen, der Konjunktur hat, seit es um Wehrbereitschaft, Verteidigung, Selbstversorgung in abgeschnittenen Räumen und ums Überleben an sich geht.
Ich sah einen Arte-Film über schwedische Prepper und über die militärische Seite dieser Krisen- und Kriegsvorbereitung: die schwedische Heimwehr. Dieser Film berichtete ohne jede Herablassung oder Dekonstruktion über das, was wir früher aus den Survival-Büchern des Konditormeisters Rüdiger Nehberg nachbastelten und beim Militär lernten: Feuer bei jedem Wetter (auch im Film wird dieser idiotische Zufall wiederholt, daß man zwar kein Feuerzeug, aber einen Magnesiumstein plus Schaber in der Hosentasche habe …), dazu Anleitung zum kleinen Krieg, zum totalen Widerstand.
Schweden dort, Deutschland hier. Was der Film zeigt, wird hierzulande kriminalisiert: zu lernen, wie man in einer in jeglicher Hinsicht nichtautarken Großstadtwohnung im Ernstfall nicht friert und hungert, sondern selbstbewußt dabei helfen kann, die Ordnung aufrechtzuerhalten; dann: zu üben, wie man vor dem Feind nicht »blank« dasteht, sondern mit Waffen umzugehen weiß.
Es geht in der Dokumentation tatsächlich um Wehrsport, Vorratshaltung, auf Wochen oder Monate angelegte Autarkie, identitäres Selbstbewußtsein, Mobilmachung, Ertüchtigung.
In Deutschland sind diese Impulse in justitiable Kistchen abgelegt worden: Reichsbürger, Prepper, Militaristen, völkische Siedler. Legen wir die 100 Milliarden zusätzlicher Schulden für die Aufrüstung der Bundeswehr daneben: Sie sind doch ein Beweis dafür, daß sich die Gefährdungslage verschlechtert haben muß!
Was läge also näher als eine praktische und geistige Aufrüstung des Normalbürgers, eine Kräftigung seines Widerstandspotentials? Es schält sich doch in einer solchen Lage ein bestimmter Typ heraus: derjenige nämlich, der trotz allem daran festhält, unser Land sei etwas, das zu verteidigen sich lohne. Die Frage nach dem Volk wird laut: Wer wäre das »Wir« im Ernstfall? An wen würde man sich richten, wer wäre gefragt, wenn es nicht mehr um Dienst nach Vorschrift geht?
Das Verteufelte kehrt zurück: Kohlekraftwerke, Männer, Waffen, sogar Söldner dürfte man wieder sein, wenn man auf der richtigen Seite kämpft und die Bösen jagt.
Du siehst, es ist wie stets mit mir: Man denkt nach, kommt ins Fabulieren, wird sarkastisch. Dabei sollte man ernst bleiben: ja, Notlage, Männer, Waffen, Askese, Einsatz, Wir. Der ganze Rest ist zumindest dort, wo der Ernstfall ausgebrochen, eingebrochen, ausgerufen ist, nicht mehr so wichtig.
Götz
– – –
Burg Schreckenstein, 13. Juli 2022
Lieber Götz,
die Einsicht in das, was ist, darf sich nicht nach dem Wünschenswerten richten, das brauche ich Dir ebensowenig zu erklären wie den Grundsatz, daß in der Ruhe die Kraft liegt – wer sich lähmen läßt oder kopflos wird, ist verloren. Wir haben das beide bei den springenden Truppen gelernt.
Oder vornehmer mit Goethen: Es gibt keine Lage, die sich nicht veredeln ließe, entweder durch Leisten oder durch Dulden. Man schanzt, wenn man sonst nichts tun kann, gräbt sich tiefer ein, und sucht doch stets nach Möglichkeiten, die Initiative zu gewinnen und den Angriff zu wagen, auch wenn’s ein letztes Mal wäre.
Das Gute an der gegenwärtigen Zuspitzung einer seit langem schwelenden Krise ist ja, daß die »große Lage« nun tatsächlich in Fluß geraten ist wie seit 1989 nicht mehr, sie ist nur riskanter und gefährlicher als damals. Das bietet wiederum Entwicklungsmöglichkeiten auch für die »kleine Lage« der Dissidenz, die noch nicht absehbar sind.
Ich beobachte inzwischen dasselbe wie Du: Die Leute sind nicht dumm, sie wissen, was es geschlagen hat – man hortet, knüpft Verbindung zu seinesgleichen, zum Bauern auch, zum Förster und zum Jäger, legt sich Holzöfen und Notstromaggregate zu und redet offen, wenn man sich kennt. Nur müssen all diese Leute eben zudem ihren Alltag im Hier und Jetzt weiterleben, halten also den Ball nach außen hin wohlweislich flach, wegen der von Dir angesprochenen Denunziation und Kriminalisierung solcher tätigen Selbstvorsorge durch den okkupierten Staat und seine »zivilgesellschaftlichen« Lemuren.
Auch in dieser Ruhe liegt Kraft, denn selbst wenn ich eine Eskalation bis hin zu einem auf Kerneuropa begrenzten Einsatz atomarer Kampfmittel für möglich halte, werden »wir« vorerst wohl nicht auf unserem Boden gegen »den Russen« kämpfen müssen. Ich rechne hier vielmehr mit der Verdichtung (verzeih mir den Kalauer) jenes Enzensbergerschen molekularen Bürgerkriegs zum »Ernstfall«. Da kann sich das »Wir« dann lokal und regional recht schnell zeigen, mit allen guten und schlechten Seiten.
Den »bestimmten Typ«, von dem Du sprichst, gibt es ja noch immer, als Freiwilligen im Technischen Hilfswerk, bei den Feuerwehren und Rettungssanitätern, in Reservistenkameradschaften und Sportvereinen, aber auch, freilich in zunehmender Verdünnung, in den Streitkräften und bei der Polizei, die alle genau deswegen für die deformierte politisch-mediale Meute in Deutschland zum vorrangigen Ziel der Zersetzung geworden sind.
Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt – das muß unsere Devise sein, das alte Ziel von Einigkeit und Recht und Freiheit ist für das deutsche Vaterland neu anzugehen, und dafür gilt es, auf »molekularer Ebene«, weiterzuarbeiten, sich vorzubereiten, nicht nur im persönlichen Umfeld, sondern auch grundsätzlich:
Gibt es in Deutschland Konzepte und Leute für den Wiederaufbau einer Volkswirtschaft mit allen wichtigen Sparten wie Energieversorgung, Landwirtschaft und Verkehrswesen? Verfolgt jemand Ansätze für eine zeitgemäße Restrukturierung der Streitkräfte und anderer Exekutivorgane unter den aktuell und absehbar weiterhin schweren ökonomischen, personellen und außenpolitischen Bedingungen? Auf welche Überlegungen zur Reform des politischen Systems mit seinem korrupten Parteienregime kann realistisch zurückgegriffen werden? Welche Expertisen braucht es, um den Karren wieder flott zu kriegen?
Das sind alles ungeheuer komplexe und große Fragen, zugleich hinreichend konkret – sie müssen angegangen werden, Tell hin oder her.
Vorwärts also, und: nichts vergessen!
Ivor
Dieter Rose
"Ich enthalte mich . . . " nach Pyrrhon,
sh. Montaigne!