Wir sollten uns nicht aufhalten mit der Frage eines autobiographischen Abgleichs. Ja, Keith Gessen hat auffällige Gemeinsamkeiten mit dem Protagonisten dieses Buchs; mit Andrej oder Andrew, je nach Lesart.
Keith wie A. sind in der Sowjetunion geboren und vor dem Fall des Eisernen Vorhangs mit der Familie ausgewandert in die USA, wo sie diverse Wohnsitze rund um Boston hatten. Der Autor wie sein Alter ego sind jüdisch, was eine marginale, wenngleich nicht vollends unwichtige Rolle spielt.
Keith Gessen (*1975) ist zudem ein Bruder der ungleich berühmteren Masha Gessen (*1967), die eine »non-binäre« LGBTQ-Aktivistin ist, zahlreiche preisgekrönte Bücher verfaßt hat und zuletzt (2019) den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung verliehen bekam. All dies schadet diesem bis ins Detail vortrefflich durch Jan Karsten übersetzten Roman nicht im geringsten.
Uns berichtet hier Andrej, der im Jahr 2008 dreiunddreißigjährig nach Moskau zieht, um für seine demente Großmutter zu sorgen. Die Mutter ist jung verstorben, Andrejs älterer Bruder, ein kapitalistischer Karrierist, der bislang für die Oma sorgte, mußte das Weite suchen und aus Rußland fliehen. Andrejs akademische Karriere (spezialisiert auf russische Literatur) in den USA liegt auf Eis. Er zählt zum prekären universitären Mittelbau. Es scheint illusorisch, daß er je eine Professorenstelle bekleiden wird. Er bemüht sich halbherzig darum – zu gewichtig ist seine Melancholie angesichts der »Zustände hüben wie drüben«.
Zwar betreut er mit erheblichem Zeitaufwand aus der fremden Ferne Studenten und schreibt an einem Aufsatz für eine wichtige Wissenschaftszeitschrift. Er möchte über neokommunistische Zirkel in der Hauptstadt berichten, denen er selbst sachte zuneigt. In seiner Moskauer Wohnung hat er aber nicht mal Internetanschluß, die nahe liegenden innerstädtischen Cafés mit WLAN kann er sich nicht leisten. Das Zentrum von Moskau ist unvorstellbar teuer.
Es ist einzigartig, wie Gessen das Biotop der meist wenig gebildeten, nahezu wüsten neorussischen Hautevolee beschreibt. Andrej bleibt eine – oft selbstironisch betrachtete – Nebenfigur des Geschehens. Die Sachen geschehen ihm. Er möchte in manchen Aufwallungen durchaus gern handeln, Täter sein. Er gerät aber nur an Nutten, Schläger, Radikale, Antisemiten. Die russische Gegenwart saugt ihn widerstandslos auf.
Dabei bemüht er sich durchgängig um Reflexion. »Die Frauen, das konnte ich nicht übersehen, waren außergewöhnlich attraktiv. Sie hatten etwas Besonders an sich, eine gewisse Uniformität. Sie alle waren dünn, blond und trugen schwarze Bleistiftröcke, weiße Blusen und High Heels. Ich weiß nicht, warum es mir gefiel, daß sie alle gleich aussahen, aber so war es. Auch die Männer folgten einem Muster: Kräftig, kaschagefüttert und zwei Meter groß, stelzten sie in teure Anzüge gezwängt durch die Gegend, ohne je zu lächeln. […] Sie hatten die Hände zu Fäusten geballt, als wären sie jederzeit bereit, sie zu benutzen. Ich kam aus einem Land, in dem sich Männer einen Bart wachsen ließen, kurze Hosen trugen und ununterbrochen lächelten, als spielte in ihrem Kopf eine Melodie, die nur sie hören konnten, während sie an einem Kaffee nippend die Bedford Avenue herunterradelten.«
Andrej, der russifizierte Amerikaner, wird seine Lektion lernen. Auf der einen Seite liegen seine Sympathien, auf der anderen hingegen liegt der »gangbare Weg«.
Am Ende wird er sich entscheiden. Oder, besser: Es wird entschieden. Der Leser fiebert atemlos bis zum letzten Satz. Chapeau, das ist hervorragende zeitgenössische Literatur!
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Keith Gessen: Ein schreckliches Land. Roman, Hamburg: culturebooks 2021. 468 S., 24 €
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