jene Lektürestunden und ‑tage beschrieben, in denen auf den Zusammenbruch der sozialistischen Regime des Ostens die ganz persönlichen Zusammenbrüche folgten. In den Aktenordnern und den Dossiers, die man als Betroffener, als Ausspionierter, Verratener, Zersetzter in den dafür zuständigen Aufarbeitungsbehörden einsehen durfte, verbargen sich Sprengsätze mit Zeitzündern. Oft waren es nahe Verwandte und gute Freunde, die den Inlandsgeheimdiensten zutrugen, was man so dachte, äußerte und trieb.
Bergel hat in seiner autobiographischen Erzählung beschrieben, wie manche Entdeckung, Aufdeckung, Entschlüsselung kaum zu ertragen war und wie ein starkes Gefühl der Verlassenheit einen packte, während man vom Verrat las. Matthias Jügler hat seinen kurzen Roman nach diesem Grundgefühl benannt.
Johannes, der Ich-Erzähler, ist ein dreifach Verlassener: Zuerst stirbt seine Mutter (angeblich an einem Herzinfarkt), dann, nach der Wende, verläßt ihn sein Vater (angeblich wegen einer Dienstreise), und fünf Jahre später stirbt die Großmutter, bei der er seither lebte und von wo aus er immer weniger hoffnungsvoll und letztlich vergeblich auf die Rückkehr seines Vaters wartete.
Irgendwann hörte die Großmutter auf, von einer »Dienstreise« zu sprechen, aber an die Stelle dieses Lügenworts tritt weder die Wahrheit noch eine andere Lüge, sondern ein Beschweigen, so als habe man sich damit abzufinden, daß es gerade die existentiellen, die entscheidenden Fragen seien, auf die man besser keine Antwort erhalte.
Niemand erzählte Johannes, »warum Mutter wirklich starb, warum Vater zwar immer wieder vom Schreiben sprach, ich ihn aber nie schreiben sah, und erst recht wußte ich nichts von einem Bruder und all den anderen Dingen, von denen ich erst viel später erfuhr«.
Mit der Wahrheit konfrontiert zu werden, schlimmste Ahnungen bestätigt zu sehen: ein Zufall. Johannes findet in einem Buch einen Brief, abgeschickt aus Norwegen, und darin ist weder von einer Dienstreise die Rede noch von einer jähen Krankheit oder von irgend etwas sonst, das den Tod der Mutter oder das Verschwinden des Vaters in eine traurige Erzählung hätte einbetten und sie so dem verlassenen Sohn hätte näherrücken können.
Vielmehr: Verrat, Lebenslüge, Doppelleben, Flucht, ein familiäres Desaster, eine menschliche Katastrophe. »Kein Mensch ist vor den Momenten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eigene Leben plötzlich in völlig anderen Bahnen verläuft als erhofft« – das ist der Schlüsselsatz dieses Romans.
Johannes, mittlerweile städtischer Angestellter, Vater, ist nun, nach der lebensverändernden Lektüre, derjenige, der verläßt: Er trennt sich von Frau und Kind und reist seinem Vater hinterher, nach Norwegen, um ihn aufzuspüren und eine Antwort auf die Frage zu erhalten, wie ihm, dem Sohn, und ihr, der Mutter, so etwas hatte angetan werden können. Bloß: Wieder trifft Johannes auf Verlassene, Getäuschte, auf Gezeichnete, auf die Wiederholung eines Verhaltensmusters, das sich als Lebenslüge fortsetzt.
In der Mitte des Romans sind Originaldokumente eingefügt. Sie betreffen ein Ehepaar Wagner, das unerlaubt Texte auf dem Marktplatz in Halle / Saale vortrug, eine Fahrraddemonstration organisierte und sich konspirativ mit Freunden traf und dabei staatskritisch agitierte. Annegret Wagner wurde von IM Stefan im Mai 1986 im Verlauf eines Streits so gestoßen, daß sie fiel und unter die Räder eines Autos kam. Sie war schwanger.
Jügler hat über eine reale Begebenheit geschrieben, aber nicht dokumentarisch, sondern in eindringlicher, literarischer Form. Sie ist ihm erschütternd gut gelungen.
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Matthias Jügler: Die Verlassenen. Roman, München: Penguin Verlag 2021. 170 S., 18 €
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