Matthias Jügler: Die Verlassenen

Der rumäniendeutsche Schriftsteller Hans ­Bergel hat in einer seiner Erzählungen...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

jene Lek­tü­re­stun­den und ‑tage beschrie­ben, in denen auf den Zusam­men­bruch der sozia­lis­ti­schen Regime des Ostens die ganz per­sön­li­chen Zusam­men­brü­che folg­ten. In den Akten­ord­nern und den Dos­siers, die man als Betrof­fe­ner, als Aus­spio­nier­ter, Ver­ra­te­ner, Zer­setz­ter in den dafür zustän­di­gen Auf­ar­bei­tungs­be­hör­den ein­se­hen durf­te, ver­bar­gen sich Spreng­sät­ze mit Zeit­zün­dern. Oft waren es nahe Ver­wand­te und gute Freun­de, die den Inlands­ge­heim­diens­ten zutru­gen, was man so dach­te, äußer­te und trieb.

Ber­gel hat in sei­ner auto­bio­gra­phi­schen Erzäh­lung beschrie­ben, wie man­che Ent­de­ckung, Auf­de­ckung, Ent­schlüs­se­lung kaum zu ertra­gen war und wie ein star­kes Gefühl der Ver­las­sen­heit einen pack­te, wäh­rend man vom Ver­rat las. Mat­thi­as Jüg­ler hat sei­nen kur­zen Roman nach die­sem Grund­ge­fühl benannt.

Johan­nes, der Ich-Erzäh­ler, ist ein drei­fach Ver­las­se­ner: Zuerst stirbt sei­ne Mut­ter (angeb­lich an einem Herz­in­farkt), dann, nach der Wen­de, ver­läßt ihn sein Vater (angeb­lich wegen einer Dienst­rei­se), und fünf Jah­re spä­ter stirbt die Groß­mutter, bei der er seit­her leb­te und von wo aus er immer weni­ger hoff­nungs­voll und letzt­lich ver­geb­lich auf die Rück­kehr sei­nes Vaters wartete.

Irgend­wann hör­te die Groß­mutter auf, von einer »Dienst­rei­se« zu spre­chen, aber an die Stel­le die­ses Lügen­worts tritt weder die Wahr­heit noch eine ande­re Lüge, son­dern ein Beschwei­gen, so als habe man sich damit abzu­fin­den, daß es gera­de die exis­ten­ti­el­len, die ent­schei­den­den Fra­gen sei­en, auf die man bes­ser kei­ne Ant­wort erhalte.

Nie­mand erzähl­te Johan­nes, »war­um Mut­ter wirk­lich starb, war­um Vater zwar immer wie­der vom Schrei­ben sprach, ich ihn aber nie schrei­ben sah, und erst recht wuß­te ich nichts von einem Bru­der und all den ande­ren Din­gen, von denen ich erst viel spä­ter erfuhr«.

Mit der Wahr­heit kon­fron­tiert zu wer­den, schlimms­te Ahnun­gen bestä­tigt zu sehen: ein Zufall. Johan­nes fin­det in einem Buch einen Brief, abge­schickt aus Nor­we­gen, und dar­in ist weder von einer Dienst­rei­se die Rede noch von einer jähen Krank­heit oder von irgend etwas sonst, das den Tod der Mut­ter oder das Ver­schwin­den des Vaters in eine trau­ri­ge Erzäh­lung hät­te ein­bet­ten und sie so dem ver­las­se­nen Sohn hät­te näher­rü­cken können.

Viel­mehr: Ver­rat, Lebens­lü­ge, Dop­pel­le­ben, Flucht, ein fami­liä­res Desas­ter, eine mensch­li­che Kata­stro­phe. »Kein Mensch ist vor den Momen­ten sicher, in denen sich alles von Grund auf ändert und das eige­ne Leben plötz­lich in völ­lig ande­ren Bah­nen ver­läuft als erhofft« – das ist der Schlüs­sel­satz die­ses Romans.

Johan­nes, mitt­ler­wei­le städ­ti­scher Ange­stell­ter, Vater, ist nun, nach der lebens­ver­än­dern­den Lek­tü­re, der­je­ni­ge, der ver­läßt: Er trennt sich von Frau und Kind und reist sei­nem Vater hin­ter­her, nach Nor­we­gen, um ihn auf­zu­spü­ren und eine Ant­wort auf die Fra­ge zu erhal­ten, wie ihm, dem Sohn, und ihr, der Mut­ter, so etwas hat­te ange­tan wer­den kön­nen. Bloß: Wie­der trifft Johan­nes auf Ver­las­se­ne, Getäusch­te, auf Gezeich­ne­te, auf die Wie­der­ho­lung eines Ver­hal­tens­mus­ters, das sich als Lebens­lü­ge fortsetzt.

In der Mit­te des Romans sind Ori­gi­nal­do­ku­men­te ein­ge­fügt. Sie betref­fen ein Ehe­paar Wag­ner, das uner­laubt Tex­te auf dem Markt­platz in Hal­le / Saa­le vor­trug, eine ­Fahr­rad­de­mons­tra­ti­on orga­ni­sier­te und sich kon­spi­ra­tiv mit Freun­den traf und dabei staats­kri­tisch agi­tier­te. Anne­gret Wag­ner wur­de von IM Ste­fan im Mai 1986 im Ver­lauf eines Streits so gesto­ßen, daß sie fiel und unter die Räder eines Autos kam. Sie war schwanger.

Jüg­ler hat über eine rea­le Bege­ben­heit geschrie­ben, aber nicht doku­men­ta­risch, son­dern in ein­dring­li­cher, lite­ra­ri­scher Form. Sie ist ihm erschüt­ternd gut gelungen.

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Mat­thi­as Jüg­ler: Die Ver­las­se­nen. Roman, Mün­chen: Pen­gu­in Ver­lag 2021. 170 S., 18 €

 

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Götz Kubitschek

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