Jörg Bernig: Der Wehrläufer

von Erik Lommatzsch -- In Prag, einer der »schönsten Städte, die er je betreten hatte...

und die er je betre­ten wür­de«, ver­bringt ein Schrift­stel­ler dank einer Lite­ra­tur­stif­tung eini­ge Wochen, um einen Roman zu voll­enden. An äuße­ren Begeg­nun­gen mit ande­ren Men­schen ist der Auf­ent­halt arm. Der namen­lo­se Autor, Mit­te fünf­zig, der aus einer unge­nann­ten deut­schen Stadt stammt, lernt ledig­lich einen jun­gen katho­li­schen Theo­lo­gen ken­nen, der unent­schlos­sen ist, ob er Pries­ter wer­den soll, und auf einem still­ge­leg­ten, zum Lokal umfunk­tio­nier­ten Mold­au­kahn arbeitet.

Ansons­ten ist der Schrift­stel­ler, in dem man wohl zumin­dest ein Stück Jörg Ber­nig ver­mu­ten darf, allein. Es han­delt sich weni­ger um eine las­ten­de als um eine not­wen­di­ge oder gar gewünsch­te Ein­sam­keit. Erin­ne­run­gen holen ihn ein und kral­len sich an ihm fest, Ver­dräng­tes bricht auf, Zei­ten ver­schwim­men. Nicht vor dem »Hin­ter­grund« Prags, son­dern durch das Erle­ben der Stadt, durch bewußt Beob­ach­te­tes und unge­wollt auf ihn Einströmendes.

Aus­ge­löst wer­den die Refle­xio­nen, als der Schrift­stel­ler einen »Wehr­läu­fer« beob­ach­tet, einen Arbei­ter, der ein Mol­dau­wehr von Treib­gut befreit. Eine unschö­ne Kind­heits­er­in­ne­rung bricht sich Bahn, sein Mit­schü­ler Micha­el wur­de sei­ner­zeit ertrun­ken auf­ge­fun­den. Die Tat­sa­che, daß auch die ande­ren bei­den Jugend­freun­de des Schrift­stel­lers – zusam­men waren sie die »vier Mus­ke­tie­re« – bereits nicht mehr am Leben sind, erscheint zunächst als etwas über­la­den. Mit einer Art Auf­lö­sung rela­ti­viert sich die­ser Ein­druck spä­ter, und der Schrift­stel­ler darf sich am Ende zwar nicht ganz zufrie­den, aber befreit fühlen.

Und, auch das über­rascht ange­sichts des oft resi­gna­tiv-pes­si­mis­ti­schen Grund­tons, die Erzäh­lung schließt mit einer ver­hei­ßungs­vol­len per­sön­li­chen Per­spek­ti­ve. Die in Prag aus­führ­lich in Gedan­ken noch ein­mal durch­leb­te, schon län­ger zurück­lie­gen­de, geschei­ter­te Bezie­hung fin­det offen­bar eine Fort­set­zung. Mög­li­cher­wei­se ähn­lich und für den Schrift­stel­ler unty­pisch ent­schlos­sen, wie sie einst auf einem Emp­fang begann: »Darf ich Sie wie­der­se­hen?« – »War­um?« – »Weil ich Sie mag.«

Aber davor lie­gen die Streif­zü­ge durch die spät­früh­lings­haf­te und früh­som­mer­li­che, oft ver­reg­ne­te, geschichts­träch­ti­ge ­Mol­dau-Metro­po­le, in deren Bann – die fast tot­ge­tre­te­ne Phra­se dürf­te hier aus­nahms­wei­se ein­mal pas­send sein – er sich auf sei­ne Wei­se zie­hen läßt. Und da ist die Arbeit des Schriftstellers.

Es han­delt sich um einen Roman über einen bekann­ten Maler. Ber­nig bringt hier eine zwei­te Ebe­ne ein, immer wie­der wird aus dem ent­ste­hen­den Werk »zitiert«. Der Maler, der T. Raum heißt und einen wei­te­ren extrem groß­for­ma­ti­gen Zyklus »Die See« zu schaf­fen gedenkt (der Anspie­lungs­reich­tum ist über­deut­lich), bricht wäh­rend einer als Vor­be­rei­tung gedach­ten Rei­se mit dem Gan­zen und ver­kauft, inko­gni­to, klein­for­ma­ti­ge Bil­der an Tou­ris­ten. Aus Pola, wo man ihn erkannt hat, »flieht« er nach Ban­jo­le – neben Prag ist die Süd­spit­ze Istri­ens das ein­zi­ge expli­zit genann­te geo­gra­phi­sche Gebiet, die im Wehr­läu­fer eine Rol­le spielt.

Immer wie­der nähert sich ­Ber­nig den gro­ßen Fra­gen an. Etwa der, ob das gan­ze Leben nicht ein Träu­men von Mög­lich­kei­ten sei. Oder, als Fest­stel­lung: »Ach, die­se Träu­me, immer zu spät, immer ein­ge­trof­fen wie bummel­letzte Wün­sche.« Um mit­un­ter quä­len­de Erin­ne­rung geht es: »In die­ser, wenn auch unbe­merk­ten, Fort­exis­tenz war die ver­gan­ge­ne Zeit kei­ne Ver­gan­gen­heit, son­dern immer­wäh­ren­de Gegen­wart. Und gab es nicht Men­schen, die  […]  aus der gegen­wär­ti­gen Gegen­wart in irgend­ei­ne ver­gan­ge­ne hin­über­wech­sel­ten, dort blie­ben und damit dem linea­ren Ver­lauf der Zeit einen Strich durch die Rech­nung mach­ten?« Und um Beob­ach­tun­gen wie die­se: »Er hat­te einen die­ser sonst heim­lich und im Ver­bor­ge­nen sich ereig­nen­den Augen­bli­cke über­rascht, in dem die Sin­ne Erin­ne­rung form­ten und in der Tie­fe der See­le? des Hirns? ablagerten«.

Das »Dazu­ge­hö­ren« ist ein wei­te­res, mehr­fach auf­ge­grif­fe­nes Grund­mo­tiv des Wehr­läu­fers. Der Schrift­stel­ler sah sich bei sei­ner Tren­nung dem Vor­wurf aus­ge­setzt, daß er »nie ganz da« sei, nur »anwe­send«. Spä­ter führt er dies wei­ter, wenn er, wenig von sich ein­ge­nom­men, über­legt, ob das Leben die­je­ni­gen aus­sor­tie­re, »auf die es bei sei­nem wei­te­ren Ver­lauf ver­zich­ten konn­te oder woll­te. Und der wei­te­re Ver­lauf war ein unbe­ding­ter Impe­ra­tiv, der eben nicht alle, nicht ihn, einschloß.«

Ber­nig weiß zudem immer wie­der mit Ent­de­ckun­gen zu ver­blüf­fen, die sich nur auf den ers­ten Blick als Spie­le­rei dar­stel­len. So, wenn er den tsche­chi­schen ­»Bar­man-Theo­lo­gen« sagen läßt, »viel­leicht« sei für ihn eines der schöns­ten deut­schen Wör­ter, zusam­men­ge­setzt aus »viel« und »leicht«. Dar­in ste­cke Hoffnung.

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Jörg Ber­nig: Der Wehr­läu­fer. Eine Geschich­te aus Prag. Novel­le, Dres­den: edi­ti­on buch­haus losch­witz 2021. 192 S., 24 €

 

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