Daß er Vorteile mit sich bringt, sei damit nicht geleugnet, ebensowenig wie die traurige Einsicht, daß er wohl unter den jetzigen Bedingungen nicht wieder verschwinden wird, daß man ihn „verbessern“ wird und daß er weiterhin den Kern des Fußballs aushöhlen wird. Er ist einem hochinvasiven Virenprogramm vergleichbar, das zwar recht sicher gegen Viren schützt, durch seine Systembelastung dieses aber so sehr schädigt, daß man es selbst zum Super-Virus erklären könnte.
Seine Vorzüge sind offensichtlich: krasse Fehlentscheidungen des Schieds- und Linienrichters werden oftmals ausgeschlossen, insbesondere dann, wenn metrische Maße ins Spiel kommen oder wenn Dinge passieren, die nicht im Sichtfeld des Unparteiischen liegen. Eine Rempelei hinter seinem Rücken etwa oder eine deutliche Abseitsstellung werden erkannt, ein weit hinter der Torlinie einschlagender oder herausgefischter Ball gilt nun als Tor. Freilich sind solche Fälle äußerst selten, könnte man die Technik auf Derartiges beschränken, gäbe es weit weniger Gegenargumente. Die Störung des Spielflusses könnte in solchen Fällen durchaus akzeptiert werden – sie käme ohnehin nur selten vor.
Problematisch ist der VAR in erster Linie bei knappen oder fließenden Entscheidungen und da der Sport ein sehr dynamischer ist, der sich aus zahlreichen beweglichen Gleichzeitigkeiten zusammensetzt, muß ein technisches System, das die je einzelne und herausgehobene Aktion bewertet, mit dem Wesen des Spiels, seiner Komplexität und Beweglichkeit, Fluß, Flow, Fluidität – der letztlich auch für die hohe Emotionalität auf dem Feld und auf den Rängen verantwortlich ist, die sich zudem wiederum permanent in die Dynamik einspeist – kollidieren.
Der VAR zerhackt die Emotion. Die Tatsache ist altbekannt. Ein Tor wird erzielt, die Spieler jubeln, das Stadion tobt … und dann hebt der Schiedsrichter die Hand, ein unangenehmer Koitus Interruptus, oft eine gefühlte Ewigkeit dauernd und mit offenem Ergebnis. Erfährt man ihn mehrfach in 90 Minuten, schlägt die Freude am Spiel in Frust um. Der Videobeweis ist ein Liebestöter.
Man hat sich mittlerweile daran gewöhnt, ihn zu akzeptieren, wenn ein Spieler der angreifenden Mannschaft ein paar Millimeter im Abseits gestanden hat oder der Ball jemandem unversehens an die Hand gesprungen ist. Diese Millimeter sind jedoch jenseits der menschlichen Wahrnehmungsfähigkeit: in einem Spiel von zwei Mal elf Spielern und drei Schiedsrichtern, von mindestens 24 Menschen, nebst zehntausenden Zuschauern vielleicht, zehntausenden Menschen also, hat die Technik das Ruder übernommen. Der inneren Fortschrittslogik gemäß, muß ein einmal eingeschlagener Weg zu Ende gegangen werden, ein Abbrechen oder gar Zurück gilt als undenkbar, auftretende Paradoxien werden durch neue technische Lösungen geregelt und perpetuiert, erst der Systemcrash aufgrund unaufhebbarer Widersprüche verlangt ein Neudenken.
Wir befinden uns in einer Art von Zenons Paradox. Achill halbiert oder verkürzt jeweils die Strecke zur Schildkröte, aber wird sie nie erreichen. Die Differenzen werden immer feiner und kleiner, aber entschieden werden müssen sie doch. Grobe Fehlentscheidungen werden weitestgehend ausgeschlossen, dafür kommt eine große Menge an kleineren hinzu, die dem menschlichen Auge bis dato oftmals nicht aufgefallen sind. Wir diskutieren nun über Dinge, die vordem inexistent oder zumindest irrelevant waren. Je feiner die Technik, umso diffiziler die Entscheidungen. Die technische Lösung der intrinsischen Probleme verlagert diese nicht nur nach hinten, sondern vermehrt sie tendenziell auch numerisch.
Die schiedsrichterliche Entscheidung ist dabei nicht aufgehoben, sie wird nur in die Mikrobereiche verschoben und dort gibt es weiterhin Fehlentscheidungen en masse. Und das kann auch gar nicht anders sein, denn in einem komplexen Bewegungsspiel vollkommene Korrektheit erreichen zu wollen, ist widersinnig. Die Zahl absurder VAR-Entscheidungen ist jetzt schon Legion.
Ab wann ist eine Grätsche gesundheitsgefährdend, wo exakt beginnt die Fußsohle, wo beginnt ein Arm, wer berührt bei einem Preßschlag zuerst Ball oder Gegner, welches Körperteil hat als das vorderste zu gelten, was exakt ist eine absichtliche Handbewegung oder eine unnatürliche Armhaltung? Diese und viele andere Fragen kennen keine festen definitorischen Festlegungen, sie liegen erneut im Auge des Betrachters, der sie nun am Bildschirm anstatt live zu bewerten hat.
Da werden Abseitsentscheidungen von Haaresbreite getroffen. Wer aber bestimmt exakt den Moment, in dem der Ball – ein dehnbares Spielwerkzeug – den Fuß des Paßgebers verlassen hat? Eine Hundertstel Sekunde Unterschied und die vermeintliche Abseitssituation wäre eine andere. Selbst der ominöse Strich, der über gleiche Höhe entscheiden soll, hat noch immer eine Dicke und beeinflußt damit das Ergebnis, von minimal entstellten Kamerapositionen ganz zu schweigen.
Und überhaupt: wer entscheidet überhaupt, welche Situation ansichtswürdig ist oder nicht? Menschen, in irgendeinem Kabuff, meist ohne vergleichbare Spielerfahrung, viele Kilometer entfernt an Fernsehschirmen. Kann es sein, daß eine heimliche Sympathie für eine Mannschaft oder ein schwelender Konflikt mit einem Trainer oder tausend andere Sachen den Willen, eine VAR-würdige Tat überhaupt wahrzunehmen, beeinflussen?
So wirft die technische Lösung zahlreiche neue Fragen auf und es sind in Wahrheit noch viele mehr. Der Fußball ist in die Klauen der Technik geraten, diese ist überhaupt erst Voraussetzung für jene unheilvolle Entwicklung – nicht die Sportler, nicht die Fans entscheiden letztlich über ihren Einsatz, sie hat sich unter Mithilfe menschlicher Handlanger – mit sicher oft gutem Willen – de facto selbst inthronisiert.
Dabei lebt der Sport von seinen Unwägbarkeiten. Als Frank Lampard 2010 im Achtelfinale der WM gegen Deutschland den Ball unter die Latte nagelte und dieser einen Meter hinter der Torlinie aufschlug, um Neuer danach vor die Füße zu fallen, da war die Ungerechtigkeit der menschlichen Wahrnehmung mit den Händen zu fassen. Torlinientechnik – die keine menschliche Interpretation verlangt – hätte dies verhindert. Hier scheint der Einsatz der Technik sinnvoll. Dennoch verliert der Fußball auch dadurch etwas Wesentliches!
Ein Wembley-Tor ist nun nicht mehr möglich. Die Fußballgeschichte hätte vielleicht umgeschrieben werden müssen, die Engländer hätten einen nationale Identität stiftenden Mythos weniger … aber der Welt wäre auch ein mehr als fünf Jahrzehnte währender Streit, eine Diskussion, ein ewiger Witz verloren gegangen.
Der Fußball lebt auch von seinen Mythen, den Erinnerungen, den Geschichten, Legenden und Verzauberungen, die einen Eigenwert besitzen. Maradonas „Hand Gottes“ gehört zur Magie dieses genialen Spielers dazu, kein anderer hätte dies tun können, keinem anderen wäre es vergeben worden, der VAR hätte es verhindert und sogar die rote Karte zur Folge gehabt, Argentinien wäre nicht Weltmeister geworden …
Zum Fußball gehört die schöne Ungerechtigkeit. Nicht im technischen Sinne, denn man kann ihn auch mit all diesen Desillusionierungen spielen, aber Zauber geht partiell verloren. Der Gewinn an Präzision wird durch einen viel größeren Verlust an Magie, Mythos und Mehrdeutigkeit erkauft.
Zuletzt aber ist der Videobeweis ein Triumph der social-justice-Ideologie, des linken und woken Gerechtigkeitswahns. Er soll uns suggerieren – und natürlich wird nicht unterstellt, daß dies allen Befürwortern bewußt ist –, daß es so etwas wie eine absolute Gerechtigkeit, daß es überhaupt Gerechtigkeit gäbe und gebe. Diese wird zur Norm und zum Telos erklärt. Der VAR ist Teil einer globalen Entwicklung hin zur großen Uniformierung, sein Geburtsjahr ist das Jahr 1984.
Dabei ist es gerade ein Spiel wie der Fußball, der – wie wir oben an den zahlreichen neuen Widersprüchen und Ungerechtigkeiten gesehen haben – nicht nur ohne Ungerechtigkeit nicht existieren kann, diese ist vielmehr seine tatsächliche Substanz und tief in seine DNA eingeschrieben, der uns zudem lehrt, daß die starrsinnige Ausrottung von Ungerechtigkeiten nur neue Ungerechtigkeiten hervorbringt. An diesen können Hypersensibilisierte genauso oder sogar mehr leiden, wie ehedem die Abgehärteten – die „Befreiungs“ideologien der “LGBTQ+” oder „BLM“-Bewegung leben uns dies in der freiesten aller Welten paradigmatisch vor.
Hier offenbart der VAR sein sozialistisches Element – ein Beispiel dafür, wie die Gerechtigkeitsideologien ihr süßes Gift nahezu unbemerkt bis in die unsichtbaren Kapillare der Gesellschaft verteilen.
Die Ungerechtigkeit ist dem Fußball deshalb eingeschrieben, weil es sich um ein Wahrscheinlichkeitsspiel handelt. Denn alles, was eine Mannschaft durch Strategie und Taktik, Physis und Psyche, durch individuelle technische Fertigkeiten und Finten erreichen kann, ist, die Wahrscheinlichkeit auf einen Sieg zu erhöhen.
Die „Ungerechtigkeit“ liegt im Tore-Prinzip begründet. Auch 80% Ballbesitz und 30 Torschüße garantieren keinen Sieg: das Tor kann verrammelt sein, es gelingt kein Erfolg und ein einziger Gegenstoß der an sich unterlegenen Mannschaft, ein einziger Torschuß, ein ungeschicktes Foul, eine strittige Schiedsrichterentscheidung kann sogar zur Niederlage führen. Wollte man den Fußball wirklich gerecht machen, dann müßten solche Szenarien verunmöglicht werden.
Es gibt nur einen Weg, den Fußball aus dieser Richtung zu retten (seine Probleme sind im Profibereich natürlich vielfältiger): zurück zum Männersport – den natürlich auch Frauen spielen und pfeifen können – mit mannhaften Entscheidungen und Fehlentscheidungen, mit Mannsbildern, die fluchend das Feld verlassen, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen, und die diese Wut herunterschlucken, um es beim nächsten Mal wieder zu riskieren, da sie einen imaginären Vorvertrag unterschrieben haben – vergleichbar dem Fiktionsvertrag in der Literatur –, mit diesen Unwägbarkeiten umzugehen und sie akzeptieren zu können.
In der Welt der Ungerechtigkeiten hilft zudem sehr oft die ausgleichende und zufallsverteilte Gerechtigkeit; heute ich, morgen du, heute Geoff Hurst, morgen Frank Lampard …
Maiordomus
Es wird auch mit dem VAR "gestohlene Resultate" geben, Mannschaften, mit der oben beschriebenen Wut, die hoffen, nächstes Mal bei den Glücklichen zu sein. Die vorgebrachten Argumente scheinen mir für den Amateursport, bei dem der Aufwand unverhältnismässig wäre, zutreffend, den Reiz desselben stärkend. Wenn es nun mal um Millionen geht, im Einzelfall die wirtschaftliche Existenz eines Vereins, z.B. bei Qualifikation für internationale Wettbewerbe, müssten nun mal die juristisch denkbaren Massnahmen für gerechte Entscheidungen, wie sie technisch immerhin ohne allzu grosse Probleme heute möglich sind, einbezogen werden. Wenn man denkt, dass in der Leichtathletik und im Skilauf nun mal auch die Elektronik vielfach über Sieg oder Niederlage entscheidet, wiewohl manchmal, so. beim Hochsprung, auch mit dem Stab, oft ein Minimum an Spannung in der Latte entscheidet, ob der Sieg oder gar Weltrekord geschafft worden sei: wenn die Latte das einemal fällt, das anderemal nicht, ist das dann einfach so. Und natürlich war das dritte Tor (1966) wie das dritte Reich für Deutschland ein einmaliges Verhängnis, das wenigstens im Fussball technisch zu verhindern kein Weltuntergang wäre.