Hat man seine Botschaft allerdings wirklich verstanden, wenn man jemanden wie Robert Habeck das Vorwort zu einer Neuausgabe von 1984 schreiben läßt?
Wer denkt, daß zu Orwell alles gesagt ist oder daß sich seine Analysen der totalitären Herrschaft auf Systeme der Vergangenheit wie Stalinismus und Nationalsozialismus beschränken, der wird von Michel Onfray, dem kontroversen »Star« unter den französischen Philosophen, eines Besseren belehrt: Der Totalitarismus lebt und ist mächtiger als je zuvor!
Onfray sieht in Orwell nicht bloß einen »Literaten«, sondern einen politischen Denker vom Rang eines Machiavelli, Hobbes oder Rousseau. Theorie der Diktatur destilliert aus Orwells Hauptwerken, Farm der Tiere und 1984, »sieben Hauptmomente«, die Onfray im »progressistischen« politischen System des Westens wiederentdeckt.
Sie lauten: Zerstörung der Freiheit; Verarmung der Sprache; Abschaffung der Wahrheit; Auslöschung der Geschichte; Verleugnung der Natur; Verbreitung von Haß; und schließlich »das Streben nach dem Imperium«, zu welchem Zweck man »Kinder formatieren, die Opposition lenken, die Eliten regieren, durch den Fortschritt versklaven, die Macht verbergen« müsse.
Diese »Hauptmomente« werden durch 34 Grundsätze verwirklicht, etwa »das Privatleben zerstören«, »Meinungen gleichschalten«, »Gedankenverbrechen anzeigen«, »Neusprache praktizieren«, »die Wörter zerstören«, »die Presse instrumentalisieren«, »falsche Nachrichten verbreiten«, »die Geschichte umschreiben«, »kritisches Denken psychiatrisieren«, »das Leben hygienisieren« und so weiter.
Nachdem man alle Punkte dieser Checkliste abgehakt hat, steht die Diagnose unzweifelhaft fest: Auch ohne Gulags, Armbinden und uniformierte Führer leben wir längst in einer totalitären Dystopie, die »weicher« und hinterhältiger, aber dafür weitaus gründlicher operiert als in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts.
Onfray, der sein Buch noch vor Beginn des aktuellen ultra-orwellianischen Pandemie-Regimes schrieb, bläst den Staub von Orwells »Klassiker«-Status und zeigt seine unheimliche Aktualität auf. Gelegentlich greift er allerdings daneben, wenn er etwa den Angriff des Regimes auf die »Menschlichkeit als solche« unter dem Grundsatz »Den letzten Menschen vernichten« rubriziert.
Dieser von Nietzsche stammende und von Fukuyama mit dem »Ende der Geschichte« verknüpfte Begriff ist hier nicht ganz passend: Offensichtlich bedarf die moderne Diktatur nicht der heroischen Parteisoldaten, sondern eher der infantilisierten, transzendenzlosen und gefügigen »Couchkartoffeln«.
Onfray hackt übermäßig auf den »sozialen Medien« herum, die in vieler Hinsicht die letzten Refugien der Meinungsfreiheit sind und deshalb auch immer stärker vom »Imperium« reguliert und zensiert werden. Und wenn er beispielsweise die Annahme, daß »dieser 11. September« ein »von den USA inszenierter Anschlag war«, als indiskutable Frucht eines »Nihilismus der Wahrheit« bewertet, dann wird deutlich, daß auch er die Dichte der Matrix noch nicht ganz erfaßt hat.
»Verschwörungstheorien« und Zweifel an allgemein akzeptierten Tatsachen stehen oft am Anfang eines Bewußtseinsprozesses, der zu der Erkenntnis führt, in welch ungeheurem Maße die heutige Weltpolitik von Orwellschen Konzepten durchdrungen ist.
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Michel Onfray: Theorie der Diktatur, Dresden: Jungeuropa Verlag. 224 S., 22 €
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