Michel Onfray: Theorie der Diktatur

George Orwells Name ist zu einer klischeehaften Chiffre für Totalitarismus, Gehirnwäsche und Überwachungsstaat geworden.

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Hat man sei­ne Bot­schaft aller­dings wirk­lich ver­stan­den, wenn man jeman­den wie Robert Habeck das Vor­wort zu einer Neu­aus­ga­be von 1984 schrei­ben läßt?

Wer denkt, daß zu Orwell alles gesagt ist oder daß sich sei­ne Ana­ly­sen der tota­li­tä­ren Herr­schaft auf Sys­te­me der Ver­gan­gen­heit wie Sta­li­nis­mus und Natio­nal­so­zia­lis­mus beschrän­ken, der wird von Michel ­Onfray, dem kon­tro­ver­sen »Star« unter den fran­zö­si­schen Phi­lo­so­phen, eines Bes­se­ren belehrt: Der Tota­li­ta­ris­mus lebt und ist mäch­ti­ger als je zuvor!

Onfray sieht in ­Orwell nicht bloß einen »Lite­ra­ten«, son­dern einen poli­ti­schen Den­ker vom Rang eines Machia­vel­li, ­Hob­bes oder Rous­se­au. Theo­rie der Dik­ta­tur destil­liert aus Orwells Haupt­wer­ken, Farm der Tie­re und 1984, »sie­ben Haupt­mo­men­te«, die Onfray im »pro­gres­sis­ti­schen« poli­ti­schen Sys­tem des Wes­tens wiederentdeckt.

Sie lau­ten: Zer­stö­rung der Frei­heit; Ver­ar­mung der Spra­che; Abschaf­fung der Wahr­heit; Aus­lö­schung der Geschich­te; Ver­leug­nung der Natur; Ver­brei­tung von Haß; und schließ­lich »das Stre­ben nach dem Impe­ri­um«, zu wel­chem Zweck man »Kin­der for­ma­tie­ren, die Oppo­si­ti­on len­ken, die Eli­ten regie­ren, durch den Fort­schritt ver­skla­ven, die Macht ver­ber­gen« müsse.

Die­se »Haupt­mo­men­te« wer­den durch 34 Grund­sät­ze ver­wirk­licht, etwa »das Pri­vat­le­ben zer­stö­ren«, »Mei­nun­gen gleich­schal­ten«, »Gedan­ken­ver­bre­chen anzei­gen«, »Neu­spra­che prak­ti­zie­ren«, »die Wör­ter zer­stö­ren«, »die Pres­se instru­men­ta­li­sie­ren«, »fal­sche Nach­rich­ten ver­brei­ten«, »die Geschich­te umschrei­ben«, »kri­ti­sches Den­ken psych­ia­tri­sie­ren«, »das Leben hygie­ni­sie­ren« und so weiter.

Nach­dem man alle Punk­te die­ser Check­lis­te abge­hakt hat, steht die Dia­gno­se unzwei­fel­haft fest: Auch ohne Gulags, Arm­bin­den und uni­for­mier­te Füh­rer leben wir längst in einer tota­li­tä­ren Dys­to­pie, die »wei­cher« und hin­ter­häl­ti­ger, aber dafür weit­aus gründ­li­cher ope­riert als in den drei­ßi­ger und vier­zi­ger Jah­ren des letz­ten Jahrhunderts. 

Onfray, der sein Buch noch vor Beginn des aktu­el­len ultra-orwel­lia­ni­schen Pan­de­mie-Regimes schrieb, bläst den Staub von Orwells »Klassiker«-Status und zeigt sei­ne unheim­li­che Aktua­li­tät auf. Gele­gent­lich greift er aller­dings dane­ben, wenn er etwa den Angriff des Regimes auf die »Mensch­lich­keit als sol­che« unter dem Grund­satz »Den letz­ten Men­schen ver­nich­ten« rubriziert.

Die­ser von Nietz­sche stam­men­de und von Fuku­ya­ma mit dem »Ende der Geschich­te« ver­knüpf­te Begriff ist hier nicht ganz pas­send: Offen­sicht­lich bedarf die moder­ne Dik­ta­tur nicht der heroi­schen Par­tei­sol­da­ten, son­dern eher der infan­ti­li­sier­ten, tran­szen­denz­lo­sen und gefü­gi­gen »Couch­kar­tof­feln«.

Onfray hackt über­mä­ßig auf den »sozia­len Medi­en« her­um, die in vie­ler Hin­sicht die letz­ten Refu­gi­en der Mei­nungs­frei­heit sind und des­halb auch immer stär­ker vom »Impe­ri­um« regu­liert und zen­siert wer­den. Und wenn er bei­spiels­wei­se die Annah­me, daß »die­ser 11. Sep­tem­ber« ein »von den USA insze­nier­ter Anschlag war«, als indis­ku­ta­ble Frucht eines »Nihi­lis­mus der Wahr­heit« bewer­tet, dann wird deut­lich, daß auch er die Dich­te der Matrix noch nicht ganz erfaßt hat.

»Ver­schwö­rungs­theo­rien« und Zwei­fel an all­ge­mein akzep­tier­ten Tat­sa­chen ste­hen oft am Anfang eines Bewußt­seins­pro­zes­ses, der zu der Erkennt­nis führt, in welch unge­heu­rem Maße die heu­ti­ge Welt­po­li­tik von Orwell­schen Kon­zep­ten durch­drun­gen ist.

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Michel Onfray: Theo­rie der Dik­ta­tur, Dres­den: Jun­g­eu­ro­pa Ver­lag. 224 S., 22 €

 

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Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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