Gruppenidentitäten zu instrumentalisieren, sind der Hintergrund für den Boom, den das Thema in letzter Zeit erlebt. In der Vielfalt der Antworten, die auf die Frage »Wer bin ich?« möglich ist, steckt erhebliches politisches Mißbrauchspotential.
Die Fülle an Aspekten und Widersprüchen von der (teilweise gewählten) Ich-Identität über Gruppen-Bindungen (Religion, Familie, sexuelle Orientierung und so fort) bis hin zu nationalen Prägekräften spiegelt sich im speziellen in den Konflikten um Rasse und Rassismus.
Wie wenig konsistent die Argumentation vieler Linken ist, zeigt die Tatsache, daß von dieser Seite die Existenz von Rassen einerseits gerne geleugnet und als bloße Fremdzuschreibung ohne eigentliches Fundament betrachtet wird; andererseits steigt indessen die Menge herbeiphantasierter Rassisten von Jahr zu Jahr kontinuierlich, ohne die die ganze Blase der Linksidentitären besonders an den kulturwissenschaftlichen Fakultäten der Universitäten arbeitslos wäre.
Die neueste von dem aus Ägypten stammenden Publizisten und Bestsellerautor Hamed Abdel-Samad verfaßte Schrift hebt sich von vielen Darstellungen dadurch ab, daß sie eine andere als die hypermoralisch-emotionale Herangehensweise pflegt. Sie geht sachlich-reflektiert vor. Auch eigene Erfahrungen kommen zur Sprache.
Der Autor kam bereits als Sohn eines Imams mit antichristlichen Affekten in Berührung. Später wurde er von Muslimen als zu wenig islamisch gebrandmarkt, im Westen wiederum manchmal als Fremder ausgegrenzt. Er weiß, daß er selbst nicht ganz frei von solchen diskriminierenden Neigungen ist. In 20 Thesen versucht er eine multifaktorielle Analyse, deren Ausgewogenheit hervorsticht.
Der Zugang des Autors zeigt sich nicht zuletzt in der Einordnung entsprechender Phänomene im Sinne einer anthropologischen Konstanten. In der Evolutionsgeschichte war die Abgrenzung von Angehörigen anderer Gruppen oft überlebenswichtig. Angst und Demütigungen waren und sind nicht zu unterschätzende Triebfedern des Verhaltens. Dieses Faktum ist aber kein Grund, Vorstellungen grundsätzlicher Überlegenheit aufgrund der Zugehörigkeit zu bestimmten Kommunitäten nicht kritisch zu beäugen.
Erfreulich ist, daß ein politisch unkorrekter Beobachter wie Abdel-Samad auch die ostentativen linken Rassismus-Verächter unter die Lupe nimmt und ihnen den Spiegel vorhält. Die inhärente Dialektik von deren Argumentation ist offenkundig: Diejenigen, die sich vermeintlich besonders um Migranten und Farbige sorgen und am liebsten die ganze Sprache neu schaffen würden, um Diskriminierungen zu vermeiden, sind besondere Feindbildproduzenten: Die bereits sprichwörtlichen alten wie einheimischen weißen Männer sind nur ein Objekt ihrer mitunter heftigen Attacken. Der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse gehört zu denen, die ein Lied davon singen können.
Natürlich kann Abdel-Samad nicht jedes Zugeständnis an die Wächter des Rassismus-Diskurses vermeiden. So hat sich der ehemalige US-Präsident Donald Trump, anders als Abdel-Samad schreibt, mitnichten über alle Mexikaner negativ geäußert, sondern in erster Linie Mitglieder der Gang MS-13 angegriffen, die für viele Straftaten in seinem Land verantwortlich sind.
Abdel-Samad versucht, einen Ausweg aus den verfahrenen Debatten aufzuzeigen. Dabei schließt er an Vorstellungen anderer liberaler Intellektueller wie des NZZ-Chefredakteurs Eric Gujer und des US-Politologen Francis Fukuyama an: Der öffentlich heftig Angefeindete fordert einen aufgeklärten Individualismus, der die Freiheit, Zugehörigkeiten zu wählen und subjektiv zu hierarchisieren, in den Mittelpunkt rückt; weiter macht er sich für eine empathische Gesellschaft stark, die er jenseits utopischer Vorstellungen ansiedelt.
Eine differenzierte Lektüre, die unbedingt zu empfehlen ist!
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Hamed Abdel-Samad: Schlacht der Identitäten. 20 Thesen zum Rassismus – und wie wir ihm die Macht nehmen, München: dtv 2021. 141 S., 14 €
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