Ein Thema zieht sich durch das gesamte Werk des Nationalökonomen Wilhelm Röpke: die tiefe Abscheu vor den furchtbaren Ereignissen der beiden Weltkriege und vor der Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus und des Sowjetkommunismus.
1899 in Schwarmstedt bei Hannover geboren, war er dazu verdammt, all das hautnah mitzuerleben, und sein Schaffen als Wissenschaftler läßt sich zusammenfassen als den Versuch, eine Gesellschaftsordnung zu finden, die ein erneutes Abgleiten der Völker in die Barbarei verhindern würde.
Schon rein äußerlich war sein Lebensweg mit den Katastrophen seiner Zeit verwoben. Nachdem sein Bruder 1917 gefallen war, nahm er 1918 als 18jähriger Fahnenjunker im Füsilier-Regiment Nr. 73 am Unternehmen »Michael« an der Westfront teil. Dort diente auch Ernst Jünger, aber dessen Kriegsbegeisterung teilte Röpke keineswegs, im Gegenteil, er führte sie später vielmehr gerne als Beweis für die Dekadenz der deutschen Intelligenz an.
Nachdem er mit 24 Jahren Deutschlands jüngster Professor geworden war, engagierte er sich mindestens seit 1930 gegen den aufkommenden Nationalsozialismus, verteilte Flugblätter und warnte in Vorträgen vor einer rücksichtslosen Diktatur durch die Nazis. Sein Engagement führte am 25. April 1933 zu seiner Entfernung aus dem Lehramt an der Universität Marburg. Noch im selben Jahr floh er aus Deutschland.
Nach einer Zwischenstation an der Universität Istanbul lehrte er ab 1937 als Professor für Wirtschaftsfragen am Genfer Hochschulinstitut für internationale Studien, wo er bis zu seinem Tod im Jahre 1966 blieb. Dort entstand die wichtige Trilogie aus den Büchern Gesellschaftskrisis der Gegenwart (1942), Civitas humana (1944) und Internationale Ordnung (1945), in denen er sich mit dem Verfall der westlichen Zivilisation und der sich daraus ergebenden Gefahr des Kollektivismus auseinandersetzte.
Röpke war ein Neoliberaler im ursprünglichen Sinne des Wortes – ehe der Neoliberalismus zu einem Modeschimpfwort wurde. Den Laisser-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts lehnte Röpke dementsprechend ab. Stets war er auf der Suche nach einem »Dritten Weg«, nach einer Gesellschaftsordnung, die weder eine reine Markt- noch eine reine Planwirtschaft sein dürfe, da nur so ein Abgleiten in den Kollektivismus verhindert werden könne.
In Deutschland kann man die Ordoliberalen um Walter Eucken zum Neoliberalismus zählen. Es ist nicht üblich, Wilhelm Röpke direkt dem Ordoliberalismus zuzurechnen. Gemeinsam ist Röpke und den Ordoliberalen das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer Ordnung, in die die Marktwirtschaft eingebettet werden müsse, damit sie nicht pervertiert und zu Vermachtungen und Ungleichheit führt. Da Röpke sich, anders als Eucken, vor allem mit den zwischenmenschlichen Bindungskräften befaßte, die eine freie Gesellschaftsordnung benötigt, ordnet man ihn in der Regel mit Alexander Rüstow dem »soziologischen Neoliberalismus« zu. Mit Rüstow hatte Röpke in Istanbul mehrere seiner Werke gedanklich vorbereitet.
Röpke gilt als einer der geistigen Väter der Sozialen Marktwirtschaft. Es ist bekannt, daß Ludwig Erhard noch während des Krieges Röpkes Trilogie las und davon begeistert war. Später entwickelte sich auch eine Korrespondenz zwischen den beiden, aber Röpkes direkter Einfluß auf Erhard ist eher gering einzuschätzen, da dieser seine Ideen im wesentlichen schon zuvor entwickelt hatte. Als Erhard Röpke ein (einziges) Mal um eine Regierungsberatung bat, lehnte dieser aus Zeitgründen ab.
Röpke scheint aber insofern direkten Einfluß auf die deutsche Wirtschaftspolitik genommen zu haben, als Adenauer durch die Lektüre einiger von Röpkes Schriften darin bestärkt wurde, Erhard im Wirtschaftsrat des Vereinigten Wirtschaftsgebietes und später im ersten Kabinett zu unterstützen. Außerdem schrieb Röpke 1950 auf Bitten Adenauers ein Gutachten über Erhards Wirtschaftspolitik. Das Gutachten war sehr positiv, was die Position Erhards beim schwankenden Adenauer offenbar wieder stärkte.
Was Röpke von anderen Neoliberalen unterscheidet, ist seine strikte Ablehnung alles Kolossalen in Wirtschaft und Gesellschaft. Gemeinschaftsleben und menschliches Maß waren Triebfedern seiner Arbeit. Gleichzeitig war der Kampf gegen alles Erhabene nach dem Zusammenbruch 1945 für ihn nur schwer erträglich.
Der bekannte Satz Le Corbusiers, daß der Kern unserer alten Städte mit ihren Domen und Münstern zerschlagen und durch Wolkenkratzer ersetzt werden müsse, drückte für Röpke pointiert aus, worauf die Denkweise seiner modernen Zeitgenossen hinauslief. Sie würden »jener abscheulichen Mentalität des ›Avantgardismus um jeden Preis‹ näherstehen, als sie ahnen« (Maß und Mitte, S. 161).
Charakteristisch für Röpke ist folgende Passage: »Eine gesunde und fest in sich selbst ruhende Gesellschaft besitzt eine echte ›Struktur‹ mit vielen Zwischenstufen; sie weist einen notwendigen ›hierarchischen‹ (d. h. nach den gesellschaftswichtigen Funktionen, Leistungen und Führerqualitäten gegliederten) Aufbau auf, in dem der einzelne das Glück hat, zu wissen, wo er steht.
Während eine solche Gesellschaft sich auf die gruppierende Funktion echter, mit menschlicher Wärme erfüllter Gemeinschaften (der Nachbarschaft, der Familie, der Gemeinde, der Kirche, des Berufes) stützt, hat sich die Gesellschaft in den letzten hundert Jahren von einem solchen Ideal immer weiter entfernt und sich in Haufen von abstrakten Individuen aufgelöst, die als Menschen ebenso einsam und isoliert wie als bloße soziale Funktionsträger termitenartig zusammengepreßt sind.« (Gesellschaftskrisis, S. 23)
Der Kapitalismus, wie er im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert verwirklicht war, trägt für Röpke einen großen Teil der Schuld an der Vermassung der Menschheit und damit auch – das ist besonders wichtig – an der Entstehung des Kollektivismus.
Die klassischen Liberalen hätten vergessen, daß eine Gesellschaft ohne vertikale und horizontale Gliederung nicht bestehen könne und daß ein Gesellschaftssystem, »dessen Ordnungselement allein die Freiheit ist, der Auflösung und dann dem Despotismus anheimfällt« (Gesellschaftskrisis, S. 71). Freiheit ohne Bindung werde irgendwann zur ärgsten Unfreiheit. Der Markt alleine erzeuge keine echte Gemeinschaft, vielmehr finde durch ihn lediglich »Pseudointegration« statt. Er sorge für die »Zermahlung der Gesellschaft in den Sandhaufen der Individuen« und in der Folge, unterstützt durch die sozialstaatlich organisierte Massenversorgung, für deren »Zusammenballung und Verklumpung in ungegliederten […] Massengebilden« (Gesellschaftskrisis, S. 24).
Man sollte aus diesen Aussagen nicht folgern, daß Röpke ein grundsätzlicher Gegner der Marktwirtschaft gewesen wäre. Wer sich vom Gegenteil überzeugen will, lese seine heute noch empfehlenswerte Einführung in die Nationalökonomie mit dem Titel Die Lehre von der Wirtschaft (1937). Röpkes Kritik richtet sich nicht gegen den Markt an sich, sondern einzig gegen seine Verabsolutierung. Denn daraus folgten zugleich die Vereinzelung und die Vermassung der Menschen, und dies wiederum sei der Nährboden für Sozialismus und Faschismus.
Den Markt kann und soll man nach Meinung Röpkes nicht absolut setzen, weil er nicht autonom ist. Damit er funktioniert, müssen außerwirtschaftliche Bedingungen erfüllt sein. Die unsichtbare Hand des Marktes sei nämlich keineswegs ein »Naturgewächs«, wie viele klassische Liberale annähmen, sondern »in Wahrheit ein höchst gebrechliches Kunstprodukt der Zivilisation« (Gesellschaftskrisis, S. 85).
Im folgenden Ausspruch, der an das Böckenförde-Diktum erinnert, wird Röpkes Position besonders deutlich: »Während wir heute wissen (was man immer hätte wissen können), daß die Konkurrenzwirtschaft ein Moralzehrer ist und daher Moralreserven außerhalb der Marktwirtschaft voraussetzt, war man verblendet genug, sie für einen Moralanreicherer zu halten.« (Gesellschaftskrisis, S. 86)
Es war laut Röpke der entscheidende Fehler des »historischen Liberalismus«, das übersehen zu haben. Indem dieser die Marktwirtschaft sich selber überlassen habe, sei er mitverantwortlich für die »Pervertierung der wirtschaftlichen Entwicklung«, für die »monströsen Industriereviere und Großstädte«, für »Monopole, Mammutindustrien, Aktiengesellschaften, Holdinggesellschaften, Massenfabrikation, Proletariat usw.« (Gesellschaftskrisis, S. 87 u. 178), kurz, für den »Kult des Kolossalen«, der dem Kollektivismus den Weg bereite.
Viele Liberale könnten sich den Kapitalismus gar nicht mehr anders als unter diesen Bedingungen vorstellen und klammerten sich entsprechend daran. Aber genau das sei das beste Futter für Sozialisten und Kollektivisten. Denn indem Liberale das bestehende System verteidigten, machten sie sich zu Apologeten einer pervertierten Marktwirtschaft, die durchsetzt sei von Ungleichheiten und wirtschaftlichen Machtpositionen, die nicht auf wirtschaftlichen Leistungen, sondern auf ökonomisch nicht legitimierten Privilegien beruhten.
Wenn also der Staat keine vernünftige Rechtsordnung bereitstelle, welche alle Privilegien beseitige und Vermachtungen im Marktprozeß verhindere, könne die Marktwirtschaft dauerhaft nicht funktionieren: Sie pervertiere. Man müsse sich an den Gedanken gewöhnen, daß ein gesundes Wirtschaftsleben auch ohne Holdinggesellschaften, rechtlich geschützte Patente und Monopole, ja sogar ohne Aktiengesellschaften und GmbHs vorstellbar sei.
Insbesondere staatlich gewährte Haftungsbeschränkungen führten zu Kapitalzusammenballungen und Betriebskonzentrationen und förderten die wirtschaftliche Vermachtung. Auch Eucken wies übrigens an zentraler Stelle auf die gefährlichen Folgen von Haftungsbeschränkungen und ähnlichen Privilegien hin. Gesetzlich berücksichtigt wurden diese Warnungen jedoch nie.
Es ist mit Nachdruck zu betonen, daß Röpke im modernen Sozialstaat keineswegs die Lösung für die Vermassung und die Proletarisierung der Gesellschaft erblickte. Im Gegenteil: Die übliche »fortschrittliche Sozialpolitik« steuere einen wesentlichen Teil zur Verschlimmerung des Problems bei: »Blind dagegen, daß die Wurzel des Übels nicht im Materiellen, sondern in der Proletarisierung zu suchen, die Arbeiterfrage also in erster Linie eine Persönlichkeitsfrage ist, hat jene Sozialpolitik nur zu oft die Lösung darin gesucht, durch eine immer umfassendere und eine wachsende Sozialbürokratie ins Leben rufende Sozialgesetzgebung, […] durch eine ungehemmte Politik der Lohnerhöhung und Arbeitszeitverminderung […] an den Symptomen herumzukurieren, ohne die Heilung des Grundübels auch nur ins Auge zu fassen.« (Gesellschaftskrisis, S. 351)
Sozialreformer wie klassische Liberale übersähen die kulturellen und moralischen Voraussetzungen eines gesunden Wirtschaftslebens. Ihr fortwährender Streit drehe sich um »Fragen des ökonomischen Geldkalküls« und gehe daher völlig am Kern des Problems vorbei. Eigentliches Ziel müsse der Abbau des Proletariats, die Wiedererlangung der wirtschaftlichen Unabhängigkeit der einzelnen sein.
Wie sah nun aber Röpkes Rezept gegen den Kult des Kolossalen aus? In seinem Buch Jenseits von Angebot und Nachfrage (1958, 41966) empfiehlt er die verzweifelte »Therapie der Dezentralisation, der ›Wiederverwurzelung‹, der ›Entmassung‹ und der ›Entproletarisierung‹« (S. 24). Die Rettung hänge davon ab, daß sich immer mehr fänden, die inmitten der »geistig-religiösen Krise« den Mut hätten, mit sich innerlich zu Rate zu gehen und sich auf das »alte Wahre« zu besinnen (S. 25).
Interessant ist, daß die Nation in Röpkes positiven Überlegungen eine untergeordnete Rolle spielt. Es ist für ihn sogar ein Teil der Lösung, den Einfluß des nationalen Denkens einzudämmen. In seiner Autobiographie Torheiten der Zeit (1966) erwähnt er zustimmend zwei Verse aus Goethes Zahmen Xenien: »Ich bin Weltbewohner, / Bin Weimaraner.« Goethe hatte mit diesem Sprung von der Region zur Welt die Ebene der Nation und den Bezug zu Deutschland ausgelassen. Mit dem distanzierten Verhältnis Goethes zu seiner Nation identifizierte sich Röpke zeit seines Lebens. Seine moralischen Vorstellungen bewegten sich zwischen den Polen lokaler und dörflicher Bindung einerseits und universellen christlichen Werten andererseits. Was sich dazwischen befindet, die Nation und den Nationalstaat, betrachtete Röpke grundsätzlich mit Argwohn.
In Internationale Ordnung schreibt er, daß ihn die Erfahrungen auf den Schlachtfeldern Frankreichs zu einem glühenden Hasser des Krieges und des dummen Nationalstolzes gemacht hätten. Sein Antinationalismus habe ihn unwiderruflich in das Lager der Freihändler geführt, und sein Haß auf den Krieg lief schließlich auf einen Protest gegen eine unerträgliche Übermacht des Staates hinaus.
Aus Röpkes Sicht steht die Nation nämlich der Verwirklichung einer funktionsfähigen Gesellschaftsordnung in zweierlei Weise im Wege. Nach unten hemmt oder blockiert sie die Bildung funktionierender lokaler Strukturen und Gemeinschaften, die für die Verwurzelung des Menschen so wichtig sind, und zwar tut sie das durch den Hang zur Zentralisierung aller Verwaltung und Entscheidungsgewalt im modernen Nationalstaat. Nach oben verhindern der Egoismus und der Nationalismus der (oder einiger) Nationen die Schaffung eines friedlich-freiheitlichen Rahmens für internationalen Handel und weltweite Kooperation in globalen Angelegenheiten.
Was Röpke daher im Auge hat, ist »keine nationale Ordnung, die sich Selbstzweck ist und im Konfliktsfall die internationale opfert, sondern eine solche, die an der internationalen orientiert ist und sie von den untersten Stufen des Gesellschaftsaufbaus her vorbereitet und stützt« (Internationale Ordnung, S. 34). Wichtig dabei ist, daß Röpke unter Internationalisierung nicht die gedankenlose Auslagerung nationaler Politik in internationale Gremien und Organisationen verstand.
Der Idee einer europäischen Union stand er beispielsweise äußerst kritisch gegenüber, da er einen »Europäismus« voraussah, der die Unsitte der Zentralisierung von der Nation auf die europäische Ebene heben würde. Es ging ihm um eine Internationalisierung unter dem Vorzeichen einer »Dezentralisation der Macht«, es ging ihm um die Schaffung einer »föderativen Struktur«, bei der die politische Macht nur dann an die nächsthöhere Ebene übertragen werde, wenn die jeweilige Aufgabe auf unterer Ebene nicht zu lösen sei.
Röpke war sehr an internationalen Institutionen und Regeln interessiert, welche die Handlungsfreiheit der Nationalstaaten einschränken und binden würden, ohne dabei übergeordnete Tummelplätze für Politiker zu schaffen. Die Staaten sollten sich »so verhalten, als ob es einen Weltstaat gäbe«, ohne daß es tatsächlich einen gibt (Internationale Ordnung, S. 42). Als gutes Beispiel für das, was er meinte, läßt sich die Goldwährung anführen. Diese funktioniere nämlich nach eigenen, nur schwer manipulierbaren Regeln und entferne daher die internationale Geldordnung aus dem Bereich der Politik und damit der Willkür.
Röpkes Schriften können ein Ausgangspunkt für jeden sein, der eine freiheitliche Gesellschaftsordnung anstrebt, seine konservativen Werte dafür aber nicht opfern möchte. Trotzdem darf der Hinweis nicht fehlen, daß auch er das Dilemma nicht lösen konnte, in dem der Ordoliberalismus steckt.
Einerseits sehnte sich Röpke nach einer strukturierten Gesellschaft, nach Gemeinschaften und natürlichen Hierarchien. Andererseits kann eine freiheitliche Gesellschaftsordnung seiner eigenen Meinung nach nur funktionieren, wenn alle Privilegien und Machtpositionen beseitigt werden. Hier lauert ein Widerspruch.
Man kann das Dilemma auch daran erkennen, daß Röpke viel Kraft darauf verwendete, die Fehler des im 19. Jahrhundert verwirklichten Kapitalismus aufzuzeigen, dann aber bei seinen Lösungsvorschlägen auf die liberalen Institutionen ebendieses Jahrhunderts – wie zum Beispiel die Goldwährung – verwies.
Es ist bis heute eine große Herausforderung für konservative Ökonomen, an dieser Stelle über Röpke hinauszukommen.