Kritik der Woche (35): Wilderer

Bevor zur Buchmesse im Oktober der Deutsche Buchpreis verliehen wird, wurde im August eine "Longlist" von zwanzig nominierten Titeln veröffentlicht.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

Im Sep­tem­ber folgt dann eine “Short­list” aus sechs Titeln, um die Wer­be­trom­mel hef­ti­ger zu rüh­ren und den Ver­kaufs­an­reiz zu steigern.

Wie gewohnt fin­den sich in der Long­list etli­che mit­tel­mä­ßi­ge Titel und echt Nerv­tö­ten­des (etwa “Dschin­ns” von Fat­ma Ayd­emir, eine Anein­an­der­rei­hung von Migra­ti­ons­kli­schees, oder “Blut­buch” von “Kim de´l Hori­zon”, einem Trans­gen­der­men­schen, des­sen Buch in Gen­der­spra­che ver­faßt ist).

Zwei der nomi­nier­ten Bücher hin­ge­gen wur­den in den ver­gan­ge­nen Druck­aus­ga­ben der Sezes­si­on hoch­ge­blobt: Gabrie­le Ried­les “In Dschun­geln. In Wüs­ten. Im Krieg” und Rein­hard Kai­ser-Mühle­ckers “Wil­de­rer”. Letz­te­rem gilt unse­re Kri­tik der Woche.

– – –

Zeit­ge­nös­si­sche Roma­ne pfle­gen zeit­ge­nös­si­sche Befind­lich­kei­ten unter die Lupe zu neh­men. Das macht sie reiz­voll, aber zugleich so arm.

»Jun­ge Autoren« spie­geln Selbst­er­leb­tes: Wie es war, plötz­lich in einer Drei­er­be­zie­hung zu sein. Wie es sich anfühlt, wenn ande­re jene Dro­gen neh­men, wäh­rend man selbst bei die­sen bleibt. War­um Cowor­king-Spaces eine Lösung sein kön­nen, aber nicht müs­sen. Will man das wis­sen? Oder ist es nicht voll­kom­men egal?

In den Roma­nen des Schrift­stel­lers Rein­hard Kai­ser-Mühle­cker (*1982) geht es um ech­te, geer­de­te Exis­ten­zen, es geht um Exis­ten­ti­el­les. Das gelun­ge­ne Bei­spiel für den neu­en Hei­mat­ro­man: hier! Bereits in Sezes­si­on 24 (2008) hat­te Kubit­schek den Debüt­ro­man des Ober­ös­ter­rei­chers, Der Lan­ge Gang über die Sta­tio­nen, geprie­sen. Es war alles ande­re als eine fröh­li­che Geschich­te. Wie auch: Hei­mat asso­zi­iert in unse­rem Sprach­raum oft ein genu­in tra­gi­sches Schick­sal. Dies nun, Wil­de­rer, ist wie­der ein Buch, das den Leser über Tage nicht in Ruhe läßt.

Es ist die Fort­set­zungs­ge­schich­te von Frem­de See­le, dunk­ler Wald (2016), das man lesen soll­te, aber nicht muß, um sofort in den Spannungs­bogen von Wil­de­rer zu gelan­gen. Es geht um den jun­gen Jakob Fischer, einen miß­traui­schen Typen, grob­schläch­tig und kern­haft gut. Als Halb­wüch­si­ger hat­te der Bau­ern­sohn ein Kind ange­hängt bekom­men, das nicht sei­nes war. Jakobs eige­ner Vater war und ist ein Luf­ti­kus. Durch Leicht­sinn und Nach­läs­sig­keit hat er das Erbe von Jakobs Groß­va­ter ver­tän­delt. Ist er, der Vater, böse oder blöd? Es chan­giert, wie das gan­ze Per­so­nal in die­sem Buch. Die Mut­ter hat ihr Han­dy als Haupt­be­schäf­ti­gungs­uten­sil, glotzt, chattet.

Jakob, der Schwei­ger, will es bes­ser machen. Wie der Groß­va­ter einst. Der ist tot, und mit der Groß­mutter hat er auf­grund eines weit zurück­lie­gen­den Vor­falls gebro­chen. Angeb­lich hat sie ihr Erbe ohne­hin »der rech­ten Par­tei« ver­macht. (Wir wer­den sehen, was da dran ist.)

Am liebs­ten wäre Jakob ein »alt­mo­di­scher« Land­wirt, aber er weiß ja, daß ande­re Zei­ten herr­schen. Ihm ist sein Tun »unend­lich lie­ber, als vier­zig Stun­den in der Woche oder mehr arbei­ten zu gehen, wie er es frü­her zu tun gezwun­gen war.« Natür­lich plagt er sich als Selb­stän­di­ger deut­lich mehr Stun­den. Er nennt sein Leben nur nicht »Arbeit«.

Jakob trägt Kopf­hö­rer gegen den All­tags­lärm. Da ihn die übli­chen Mode­ra­to­ren mit ihren »Gute-Lau­ne-Stim­men« »zum Kot­zen brin­gen«, hört er den Klas­sik­sen­der. Dort geht es in den Wort­bei­trä­gen oft um Absur­des. Etwa um die Phi­lo­so­phie des Nichtstuns.

Da im Radio rede­ten sie von irgend­was mit Krea­ti­vi­tät und so Zeug, das […] Leu­te wie er, die im Schwei­ße ihres Ange­sichts ihr Brot ver­die­nen, für die die Gesell­schaft seit je nur Spott und Kri­tik übrig­hat­te, weil sie angeb­lich die Natur zer­stör­ten oder das Kli­ma […], sich nicht leis­ten konnten.

Jakob legt auf­wen­dig Fisch­tei­che an, spannt Zäu­ne gegen die Otter, legt Net­ze gegen die Rei­her. Er ver­sagt, die Mühe ist sinn­los. Er kann nicht unent­wegt die Tei­che bewa­chen – die Städ­ter, an die er die Tei­che ver­pach­tet, kön­nen es. Sie haben Zeit. Jakob – halb Autist, halb nai­ver Dorf­bub – ist flei­ßig, aber er hat ein paar Schwä­chen: das Bier und das Ding mit Tin­der. Und den gro­ßen Zorn, der nur sel­ten her­aus­platzt, aber wenn, dann richtig.

Jakob lernt Kat­ja ken­nen. Zufall, daß er ihr bereits auf Tin­der begeg­net war. Sie, etwas älter als er und »städ­tisch«, darf ein paar Wochen als Kunst­sti­pen­dia­tin in Jakobs Kaff ver­brin­gen. Was für eine sinn­lo­se Exis­tenz! »Ich ver­geu­de mei­ne Zeit mit etwas, das kein Mensch braucht«, gesteht Kat­ja, die brot­lo­se Künst­le­rin. Die bei­den tex­ten sich Nach­rich­ten (Jakob wort­karg und unbe­hol­fen, Kat­ja zuge­wandt und lieb) – und wer­den tat­säch­lich ein Paar.

Lebens­rausch: Die­se bei­den Unglei­chen fin­den sich, Kat­ja schnup­pert Land­luft und fin­det Gefal­len dar­an, der Hof blüht durch äußers­te Anstren­gung der bei­den auf, man stellt um auf »öko«, ein Sohn wird gebo­ren. Es könn­te ganz wun­der­bar sein. Auch, obwohl die nahe, neu­ge­bau­te Auto­bahn bestän­dig rauscht. Man kann es aus­blen­den. Aber es ist doch immer da, als Hintergrundgeräusch.

Jakob hat damals, heim­lich, Landa getö­tet, sei­ne Hün­din, weil sie trotz bes­ter Erzie­hung wil­der­te. Es gibt längst einen neu­en Hund, Axel. Er ist wie Landa sowohl Jakob als auch dem Leser ans Herz gewach­sen. Axel wird wil­dern – es ent­spricht sei­ner Natur. Jakob wird ihn stra­fen, weil es wie­der­um sei­ner Natur ent­spricht. Eine Handy­kamera wird es auf­neh­men, heim­lich. So sind die Zei­ten: Eigent­lich könn­te alles so schön sein. Aber es wird häßlich.

Was für ein mit­rei­ßen­der, tra­gi­scher Roman!

– – –

Rein­hard Kai­ser-Mühle­cker: Wil­de­rer – hier bestel­len.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (16)

brueckenbauer

29. August 2022 13:29

Die Generationenfolge erinnert ein bisschen an die "Barrings" - der Großvater hat's aufgebaut, die Eltern haben's vergeudet, der Enkel muss wieder neu aufbauen. Die Barrings waren allerdings eigentlich keine "Bauern", sondern Gutsbesitzer mit gesundem kaufmännischem Hintergrund. Bei der Beschreibung eines "dumpfen" Charakters muss der Autor sich an noch größeren Vorbildern messen lassen, wie Faulkner (The Sound and the Fury, As I lay dying) - riskant.

Niekisch

29. August 2022 14:47

"So sind die Zeiten: Eigentlich könnte alles so schön sein. Aber es wird häßlich."

Waren sie, die Zeiten, verehrte Frau Kositza, nicht schon immer so? Haben wir nicht alle schon das Lebenspendel zwischen Glück und Unglück, zwischen Schönheit und Häßlichkeit ausschlagen sehen? Wobei sich Glück und Häßliches, Unglück und Schönes sogar im Pendeln verbinden können? 

Wem es Gewinn bringt, der mag solche Romane lesen. Mir genügt das eigene, selbsterlebte Kaleidoskop. 

Kositza: Ich weiß," in unserem Lager" sparen sich viele die Schöne Kunst zwischen Buchdeckeln oder auf der Bühne. Dabei erweitert es in jedem Fall das Kaleidoskop!

Maiordomus

29. August 2022 17:19

Obwohl  "Der Schlaf in den Uhren", schon vom  eher verunglückten Titel her kaum mit den den grössten Repräsentanten der deutschen Romankunst kompatibel erscheint, so wenig wie andere in den letzten 30 Jahren erschienene deutsche Roman-Epen etwa der Liga Fontane  des Zauberbergs entsprechen können - Tellkampf vielleicht aber dem Schweizerspiegels von Inglin ähnelt, nur bezogen auf Bundesrepublik und DDR - so führt die Nichtberücksichtigung dieses Autors für die genannte Longlist  zu deren massiver Abwertung. Als Kunstwerk von Rang vermisst man überdies "Der Rote Diamant" von Hürlimann, in perfektionierter Sprachkunst wohl noch über Tellkamp einzuschätzen, wiewohl der Rang dieses wohl gelungensten Romans des Schweizers sich erst andeutet, wenn man den Text über das Toerless-Artige hinaus im dritten und zumal vierten Teil als den wohl ausdrucksstärksten Mutter-Gottes-Roman in der Geschichte des Katholizismus seit der Reformation hätte zur Kenntnis nehmen können. Sowas zwar auch nur in Betracht zu ziehen, würde sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz die Kritik aber überfordern.  

Sugus

29. August 2022 17:26

Kommentar zur formalen Gestaltung: Es liest sich besser und einfacher, wenn die Titel klar erkennbar sind. Also bitte in Anführungszeichen setzen oder nicht-kursiv, wenn der komplette Text kursiv ist.

Kositza: Ja, Sie haben recht. So hatte ich es auch eingereicht - hab bei meinen eigenen Texten aber nicht die Schlußredaktion...

Gracchus

29. August 2022 21:31

Vorgemerkt. Hürlimann: "Der rote Diamant" dito.

Nur was, @Maiordomus, ist "Liga Fontane des Zauberbergs"? Ich weiss natürlich, was Sie sagen wollen. Ich glaube auch nicht, dass Tellkamp den Zauberberg erreicht; allerdings kann man heute auch nicht mehr schreiben wie Thomas Mann. 

"Schlaf in den Uhren" halte ich für einen sehr guten Titel; ob er zum Inhalt passt, kann ich mangels Lektüre nicht wissen. 

ede

30. August 2022 00:15

Nein. Den eigenen Freund töten, das möchte ich nicht kennen lernen.

Maiordomus

30. August 2022 06:09

@Der Roman von Meinrad Inglin, dessen Frühwerk "Die Welt in Ingoldau" vor genau 100 Jahren in der Schweiz einen Literaturskandal auslöste, trägt natürlich den Titel "Der Schweizerspiegel", und bildet ähnlich wie "Der Schlaf in den Uhren" von Tellkamp die Lage der Nation in einer sehr kritischen Situation derselben ab, damals der Generalstreik sowie die Grippe und die Frage nach einer neuen Revolution nach 1948. Inglin publizierte übrigens wie Alfred Huggenberger und Josef Maria Camenzind auch während des 3. Reiches in Deutschland, was indes hinterher nur Huggenberger dann angekreidet wurde. Es handelt sich durchwegs um bedeutende Texte, so wie sich die deutsche Literatur damals nun mal keineswegs auf dem Nullpunkt befand, zumal auch im Vergleich zu dem, was heute bis einschliesslich des Büchnerpreises hochgelobt wird. 

Maiordomus

30. August 2022 08:37

@Gracchus. "Man kann heute nicht mehr schreiben wie Thomas Mann." Doch konnte Solschenizyn noch schreiben wie Tolstoi und Dostojewskij, "Das Lächeln des Buddha" in "Der erste Kreis der Hölle" ist die vielleicht akkurate Entsprechung zur Legende vom Grossinquisitor in den "Brüdern Karamasov".

Natürlich "kann" man nicht mehr schreiben wie Thomas Mann. Aber, wie Kafka und Canetti der Meinung waren, jeder erzählerische Prosatext kann noch heute auf die z.B. dann und wann von Brecht, bei wenigen Texten auch bei Böll, erreichte Vergleichbarkeit mit Johann Peter Hebel geprüft werden. Letzterer war u.a. Spezialist für Texte, die auf den ersten Blick antisemitisch wirken, bei genauerem Lesen aber kritischer sind als fast alle anti-antisemitischen Nachkriegstexte, wie es Goethe-Preisträger Peter von Matt in seiner unvergleichlich kundigen Reclam-Auswahl der besten deutschen Kurzgeschichten und Novellen unter Beweis gestellt hat. Einen Besseren in der deutschen Literatur als Hebel gibt es schlicht nicht, wiewohl natürlich der Ton von Johann Peter Hebel, weniger sein Stil, schlicht unnachahmlich bleibt. Und so gut wie Fontane "Unterm Birnbaum" schrieb, damals für die Gartenlaube, könnte man heute noch einen Dorfkrimi verfassen, wenn man es könnte. Aber keiner kann's!

Maiordomus

30. August 2022 11:31

PS. Zu Meinrad Inglin: die demokratische Schweizer Revolution im Anschluss an den Bruderkrieg der katholisch-konservativen und der liberalen Kantone mit bemerkenswerter Neutralität des preussischen Neuenburg fand natürlich 1848 statt, nicht 1948, letzteres ein damals sehr wichtigen Jubiläumsjahr mit abermals starker Abgrenzung gegen Deutschland. Inglin war für Schweizer Verhältnisse, gilt noch aus heutiger Sicht, ab 1922 einer der grössten Schriftsteller, so wie das wohl für Tellkamp zumal im Hinblick auf die östlichen Bundesländer der Gegenwart nachgesagt werden darf, ohne ihn deswegen auf die Stufe der allergrössten Meister zu stellen. Schon der Zürcher Germanist Emil Staiger, dessen umstrittene Rede von 1966 neben Gemeinplätzen einiges an Substanz enthielt, schloss nicht aus, dass vergleichbare Talente wie die grössten Genies aus der Zeit der Klassik und Romantik heute schlicht stumm bleiben würden, weil die ihnen entsprechenden kulturellen Verhältnisse nicht vorhanden seien. Das war zwar eine Vermutung meines einstigen Lehrers, über die nachzudenken sich allerdings lohnt!

Gracchus

30. August 2022 11:59

@Maiordomus: Was soll denn heißen, "wie Dostojewski und Tolstoi"? So unterschiedlich wie die beiden sind, halte ich das für unmöglich.

Wie kann Kafka ein Stück von Böll, der bei Kafkas Tod kaum geboren war, an Hebel gemessen werden?

Wer sagt, Hebel sei schlicht der beste? In welcher Kategorie? Nach welchen Kriterien?

 

Niekisch

30. August 2022 12:05

"Kositza: Ich weiß," in unserem Lager" sparen sich viele die Schöne Kunst zwischen Buchdeckeln oder auf der Bühne. Dabei erweitert es in jedem Fall das Kaleidoskop!"

Verehrte gnädige Frau, bis zu einem gewissen Zeitpunkt habe ich auch Romane gelesen, werde niemals z.B. "Der Kamerad mit den wimpernlosen Augen" von Gabriele oder "Die Memoirene des Dirk Raspe" von Drieu aus meiner Erinnerung verdrängen. Nachdem ich dann beruflich nahezu alle menschlichen Glücksmomente, Wirrnisse und Katastrophen hautnah miterleben und familiär erleiden durfte, wandte ich mich von den Romanen ab. Es betrifft also mich persönlich, sodaß ich Ihre Ansicht gerne gelten lasse. 

Laurenz

30. August 2022 13:57

@Niekisch & EK

Mir geht es eher noch extremer als Niekisch. Wenn ich mich recht erinnere, war der letzte schöne (Kriminal-) Roman, den ich las, Frau Smillas Gespür für Schnee. 2016 war ich mal 24h Stunden in Beugehaft. Da laß ich auch irgendeinen Roman aus dem Bücherregal des Untersuchungstraktes. Es kann auch sein, daß ich zwischendurch mal etwas schon gelesenes zur Entspannung zu Hand genommen hatte.

@EK

Sie können wirklich klasse wiedererzählen.

Nordlicht

30. August 2022 20:14

"Schlaf in den Uhren" ist ein tolles Buch; ich habe es in 6 Wochen schrittweise durchgelesen und werde es sicherlich in einem Jahr nochmals lesen. Vorher schaue ich aber in den "Turm", denn die "Uhren" sind mE besser zu verstehen, wenn man den Turm erinnert.

Entdeckt habe ich jetzt erst richtig Michel Houellebecq; er ist mE nobelpreiswürdig.

Tellkamp hat dafür noch 10, 15 Jahre Zeit.

Maiordomus

30. August 2022 21:26

Gracchus: Geduld, Geduld. Hebel war im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder mal ein Masstab für erzählerische Prosa, auch die Erzähltechnik der Kurzgeschichte. In jeder Generation grosser Autoren gab es solche, die sich nach Hebel orientierten. Bzw. die kürzeren Geschichten von Böll, die nicht durchwegs gelungen sind, lassen sich an ihm messen, zumal Böll grosse Stücke auf Hebel hielt; es war aber Canetti, der ihn schlechthin zum Massstab erhob.

 

Natürlich sind Schiller und Goethe sehr verschieden, aber im Vergleich zu den heutigen, damals sogar im Vergleich zu Hölderlin, hatten sie sehr viel gemeinsam. Dasselbe stimmt für Tolstoi, Dostojewskij und Solschenizyn nicht nur weitgehend weltanschaulich, auch in der Art, wie sie zum Beispiel parabolisch erzählen. Man könnte den "Mantel" von Gogol noch dazu nehmen. Habe ich mich wirklich so unklar ausgedrückt? Vgl. übrigens noch Fontane; hätte es damals schon den Hebelpreis gegeben, in den letzten Jahren zwar unwürdig vergeben, "Unterm Birnbaum" hätte ihn hochgradig verdient. Merke: Es ist nichts so fein gesponnen, es kommt doch an die Sonnen.   Das ist Hebel und Fontane in einem. 

Gracchus

31. August 2022 00:05

@Maiordomus: Dass Hebel groß ist und Masstäbe setzt, bestreite ich nicht, im Gegenteil, er ist ein absoluter Glücksfall für die deutsche Literatur und Sprache. Natürlich hat er nachfolgende Autoren beeinflusst, wie Kafka; ich vermag nun nicht zu entscheiden, wer "größer" ist - es ist ja auch immer die Individualität und Unvergleichlichkeit, die einen Dichter hervorhebt. 

Natürlich haben Tolstoj und Dostojewski Gemeinsamkeiten; die Unterschiede sind aber gravierend, weshalb es zu regelrechten Parteien gekommen ist (George Steiner: "Tolstoj oder Dostojewski"; Nabokov, der Dostojewski geschmäht, Tolstoj in den Himmel gehoben hat). 

 

Gracchus

31. August 2022 00:21

"Will man das wissen? Ist es nicht egal?" "Erfahrungsarmut" - ich würde das modifizieren und Phantasie oder Imaginationskraft hervorheben. Nach Blumenberg ist der Erzähler ein Höhlenbewohner, der zu schwächlich ist, um mit auf die Jagd zu gehen; die Erfahrungen, die er erzählerisch verarbeitet, bezieht er also aus zweiter Hand. 

Natürlich trifft das nicht auf alle Autoren zu. Aber selbst wenn Autoren aus eigenen Erfahrungen schöpfen, müssen diese erzählerisch verwandelt werden. Natürlich gibt es auch hier Ausnahmen.

Mein Vorurteil ist, dass es heutigen Autoren - abgesehen von Erfahrungen - eben auch an Phantasie mangelt. 

 

 

 

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