Der Kampf gegen rechts als Teil des »Great Reset«

PDF der Druckfassung aus Sezession 104/ Oktober 2021

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Trotz sicht- und hör­ba­ren Pro­tests vie­ler Maß­nah­men­kri­ti­ker aller Schat­tie­run­gen in Sach­sen und anders­wo scheint die Zustim­mung zu den Hand­lun­gen der eta­blier­ten Poli­tik kon­stant hoch: Im Auf­trag des füh­ren­den deut­schen Demo­sko­pie­in­sti­tuts Sta­tis­ta wur­de Mit­te Juli 2021 fol­gen­de Fra­ge gestellt: »Sind die aktu­ell gel­ten­den Coro­na-Maß­nah­men Ihrer Mei­nung nach über­trie­ben, gera­de rich­tig oder zu schwach?«

Die reprä­sen­ta­ti­ve Umfra­ge ergab die­ses Bild: 63 Pro­zent der Befrag­ten mein­ten »Gera­de rich­tig«, 16 Pro­zent plä­dier­ten für »Müß­ten här­ter aus­fal­len«, wohin­ge­gen ledig­lich 19 Pro­zent die Coro­na­maß­nah­men für »Über­trie­ben« hiel­ten. Ähn­li­che Erhe­bun­gen folg­ten von wei­te­ren Insti­tu­ten; die Ergeb­nis­se deck­ten sich.

Ein wich­ti­ger Aspekt für die hohe Akzep­tanz der Maß­nah­men dürf­ten die Über­zeich­nung und die Her­ab­wür­di­gung der Maß­nah­men­kri­ti­ker als »Coro­na­leug­ner«, »Schwurb­ler«, »Coro­na­zis« und ähn­li­ches sein: In der pau­scha­len Ein­ge­mein­dung aller Skep­ti­ker der Staats­maß­nah­men in den ent­grenz­ten »Kampf gegen rechts« fin­det die­ser sei­ne Poten­zie­rung und neue Agi­ta­ti­ons­fel­der. Er benö­tigt die­se quan­ti­ta­ti­ve Stei­ge­rung, sonst dro­hen die zu äch­ten­den »Ande­ren«, die Toxic per­sons, zur Nei­ge zu gehen.

Die ledig­lich im nega­ti­ven Moment har­mo­ni­sier­te neue Bevöl­ke­rungs­ge­mein­schaft bedarf eines mobi­li­sie­ren­den Ele­ments; der kol­lek­ti­ve Feind (»rechts«) ist für den Zusam­men­halt einer zuneh­mend ato­mi­sier­ten Gesell­schaft unver­zicht­bar. Die­ser Kampf gegen rechts, der seit dem Aus­klang der rot-grü­nen Ära Schrö­der / Fischer (1998 – 2003) als Kampf gegen Mei­nun­gen und Stand­punk­te rechts der Uni­on ange­se­hen wer­den kann, benö­tigt also für sei­ne Selbst­le­gi­ti­ma­ti­on die Gene­se neu­er Antago­nisten; einer per­ma­nen­ten Feind­bil­der­zeu­gung ent­spricht folg­lich die Aus­wei­tung der zu äch­ten­den Positionen.

Galt vor Jahr­zehn­ten eine anti­extremistische oder anti­to­ta­li­tä­re Stoß­rich­tung, wonach gewalt­be­für­wor­ten­de oder gewalt­aus­üben­de Akteu­re als »Extre­mis­ten« außer­halb des gesell­schaft­lich Akzep­tier­ten zu ste­hen hat­ten, reicht mitt­ler­wei­le die Inan­spruch­nah­me des grund­ge­setz­lich ver­brief­ten Rech­tes auf freie Mei­nungs­äu­ße­rung (sei es zur Zuwan­de­rung, sei es zu Coro­na­maß­nah­men), um ins Visier von Ver­fas­sungs­schutz­äm­tern, »Zivil­ge­sell­schaft« und eta­blier­ter Poli­tik zu geraten.

Eben­die­se Ver­schie­bung der Para­me­ter – ein­ge­lei­tet durch Rot-Grün, voll­endet durch Schwarz-Rot – hat die bis­he­ri­ge Corona­zeit geprägt. Kri­ti­ker der Coro­na­ver­ord­nun­gen von Bund und Län­dern sehen sich uni­so­no als »rechts« gerahmt, selbst wenn ihre Posi­tio­nen aus genu­in libe­ra­len / liber­tä­ren, grün-eso­te­ri­schen oder apo­li­ti­schen Ten­den­zen genährt wer­den. Der neue Kampf gegen Coro­na­maß­nah­men­skep­ti­ker ab März 2020 wur­de dem alten Kampf gegen rechts subordiniert.

Die­se Ein­ge­mein­dung war fol­gen­schwer: Men­schen, die sich an Pro­tes­ten gegen die rigi­de Maß­nah­men­po­li­tik der Bun­des­re­gie­rung betei­lig­ten (Zehn­tau­sen­de im April und Mai 2020 in Stutt­gart, 30 000 im August 2020 in Ber­lin, 45 000 im Novem­ber 2020 in Leip­zig), erfuh­ren im Nach­gang des Demons­tra­ti­ons­be­suchs, daß sie sich an »rech­ten« »rechts­ra­di­ka­len« oder »rechts­extre­men« Zusam­men­rot­tun­gen betei­ligt hät­ten, obschon die nüch­ter­ne Betrach­tung der Zusam­men­set­zung von Coro­na­de­mons­tra­tio­nen etwas ande­res unter­streicht: Es habe sich »nicht um eine, son­dern um meh­re­re, häu­fig dis­pa­ra­te sozia­le Grup­pen, die über geteil­te Men­ta­li­tä­ten ver­bun­den sind«, gehan­delt, wie in einer Stu­die fest­ge­stellt wird.

Gemein­sam sei den Demons­tran­ten, daß es sich »mehr­heit­lich um gebil­de­te Ange­hö­ri­ge der Mit­tel­schicht han­delt«, wobei eini­ge Zah­len bemer­kens­wert sind: 31 Pro­zent ver­fü­gen über Hoch­schul­rei­fe, 34 Pro­zent über einen Stu­di­en­ab­schluß, und 25 Pro­zent sind als Selb­stän­di­ge tätig, obwohl in der Bun­des­re­pu­blik nur etwa jeder zehn­te Berufs­tä­ti­ge selb­stän­dig ist; ein Beleg für die nun­mehr pre­kä­re Lage die­ser Berufssparte.

Die­se bil­dungs- und berufs­be­zo­ge­nen Details sagen für sich genom­men noch nichts über die poli­ti­sche Zusam­men­set­zung aus. Doch auch hier haben die For­scher Infor­ma­tio­nen zusam­men­ge­tra­gen: Zur Bun­des­tags­wahl 2017 war kei­ne Prä­fe­renz für Rechts­par­tei­en zu kon­sta­tie­ren. Das Feld füh­ren die Grü­nen an (23 Pro­zent), gefolgt von den »Sons­ti­gen« (21) und der Par­tei Die Lin­ke (18). Nur 15 Pro­zent sei­en 2017 als AfD-Wäh­ler in Erschei­nung getre­ten – nicht ein­mal jeder fünf­te. Die Sozio­lo­gen Nadi­ne Frei, Oli­ver Nachtwey und Robert Schä­fer ver­wei­sen schließ­lich auf »eine star­ke Ent­frem­dung von den Insti­tu­tio­nen des poli­ti­schen Sys­tems, den eta­blier­ten Medi­en und […] den alten Volksparteien«.

Die Demons­tran­ten ver­kör­per­ten einen Pro­test, der »eher von links kommt, aber stär­ker nach rechts geht«, womit die Wis­sen­schaft­ler dann zurück im Ein­klang mit der ein­heit­li­chen Medi­en­be­richt­erstat­tung sind: Nur mit einem sol­chen Schwenk kann die Inte­gra­ti­on des Kamp­fes gegen Maß­nah­men­kri­ti­ker in den über­ge­ord­ne­ten Kampf gegen rechts nach­hal­tig (d. i. hier: wis­sen­schaft­lich) abge­si­chert wer­den. Das voll­zieht sich anhal­tend seit Mona­ten, obschon Nachtwey die eige­ne Prä­mis­se inso­fern rela­ti­viert hat, als daß er im Gespräch mit dem Deutsch­land­funk die Schät­zung äußert, daß »etwa 25 Pro­zent der Stu­di­en­teil­neh­mer in Deutsch­land bei der nächs­ten Wahl die AfD wäh­len möchten«.

Von 15 auf 25 Pro­zent ist eine Stei­ge­rung, aber die­se Zah­len bele­gen an und für sich kei­nen »Rechts­schwenk« der Corona­proteste; 25 Pro­zent bedeu­tet wei­ter­hin, daß von 100 Coro­na­maß­nah­men­skep­ti­kern nur jeder vier­te AfD wäh­len wür­de und damit, im wei­tes­ten Sin­ne, als »rechts« ein­zu­grup­pie­ren wäre. Doch eben­die­se par­ti­el­le Affir­ma­ti­on rechts­of­fe­ner Ein­stel­lungs­mus­ter durch einen Teil der Corona­maßnahmenkritiker reich­te der Bun­des­re­gie­rung aus, die Coro­na­kri­se zu ihren Zwe­cken zu instru­men­ta­li­sie­ren, und das heißt as usu­al: den Kampf gegen rechts zu verstärken.

Bei der weit­hin mei­nungs­bil­den­den »Tages­schau« hieß es Ende 2020: »Die Bun­des­re­gie­rung hat ein umfas­sen­des Maß­nah­men­pa­ket für den Kampf gegen Ras­sis­mus und Rechts­extre­mis­mus beschlos­sen. Ziel der 89 Ein­zel­maß­nah­men sei es, ›unse­re wehr­haf­te Demo­kra­tie zu stär­ken‹ […]. Vor­ge­se­hen sind unter ande­rem eine inten­si­ve­re Prä­ven­ti­ons­ar­beit, eine Stär­kung der Sicher­heits­be­hör­den, schär­fe­re Straf­ge­set­ze, bes­se­re Hil­fen für Betrof­fe­ne und ein enge­rer Aus­tausch mit der Zivil­ge­sell­schaft«, wobei als »Zivil­ge­sell­schaft« im bun­des­deut­schen Kon­text oft­mals das Geflecht aus lin­ken NGOs, anti­fa­schis­ti­schen Initia­ti­ven und ent­spre­chen­den Lob­by­ver­ei­ni­gun­gen fir­miert. Auch von einem »Exper­ten­rat« ist die Rede; die­ser »soll die Bun­des­re­gie­rung zu Fra­gen der Inte­gra­ti­on, Teil­ha­be und bei der Bekämp­fung von Ras­sis­mus bera­ten«. Allein in den Jah­ren 2021 bis 2024 »sol­len ins­ge­samt mehr als eine Mil­li­ar­de Euro in die­sen Bereich fließen«.

Von Edgar Fran­ke, »Opfer­be­auf­trag­ter der Bun­des­re­gie­rung«, wird wie­der­ge­ge­ben, daß aus der Coro­na­kri­se kei­ne Demo­kra­tie­kri­se wer­den dür­fe, womit preis­ge­ge­ben wird, daß man die Poten­zie­rung des Kamp­fes gegen rechts unmit­tel­bar mit Coro­na zu ver­bin­den weiß. Die­ser Schach­zug ist das I‑Tüpfelchen auf der fina­li­sier­ten Ver­schmel­zung main­stream­po­li­ti­scher und main­stream­m­e­dia­ler Blö­cke zum polit­me­dia­len Ein­heits­block, was sich nicht zuletzt in einer über­wie­gend gleich­för­mi­gen Coro­nabe­richt­erstat­tung nie­der­schlug: Jour­na­lis­ten – ob gebüh­ren­fi­nan­ziert oder Kon­zer­nen zuge­hö­rig – sen­de­ten sel­ten kri­ti­sche Grund­im­pul­se aus, son­dern wirk­ten viel zu oft als qua­si­re­gie­rungs­amt­li­che Ver­laut­ba­rungs­or­ga­ne von Mer­kel, Spahn und Co.

Zwei undog­ma­ti­sche Den­ker der Ver­gan­gen­heit wer­den damit auf eine spe­zi­fi­sche Art und Wei­se bestä­tigt: Zum einen ist Anto­nio Gramsci zu nen­nen, der in sei­nen Gefäng­nis­hef­ten als ers­ter nach­wies, daß in moder­nen Gesell­schaf­ten kei­nes­wegs allein ein (repres­si­ver) Staats­ap­pa­rat benö­tigt wer­de, um Macht aus­zu­üben. Er ver­wies auf die zuneh­men­de macht­po­li­ti­sche Rol­le der staats­na­hen Zivil­ge­sell­schaft (»socie­tà civi­le«), die unter ande­rem Kir­chen, Schu­len, Gewerk­schaf­ten und Ein­zel­ak­teu­re umfas­se. In Coro­na­zei­ten kann dies plas­tisch hei­ßen: Druck (etwa: in bezug auf Imp­fun­gen oder auf die Akzep­tanz der Lock­down­maß­nah­men) wird nicht allein staat­li­cher­seits aus­ge­übt, son­dern durch all jene Pres­su­re groups, die sich oft­mals staats­fern wäh­nen, aber in einem gemein­sa­men Block agie­ren, wobei die Gene­ral­li­nie eine ein­heit­li­che ist; es dif­fe­rie­ren Betä­ti­gungs­fel­der und Tonarten.

Zum ande­ren ist, auf den Schul­tern Gramscis ste­hend, Lou­is ­Alt­hus­ser zu nen­nen, der den Ter­mi­nus der »Ideo­lo­gi­schen Staats­ap­pa­ra­te« (ISA) präg­te. Die ISA, die sich wie­der­um in reli­giö­se (Kir­chen), schu­li­sche (öffent­li­che, pri­va­te) und kul­tu­rel­le (Lite­ra­tur, Sport) ISA schei­den las­sen, fer­ner in die ISA der Inter­es­sen­ver­bän­de (Gewerk­schaf­ten) und der Infor­ma­ti­on (Pres­se), sind nicht Teil des repres­si­ven Staats­ap­pa­ra­tes, son­dern stel­len eine Viel­falt von Ergän­zun­gen des­sel­ben dar.

Die Tren­nung in »öffent­lich« und »pri­vat« wird zuneh­mend auf­ge­ho­ben, ver­liert also an Bedeu­tung: »Pri­va­te Insti­tu­tio­nen kön­nen durch­aus als ideo­lo­gi­sche Staats­ap­pa­ra­te ›funk­tio­nie­ren‹«, wobei man heu­te bei­spiels­hal­ber an die Ama­deu-Anto­nio-Stif­tung den­ken könn­te, die im Kampf gegen rechts eine ent­spre­chen­de Rol­le als ISA ein­nimmt. Wäh­rend nun der repres­si­ve Staats­ap­pa­rat sei­ne Zie­le mit dem Rück­griff auf sein Gewalt­mo­no­pol durch­set­ze (was in der Coro­na­kri­se dann geschah, wenn es zu har­ten Hand­lun­gen gegen Maß­nah­men­skep­ti­ker kam), wür­den die ISA »auf mas­si­ve Wei­se in ers­ter Linie durch den Rück­griff auf Ideo­lo­gie funk­tio­nie­ren, auch wenn sie« – gera­de dies wird im Coro­na­kon­text, spe­zi­ell in bezug auf Impf­kam­pa­gnen und ähn­li­ches, rele­vant – »in zwei­ter Linie durch den Rück­griff auf Repres­si­on arbei­ten, auch wenn die­se im Grenz­fall […] in einer sehr abge­mil­der­ten, ver­steck­ten, ja sogar bloß sym­bo­li­schen Gestalt auftritt«.

Eben­dies voll­zieht sich im Kampf gegen rechts im all­ge­mei­nen wie im ein­ge­glie­der­ten Kampf gegen Coro­na­maß­nah­men­kri­ti­ker im beson­de­ren: Die herr­schen­de Ideo­lo­gie samt ihren Ver­äs­te­lun­gen kann nicht »von oben«, par ord­re du muf­ti, als Richt­schnur erfolg­reich durch­ge­ge­ben wer­den, »son­dern nur durch die Instal­lie­rung von ISA, in wel­chen die­se Ideo­lo­gie rea­li­siert ist und sich wei­ter­hin rea­li­siert«. Die­ser Mecha­nis­mus prägt nicht nur die all­ge­mei­ne bun­des­deut­sche Situa­ti­on der letz­ten Jahr­zehn­te, son­dern ganz kon­kret die Set­zung der bis dato kaum ange­foch­te­nen Corona-»Narrative« seit März 2020. Eine »ganz­heit­li­che« meta­po­li­ti­sche Posi­tio­nie­rung kann aus die­sem Grund die tra­gen­de Rol­le der ISA bei der Gesell­schafts­prä­gung eben­so­we­nig aus­klam­mern wie eine Ana­ly­se der offi­ziö­sen Pro­gram­ma­tik. Die­se wird neu­er­dings unter dem Label »Gre­at Reset« zu fas­sen ver­sucht, in dem der Kampf gegen rechts inso­fern wirk­sam in Erschei­nung tritt, als daß ja jed­we­de Kri­tik an sel­bi­gem Phä­no­men­be­reich als »rechts« denun­ziert bis kri­mi­na­li­siert wird.

Mit dem »Gre­at Reset« ver­bin­det man dabei im deut­schen Sprach­raum Begrif­fe wie »Gro­ßer Neu­start« oder »Gro­ßer Neu­an­fang«. Es ist ein vages Kon­zept, »mit dem die Herr­schaft bestrebt ist, nach der Coro­na-Kri­se die ›neue Nor­ma­li­tät‹ zu orga­ni­sie­ren und ›Ver­trau­en wie­der­her­zu­stel­len‹«, wie der Phi­lo­soph Mar­tin Stob­be in der Zeit­schrift Baha­mas zusammenfaßt.

In den Wor­ten Ursu­la von der Ley­ens, Prä­si­den­tin der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on, ist Coro­na »ein gro­ßer Beschleu­ni­ger der Ver­än­de­rung, sei es in bezug auf Kli­ma, Digi­ta­li­sie­rung, Geo­po­li­tik natür­lich, aber auch die Wirt­schaft«. Die »Trans­for­ma­ti­on unse­rer Gesell­schaf­ten«, so setzt sie eine Rede vor dem World Eco­no­mic Forum (WEF; Welt­wirt­schafts­fo­rum) fort, wer­de »täg­lich schnel­ler«, wor­in sie eben­so eine »Chan­ce« wie eine »Not­wen­dig­keit« sehe.

Zieht man die übli­chen Poli­ti­ker­flos­keln ab, erhält man den Ein­druck, daß es um eine Neu­jus­tie­rung wesent­li­cher Poli­tik­fel­der gehe, nicht um einen plan­mä­ßi­gen Umbau der Welt­in­nen­po­li­tik. Und tat­säch­lich ist Abstand zu neh­men vom Über­zeich­nen der Din­ge im Hin­blick auf den »Gre­at Reset«. »Wenn eine Kri­se zuschlägt, ord­net sich der Kapi­ta­lis­mus gewöhn­lich neu«, schreibt der am King’s Col­lege Lon­don leh­ren­de Nick Srnicek mit Recht.

Das erweist sich auch bezüg­lich des »Gre­at Reset« als eine Kon­stan­te der jün­ge­ren Geschich­te. Die Kar­ten wer­den in einer Kri­se neu gemischt, ver­schie­de­ne Leit­ak­teu­re der natio­na­len und der glo­ba­len Poli­tik ver­su­chen sich dar­an, ihre Vor­stel­lun­gen der Zukunft ein­zu­brin­gen und damit die Gescheh­nis­se stär­ker als ohne­hin zu beein­flus­sen, indem rea­le Pro­zes­se (Digi­ta­li­sie­rung, Kli­ma­po­li­tik, Aus­höh­lung natio­nal­staat­li­cher Sou­ve­rä­ni­tät etc.) inten­si­viert werden.

Die­se impli­zi­te Absa­ge an den »Gre­at Reset« als Ver­schwö­rungs­pra­xis bedeu­tet kei­nes­wegs, die pro­ble­ma­ti­sche Essenz der gro­ßen Trans­for­ma­ti­on der Welt­wirt­schaft und ‑poli­tik mit unmit­tel­ba­ren Aus- und Wech­sel­wir­kun­gen auf die deut­sche Innen­po­li­tik zu negie­ren. Klaus Schwab, WEF-Motor und Vor­den­ker eines libe­ra­len »Glo­ba­lis­mus«, schreibt mit sei­nem Co-Autor im The­sen­buch Covid-19. Der gro­ße Umbruch fol­gen­des: »Vie­le von uns fra­gen sich, wann wir wie­der zur Nor­ma­li­tät zurück­keh­ren. Die kur­ze Ant­wort ist: nie.« Nun hat Schwab pola­ri­sie­ren wol­len – aber der Kern der Aus­sa­ge bleibt: Es soll kein »Zurück« geben, die (bereits län­ger in Gang gesetz­te) Trans­for­ma­ti­on der Wirt­schafts- und Lebens­wei­se wird forciert.

Schwab ist als Grün­der des »Young Glo­bal Leaders«-Programms, das nicht nur die Grü­nen-Che­fin Anna­le­na Baer­bock durch­lief, einer der Haupt­ak­teu­re des durch die »Pan­de­mie« neu­en Auf­trieb (aber auch: neu­en Wider­stand) erfah­ren­den Glo­ba­lis­mus, wenn­gleich ohne for­ma­len Rang eines natio­nal­staat­li­chen Minis­ters, Kom­mis­si­ons­prä­si­den­ten oder ähn­li­ches. Aber ist das in Zei­ten der Netz­werk­macht über­haupt noch not­wen­dig? ­Niall ­Fer­gu­son wies schon »vor Coro­na« auf neue For­men der Macht­po­li­tik hin, die sich aus dem »Ver­schmel­zen« bis­he­ri­ger Netz­wer­ke und Alli­an­zen erge­ben; ihr »Macht­po­ten­ti­al« könn­te »noch grö­ßer sein als das der tota­li­tä­ren Staa­ten des letz­ten Jahr­hun­derts«, so der bri­ti­sche Historiker.

Auf eine dezi­diert öko­no­mi­sche Gefahr im Kon­text des gro­ßen Umbruchs ver­weist der­weil der Öko­nom Max Otte. Er begreift den »Gre­at Reset« als »gro­ßen Neu­start unse­res Sys­tems«, weil man sei­tens der herr­schen­den Klas­se das Virus als Chan­ce wahr­ge­nom­men habe, ihre ohne­hin favo­ri­sier­ten Maß­nah­men in Gang zu set­zen. Otte nennt unter ande­rem »Kon­zen­tra­ti­ons­ten­den­zen« des Kapi­tals, die Ent­wick­lung hin zum »essen­ti­el­len Mini­mum des selb­stän­di­gen Mit­tel­stands« und das »Des­kil­ling« als Bau­stei­ne des »Gre­at Resets«. Unter Des­kil­ling ver­steht er, daß den Men­schen die Selb­stän­dig­keit ihrer Lebens­ge­stal­tung genom­men wer­de. Davon pro­fi­tie­ren die obers­ten Schich­ten und ihre poli­tisch han­deln­den Kooperationspartner.

Das, was man mit dem Pro­jekt­na­men »Gre­at Reset« beschrei­ben könn­te, hat also eine poli­ti­sche (Netz­werk­macht, Zusam­men­ge­hen nicht­staat­li­cher Akteu­re mit Staats­ver­ant­wort­li­chen, Macht­kon­zen­tra­ti­on an der Spit­ze usw.) und eine öko­no­mi­sche (Kapi­tal­kon­zen­tra­ti­on bei digi­ta­len Play­ern, Ver­schwin­den des Mit­tel­stan­des, neu­in­stal­lier­te Abhän­gig­keits­ver­hält­nis­se usw.) Hauptkomponente.

Man kann auf Ent­wick­lun­gen auf­bau­en, die vor Coro­na in Gang gesetzt wur­den, sieht durch das Virus indes die Gele­gen­heit, schnel­ler zum Ziel zu gelan­gen. Die poli­ti­schen Publi­zis­ten Erik Ahrens und Bru­no Wol­ters erfas­sen dem­zu­fol­ge den »Gre­at Reset« nicht als Plan­spiel und eben­so­we­nig als ideo­lo­gi­sche Pro­jek­ti­on, son­dern als »aktu­ells­te Zuspit­zung der anhal­ten­den neo­li­be­ral-glo­ba­lis­ti­schen Trans­for­ma­ti­on« der Staa­ten- und Wirtschaftswelt.

Hier­für set­ze man sei­tens der glo­ba­lis­ti­schen Eli­ten auf eine for­cier­te »Homo­ge­ni­sie­rung der Märk­te« bei kul­tu­rel­ler und macht­po­li­ti­scher Durch­drin­gung der Gesell­schaf­ten mit den (wirt­schaft­li­chen, poli­ti­schen, gesund­heits­be­zo­ge­nen, kul­tu­rel­len etc.) »Nar­ra­ti­ven« der Herr­schen­den. Der »Gre­at Reset« sei somit als ein »anlaß­be­zo­ge­ner Ver­such« zusam­men­zu­fas­sen, »die poli­tisch-öko­no­mi­sche Ord­nung des Glo­ba­lis­mus unum­kehr­bar und kri­sen­fest« abzu­si­chern, was plas­tisch bedeu­te: »Vor­an­ge­trie­be­ne Auf­lö­sung der Natio­nal­staa­ten und ihrer his­to­ri­schen Staats­völ­ker, beschleu­nig­te Par­ti­ku­la­ri­sie­rung ihrer Gesell­schaf­ten […] – kurz: Zuspit­zung aller poli­ti­schen, öko­no­mi­schen, sozia­len und ideo­lo­gi­schen Ten­den­zen der letz­ten Jahrzehnte.«

Anstatt also den »Gre­at Reset« als Ver­schwö­rungs­theo­rie (und ‑pra­xis) einer mal klan­des­tin, mal offen agie­ren­den, WEF-gestütz­ten Eli­te zu denun­zie­ren und damit das Feld poli­ti­scher Lage­ana­ly­se zuguns­ten einer per­so­na­li­siert-ver­kürz­ten Schmäh­kri­tik (gegen Schwab, Sor­os und Co.) zu ver­las­sen, müs­sen die real exis­tie­ren­den, Coro­na-über­grei­fen­den Pro­zes­se beschrie­ben und kri­ti­siert wer­den, »die in eine Art ›neo­feu­da­le Gesell­schafts­ord­nung‹ (Joel Kot­kin) mün­den«, wie der Jour­na­list Björn Harms pos­tu­lier­te: »Big Tech beherrscht die Kom­mu­ni­ka­ti­ons- und Dis­tri­bu­ti­ons­ka­nä­le, Staa­ten wer­den zum Hand­lan­ger eines ›woken‹, daten­ba­sier­ten Überwachungssystems.

Die kul­tu­rel­le Lin­ke dient als Schutz­schild vor einer ent­wür­dig­ten und ver­ar­men­den ein­hei­mi­schen Mit­tel­schicht«, was ein­mal mehr deut­lich macht, daß aus die­ser poli­ti­schen Rich­tung kein Wider­stand gegen das fal­sche Gan­ze zu erwar­ten ist, wäh­rend man sogar das schmut­zi­ge Geschäft für die Herr­schen­den über­nimmt – den Kampf gegen rechts, digi­tal wie analog.

Die­se skiz­zier­ten Ent­wick­lun­gen sind pro­ble­ma­tisch; ob sie neu­er­dings mit dem Eti­kett »Gre­at Reset« belegt wer­den oder mit einem ande­ren Begriff, ist für ihre fak­ti­sche Wir­kung nach­ran­gig. Ent­schei­dend sowohl für die poli­tisch-theo­re­ti­sche als auch poli­tisch-prak­ti­sche Arbeit im hie­si­gen Kon­text ist, daß kein »Plan« greift, der chro­no­lo­gisch durch­ge­führt wird, son­dern daß ohne­hin wir­ken­de Zeit­ten­den­zen auf bewuß­te Ent­schei­dun­gen tref­fen, die kon­kret gesetzt werden.

Ein­mal mehr gilt an die­ser Stel­le jenes Dik­tum Bernd Ste­ge­manns, wonach »es kei­ne alter­na­tiv­lo­sen Ent­schei­dun­gen geben kann, da alle Ent­schei­dun­gen von Men­schen getrof­fen wer­den und dar­um auch anders zu tref­fen gewe­sen wären« – die wohl ent­schei­den­de Quint­essenz der bis­he­ri­gen Coro­na­kri­se. Daß in ihr ein­zig und allein die poli­ti­sche Rech­te und das, was ihr zuge­ord­net wird, bekämpft wer­den, erscheint durch­aus fol­ge­rich­tig: Da es jede ande­re Form der Poli­tik »schon lan­ge auf­ge­ge­ben hat, eine Gegen­kraft wider die Groß­in­ter­es­sen der Kar­tell­kon­zer­ne« und ihrer staat­li­chen Part­ner dar­zu­stel­len, die sich qua Coro­na­kri­se das Gelän­de, das sie bereits besetz­ten, um so fes­ter sicher­ten, bleibt zwangs­läu­fig nur die Rech­te als Auf­hal­ter und Gegen­spie­ler der hege­mo­nia­len Zeit­ten­denz an sich, wäh­rend die Mehr­heits­lin­ke im Ein­klang mit der gro­ßen Zeit­ten­denz an klei­ne­ren Stell­schrau­ben dreht, obwohl objek­tiv auch lin­ke Poli­tik wider den »Gre­at Reset« ver­tret­bar wäre.

Der Deutsch-Bri­te Mar­kus Vah­le­feld legt in die­sem Kon­text auch die Dimen­si­on der Coro­na­zeit, die alte Dicho­to­mien zer­setzt, offen. Es gehe, kon­klu­diert der Autor des Blogs »Ach­se des Guten«, »schon lan­ge nicht mehr um links und rechts, son­dern nur noch um Hei­lig­tü­mer, die dem Aus­ver­kauf ent­zo­gen oder eben die im Mahl­strom des wirt­schaft­li­chen Gesche­hens auf­ge­löst wer­den sol­len. Bin­dung, Bil­dung, Gesund­heit, Alter, Geburt und Tod, am Ende auch Poli­tik, die Nati­on und Heimat«.

Dies konn­te man bereits bei einer frü­he­ren Kri­se – der Migra­ti­ons­kri­se – erken­nen, »als 2015 / 16 zwei Mil­lio­nen Men­schen nach Deutsch­land ein­dran­gen, um, wie es allent­hal­ben hieß, ›die Ren­te sicher zu machen‹«. Nach Ansicht Vahle­felds ent­spre­che dies der Agen­da eines »Neo­li­be­ra­lis­mus, der mit den Chi­ca­go-Boys, die unter Pino­chet das gesam­te Sozi­al­sys­tem Chi­les in den Ruin trie­ben, weder das poma­di­ge Aus­se­hen noch die direk­te Ren­di­te­er­war­tung gemein hat, jedoch dem­sel­ben zyni­schen Kal­kül ent­springt: Gewach­se­nes kurz und klein zu hau­en, um es bin­dungs­los, käuf­lich und für Ren­di­te ver­füg­bar zu machen«.

Zu kor­ri­gie­ren wäre bei die­ser kon­zi­sen Beur­tei­lung ledig­lich, daß man hier nicht län­ger »Neo­li­be­ra­lis­mus« im klas­si­schen Sin­ne wahr­neh­men kann, son­dern sein expli­zi­tes Fol­ge­pro­dukt: einen digi­tal­ka­pi­ta­lis­tisch über­wölb­ten Staats­mo­no­po­lis­ti­schen Kapi­ta­lis­mus (Sta­mo­kap), der von den Füßen auf den Kopf gestellt wird, bei dem also nicht dem Staat die Auto­no­mie des Han­delns obliegt, son­dern in dem er usur­pier­tes Ausführungs­organ ins­be­son­de­re digi­ta­ler Rie­sen pro­prie­tä­rer Märk­te ist.

Die­ser »pri­va­ti­sier­te Mer­kan­ti­lis­mus der Digi­tal­kon­zer­ne«, der erwie­se­ner­ma­ßen größ­ten Coro­na­nutz­nie­ßer, erfor­dert, wie Phil­ipp Sta­ab bemerkt, neue ­Alli­an­zen, deren Ent­ste­hen »der Kon­tin­genz der Geschich­te über­las­sen« ist. Doch anders, als der Ber­li­ner Arbeits­so­zio­lo­ge gou­tie­ren dürf­te, müs­sen dies unter­schied­li­che Kräf­te aus ver­schie­de­nen poli­ti­schen Spek­tren unter einer Art Richt­li­ni­en­kom­pe­tenz der alter­na­ti­ven Rech­ten sein, die einen neu­en his­to­ri­schen Block bilden.

Die­ser Block umfaßt wei­te Tei­le der just im Kampf gegen rechts gemein­sam befeh­de­ten Akteurs­grup­pen; er kann auch kon­struk­ti­ve »Quer­den­ker«, ver­nunft­ori­en­tier­te Min­der­heits­lin­ke, koope­ra­ti­ve Öko­lo­gen oder ver­schie­de­ne Regio­na­lis­ten umfas­sen, wenn sich auf ein gemein­sa­mes Pri­mär­ziel, die »Ent­glo­ba­li­sie­rung als Ermäch­ti­gung des Loka­len und Natio­na­len« (Wolf­gang Stre­eck), geei­nigt wer­den kann. Hier­zu gilt es, Schnitt­men­gen aus­zu­lo­ten und ange­sichts der durch Coro­na noch dring­li­cher gewor­de­nen Not­wen­dig­keit anti­glo­ba­lis­ti­scher Theo­rie und Pra­xis neue Wege zu gehen.

Dafür spricht auch eine wei­te­re durch die Coro­na­kri­se bewirk­te Ent­wick­lung: Denn das Dik­tum Ernst Blochs, wonach der »Jahr­markt der Zer­streu­ung« nicht nur »ablenkt«, son­dern auch »betäubt«, besaß nur solan­ge sei­ne Rich­tig­keit, wie sich der ein­zel­ne Gesell­schafts­an­ge­hö­ri­ge in die Sicher­heit der eige­nen vier Wän­de flüch­ten konn­te. In der (wei­ter­hin andau­ern­den) aktu­el­len Pha­se, in der das glo­ba­lis­tisch ori­en­tier­te Corona­maßnahmenregime in die unmit­tel­bars­ten Intim­sphä­ren (Impf­fra­gen et al.) ein­greift, ist die pri­va­tis­ti­sche Flucht in eine ver­küm­mer­te inne­re Emi­gra­ti­on künf­tig irre­al: Die Pro­ble­me wer­den frei Haus geliefert.

Wo Flucht vor den Din­gen als sol­che nicht mehr mög­lich scheint, bleibt nur die Flucht nach vorn: ins Poli­ti­sche, in Rich­tung eines »ver­ant­wor­tungs­vol­len Han­delns« für Volk und Gemein­schaft, »denn unse­re Zukunft hängt nur von uns sel­ber ab«, wie die unga­ri­sche His­to­ri­ke­rin Mária Schmidt bekräftigt.

In die­sem Sin­ne soll­te der sich ver­stär­ken­de Kampf gegen rechts als Teil des »Gre­at Reset« ins Posi­ti­ve gewen­det wer­den, indem die gemein­sam bekämpf­ten Akteu­re Unter­schie­de hint­an­stel­len und Gemein­sa­mes beto­nen: Da der Ver­lauf von Kri­sen natur­ge­mäß ergeb­nis­of­fen und ent­schei­dungs­ab­hän­gig bleibt, wären Rück­zug und Depres­si­on der Eige­nen die grund­fal­sche Ant­wort auf Vor­marsch und Repres­si­on sei­tens der anderen.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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