Am 5. September feiert der deutsche Filmregisseur Werner Herzog seinen 80. Geburtstag. Seine Lebenszeit beinhaltet knapp dreißig Jahre an deutschen Spielfilmen, die revolutionär waren und heute Klassiker sind, ebenso dreißig Jahre an Dokumentarfilmen für den englischsprachigen Markt, die die Themen seiner Filme verwandelt und massentauglicher aufgreifen. Seine Stimme, dieses ruhige, warme Timbre mit dem starken deutschen Akzent, ist bei seinem Publikum in der angelsächsischen Welt ikonisch.
In München während des Krieges geboren und in dem kleinen idyllischen Bergdorf Sachrang aufgewachsen, kam Herzog zum erstenmal mit dem Medium Film in Berührung, als während seiner Kindheit ein reisender Filmvorführer in dem einzigen Klassenzimmer der Dorfschule eine Vorstellung gab. Seine erste eigene Kamera stahl der jugendliche Herzog: »Ich betrachte es nicht als Diebstahl. Es war einfach eine Notwendigkeit. Ich hatte ein natürliches Recht auf eine Kamera, ein Werkzeug, mit dem ich arbeiten konnte.«
Den ersten eigenen Spielfilm verwirklichte er schließlich 1968 mit Lebenszeichen, einer Neuinterpretation der romantischen Erzählung Der tolle Invalide auf dem Fort Ratonneau von Achim von Arnim, dessen Handlung Herzog jedoch in den Zweiten Weltkrieg und auf die griechische Insel Kos verlegte. Den Anstoß zu diesem Schauplatz hatte vermutlich Herzogs eigener Großvater, der Archäologe und Altphilologe Rudolf Herzog, gegeben, der dort zu Beginn des 20. Jahrhunderts Ausgrabungen vorgenommen hatte. Dessen letzter noch lebender ehemaliger Mitarbeiter ist im Film in einer Nebenrolle als griechischer Dorfbewohner zu sehen.
Im Rückblick muß man Lebenszeichen als eine Art Uraufführung des Herzogschen Kosmos begreifen. Denn Herzogs Frühwerk läßt sich vor allem dann verstehen, wenn man den Einfluß der deutschen Romantik auf sein Schaffen mit einbezieht. Ganz nach dem Vorbild der Erzählung von Achim von Arnim geht es in Lebenszeichen um einen jungen Mann im Militärdienst, der dem Wahnsinn verfällt. Das ist, in allerlei Variationen, ein Grundthema der frühen Herzog-Filme.
Ebenfalls an die Bildsprache der Romantik erinnern die Wanderer‑, Gaukler- und Straßenmusikerfiguren, die sich immer wieder ominös in das Geschehen schleichen, wenn sie nicht gleich mit der Hauptfigur identisch sind. In Lebenszeichen gibt es etwa einen jungen, geheimnisvollen Zigeuner, der einen Fliegenzirkus mit sich führt und den jungen Soldaten Kartentricks vorführt.
Gegen Ende des Films – die Hauptfigur ist hier bereits dem Wahnsinn verfallen – sieht man den Zigeuner in den Straßen der griechischen Insel tanzen, und diese Verbindung von Tanz und Wahnsinn taucht in späteren Filmen Herzogs wieder auf.
Wesentlich ist Herzogs Blick auf die Landschaft. Ihre Darstellung ist dabei nicht nüchtern, nicht karg, sondern suggestiv und aufgeladen. Die Landschaft ist erhabenes Panorama und beinahe ein weiterer Protagonist. In Lebenszeichen ist sie es, die den Protagonisten in den Wahnsinn fallen läßt: Als der Soldat bei einer Wanderung mit einem Mal in ein Tal und dort in ein Meer aus kreisenden Windmühlenrädern blickt, zückt er sein Gewehr und eröffnet wie manisch das Feuer.
International bekannt wurde Herzog durch den Film Aguirre, der Zorn Gottes (1972), einen Abenteuerfilm über Konquistadoren im peruanischen Dschungel, hauptsächlich über den namensgebenden Lope de Aguirre und seine Sucher nach dem sagenumwobenen El Dorado. Historische Korrektheit ist für Herzog dabei nebensächlich, die Tagebucheinträge des Dominikanermönches und Missionars Gaspar de Carvajal beeinflussen die Handlung ebenso wie die Erzählungen rund um Aguirre, wenngleich beide zwei völlig verschiedene Reisen durch das Amazonasgebiet unternahmen.
Diese Landschaft wird zum direkten Widersacher Aguirres, ein undurchdringliches und feindseliges Gewirr aus Pflanzen, Sümpfen und reißenden Strömen. Mit der Zeit wird Aguirre selbst zu einer Erweiterung der Landschaft, ein jagendes, verrücktes Tier, nicht unähnlich den Schlangen, Affen und Papageien, mit denen sich die Reisenden herumschlagen. Diese in Wahnsinn umschlagende Getriebenheit und Gier spiegeln sich im Laufe des Films in den Gesichtszügen von niemand Geringerem als Klaus Kinski (1926 – 1991) wider.
Der Film wurde das erste von insgesamt fünf Werken Herzogs, welche in Zusammenarbeit mit Klaus Kinski entstanden. Die Anekdoten und Hintergrundgeschichten, die diese Filme dabei umgeben, sind mittlerweile wohl populärer als die daraus entstandenen Filme selbst. Kinski, der nicht lediglich ein großartiger Schauspieler, sondern auch ein egomanischer Narzißt war, verlangte häufig gigantische Gagen, bekam während der Dreharbeiten regelmäßige Tobsuchtsanfälle und versuchte mehrfach, Herzog in den filmischen Schaffensprozeß hineinzureden.
Seinen Höhepunkt erreichten die Auseinandersetzungen schließlich während der Dreharbeiten zum ebenfalls im Urwald spielenden und gedrehten Fitzcarraldo (1982), bei dem die Filmcrew nicht nur mit der widrigen Umgebung zu kämpfen hatte. Tragödien spielten sich ab, und bei Kinski, der es nur schwer ertragen konnte, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen, führten derartige dramatische Ereignisse zu Wut- und Schreianfällen. In einer besonders heftigen Auseinandersetzung drohte Herzog nach eigener Aussage, zuerst Kinski und anschließend sich selbst zu erschießen, sollte dieser, wie in einem vorangegangenen Streit angekündigt, den Dreh abbrechen.
Kinski war allerdings nicht der einzige erinnerungswürdige Schauspieler, der Herzogs Filme prägte. Mindestens ebenso wichtig war seine Entdeckung von Bruno Schleinstein (1932 – 2010), einem als geistig minderbemittelt eingestuften Berliner Straßenmusiker. Herzog heuerte Schleinstein als Hauptrolle für seinen Film Jeder für sich und Gott gegen alle (1974) an, nachdem er ihn in einer Fernsehdokumentation gesehen hatte.
Der Film dreht sich um das Findelkind Kaspar Hauser, das 1828 völlig verwirrt in der Nürnberger Innenstadt auftauchte, kaum in der Lage war, mehr als einzelne Wörter und Satzfetzen zu sprechen, und schließlich von dem Philosophen Georg Friedrich Daumer in Pflege genommen und unterrichtet wurde. Mit der Zeit offenbarte Hauser eine bizarre Geschichte über seine Kindheit: Angeblich sei er, solange er denken könne, in einem einzelnen Raum gefangengehalten worden und habe nur von Wasser und Brot gelebt, die ihm ein Unbekannter nachts hingestellt habe.
Kaspar Hausers Zurechtkommen, oder eben Nicht-Zurechtkommen, in der normalen Welt ist das Thema. Denn obwohl Hauser rasche Fortschritte beim Sprechen, Schreiben und Philosophieren macht, fällt es ihm nach wie vor schwer, das gesellschaftliche Miteinander zu verstehen.
Einen unglaublichen, fast schon schmerzhaften Quasi-Realismus erhält der Film allerdings durch die Figur von Bruno Schleinstein, der diese Fremdartigkeit nicht spielt, nicht spielen muß, weil er sie tatsächlich verkörpert. Die steife Körperhaltung, die seltsamen Manierismen, die Schwierigkeiten beim Artikulieren, der ängstlich-staunende Blick Kaspar Hausers sind authentische Verhaltensweisen Schleinsteins. Allgemein schien ihn die Grenze zwischen seiner Filmfigur und dem eigenen Ich zeitweise zu verwirren.
Herzog erzählte später, daß Schleinstein sein Kostüm oft auch nach Abschluß der Dreharbeiten anbehalten und teilweise sogar darin geschlafen habe.
Drei Jahre später schrieb Herzog ihm einen weiteren Film auf den Leib: In Stroszek (1977) ist die Hauptfigur ein Berliner Straßenmusiker (wie der reale Schleinstein), der aus dem Gefängnis entlassen wird, sich mit einer Prostituierten anfreundet und mit ihr, nach einigen schwerwiegenden Auseinandersetzungen mit ihren Zuhältern, in die USA flieht. Doch das Land der Freiheit ist zugleich ein Land ohne Stütze und ohne Sicherheit, regiert von Geschäftsmännern und Spekulanten. Der naive und etwas wunderliche Stroszek ist dem nicht gewachsen. Nachdem er sich von einem Immobilienmakler übers Ohr gehauen fühlt, überfällt er eine Bank, wird von der Polizei gejagt und begeht schließlich in einem Vergnügungspark Suizid.
Diese letzte Szene wurde über die Jahre zu einer Art kultureller Chiffre. Als Stroszek bereits tot ist, durchsuchen Polizisten den Vergnügungspark und stoßen auf ein tanzendes Huhn, eine trommelnde Ente und ein Kaninchen, das in einem Feuerwehrauto sitzt. »We can’t stop the dancing chicken«, gibt einer der Polizisten an seine Kollegen über Funk durch. Tatsächlich ist die Polizei ohnmächtig, so wie die Figuren in Herzogs Filmen am Ende immer ohnmächtig gegenüber ihren äußeren Umständen sind. Das tanzende Huhn verkörpert so etwas wie den Wahnsinn der Natur und des Daseins, eine sich ewig wiederholende Bewegung, deren Sinn und Zweck zuweilen fraglich scheinen.
Die britische Dramatikerin Sarah Kane zitierte den Satz in ihrem Theaterstück 4.48 Psychosis (hier heißt es: »the chicken’s still dancing, the chicken won’t stop«) und beging noch vor der Uraufführung des Stücks Suizid. Und auch Ian Curtis, Sänger der britischen Postpunk-Band Joy Division, soll den Film am Abend seines Freitods gesehen haben.
Stroszek zeigt die Doppelbödigkeit der Herzogschen Romantik. Seine Filme verzaubern die Welt und entzaubern sie zugleich; die Natur ist erhaben und schön, aber ebenso grausam. Der Mensch ist ihr gegenüber machtlos und machtlos gegenüber seinem eigenen Wesen, aber gleichermaßen ist er rührend, liebenswürdig und fähig zur Größe.
Ein Freund erklärte mir einmal, daß er bei der Lektüre von Adornos Jargon der Eigentlichkeit an Herzog denken mußte, allerdings in einem positiven Sinne. Denn Herzogs Bilder haben etwas »Eigentliches«, eine gewisse Klarheit und Ungebrochenheit, ein »So ist es« und ein »Dies alles gibt es also«.
dojon86
Im Alter schwindet ja meist die schnelle Begeisterungsfähigkeit der Jugend, das mag ein Grund dafür sein, dass ich die Filme Werner Herzogs liebte, wogegen mich beim modernen deutschen Filmschaffen kaum etwas wirklich begeistert hat. Nebenbei stellt sich mir die Frage, ob in Zeiten der political correctness Filme wie Fitzcarraldo, Aguirre der Zorn Gottes oder Jeder für sich und Gott gegen Alle (alle diese Filme habe ich gesehen und kann mich an sie erinnern) nicht auch modifiziert worden wären. Jeder Filmemacher im deutschen Raum wird letztlich gezwungen, sich dem Diktat der PC zu unterwerfen und das mag mit ein Grund sein, warum ich den Namen Werner Herzog bis heute kenne, aber mir so gut wie kein moderner deutscher Regisseur einfällt.