Vorbemerkung
Die machtpolitischen Ansprüche Chinas sind mit der fünften KPCh-Führungsgeneration unter Xi Jinping als inthronisiertem Generalsekretär (2012) und Staatspräsidenten (2013; seit 2018 auf Lebenszeit) unverhohlen auf Expansionskurs.
Xi propagierte gleich nach Machtantritt eine »Grandiose Wiedererweckung der chinesischen Nation«, worunter ein ökonomisch und militärisch starkes China mit Hegemonialanspruch in einer postamerikanischen Weltordnung zu verstehen ist. Sollte in Kürze tatsächlich die Herausgabe Xis politischer Verlautbarungen unter dem Titel Xi Jinping sixiang (Xi Jinpings Ideen, Xi-ismus) erfolgen, wie gerüchteweise verlautet, wäre er nach Mao der zweite chinesische Parteiführer mit einem kanonischen Werk der höchsten politischen Bedeutungsklasse.
Deng Xiaopings strategisches Motto »Verberge deine Kapazitäten und warte auf den Kairos« (taoguang yanghui) wurde bereits von der vierten Generation (Jiang Zemin, Hu Jintao) schrittweise entkräftet. Vor dem Hintergrund eines in den vergangenen drei Jahrzehnten phänomenalen wirtschaftlichen Aufstiegs in Begleitung militärischer Erstarkung weckt China mit seinem international zunehmend dominanteren Auftreten vor allem bei den unmittelbaren asiatischen Nachbarn historisch begründete Bedenken und »China threat«-Reaktionen.
Deshalb wird weltweit enormer außenpropagandistischer Aufwand betrieben, sich wörtlich als friedliebende aufsteigende Großmacht und Miterschaffer einer künftigen »inklusiven, sauberen und schönen Welt« zu präsentieren.
Im Fokus steht dabei die Meinungsmanipulation der gegenwärtigen und künftigen westlichen Eliten. Die einschlägigen Techniken dürften bekannt sein: Streuung von Desinformationen (teils kampagnenartig) über gekaufte und geneigt gehaltene Massenmedien, getarnte Internetportale und Social-media-Kanäle, Propagandaveranstaltungen in eigenen Kulturforen und ‑zentren, Brainwashing in Konfuzius-Instituten und Konfuzius-Klassen sowie Erzwingung von Selbstzensur durch Androhung von Repressalien bei Individuen und Körperschaften (Visa-Verweigerung, Boykott usw.).
In die große »Vereinigte Front« sind auch die Diaspora-Chinesen, vor allem die Akademiker unter ihnen, eingebunden. Xi Jinpings Forderung, »Chinas Geschichte lobend zu erzählen«, prägt im Westen längst den China-Diskurs. Kein Wunder also, daß sich nicht wenige westliche Intellektuelle, nicht nur die sinophilen unter ihnen, unabhängig ihrer sonstigen politischen Positionierung vom »China-Modell« eine Alternative zur gegenwärtigen US-Hegemonie und der global vorherrschenden Wirtschaftsordnung versprechen oder mit ihm zumindest sympathisieren.
Dies offenbart sich auch auf rechter Seite, z. B. in der Version 2.64 des »Arbeitsentwurfs einer Chinastrategie« der AfD, der, historische Fakten pervertierend, die Machtübernahme der KPCh 1949 als »Befreiung von der Fremdherrschaft« und als »Beendigung der Feudalherrschaft« bewundert. Als plumpe Anbiederung kann man Maximilian Krahs (MdEP AfD) Glückwunschadresse vom 22. Mai 2021 an die Autonome Region Tibet zu ihrem 70. Jahrestag verstehen.
Der KPCh ist seit Beginn der Reformära 1980 sehr daran gelegen, akademische Zirkel im Inland für sich einzunehmen, was bisher nicht immer zufriedenstellend gelang. Im Januar 2015 beschlossen ZK und Staatsrat, »Think-Tanks mit chinesischen Charakteristika« ins Leben zu rufen, um damit Chinas Intellektuelle noch besser kontrollieren und in Stellung gegen Kritiker bringen zu können.
Die Vorgabe der Partei fordert von den Wissenschaftlern bipolare Begabung ein, nämlich »Forschung ohne verbotene Zonen und [zugleich] disziplinierte Propaganda zu betreiben«. Die think tanks sollen einerseits die Zentralregierung mit Informationen über Mißstände und Widersprüche informieren und andererseits kulturelle soft power generieren, um im Ausland dem Renommee des Landes zu dienen.
In der Innen- wie der Außenpolitik bedient sich die KPCh strategischer Narrative, die es als politische Mythen zu erkennen gilt. Für ein Verständnis politischen Handelns in der VR China sollte man sich ihrer tatsächlichen wie konstruierten Historizität bewußt sein. Alle politischen Leitmythen sind zugleich historische Mythen, die fest im kollektiven Gedächtnis der traditionell geschichtsbewußten Bevölkerung verankert sind und propagandistisch jederzeit dienstbar gemacht werden können. Ziel chinesischer Außenpropaganda ist es, diese politisch konditionierte Erinnerungskultur zu globalisieren.
Vorgaben und Grenzen
Die Debatte über Chinas künftige Rolle in der Welt, im internationalen Beziehungsgefüge, wurde seit den 1950er Jahren zunächst von marxistisch-leninistischen Vorgaben und, beginnend mit der Reformperiode, mehr oder weniger von westlichen, hauptsächlich US-Theorien beherrscht. Bemerkenswerte eigenständige Ideen sucht man darin vergebens.
Es war dann Huan Xiang, ehemaliger Politberater von Zhou Enlai, der anläßlich der ersten Theorie-Konferenz zu International Relations (IR) in Shanghai 1987 dazu aufforderte, eine eigenständige Theorie, passend zu Deng Xiaopings Motto vom »Sozialismus mit chinesischen Charakteristika«, zu entwickeln. Wenige Jahre später wurde mit der Umsetzung begonnen, ohne daß sich bis heute eine offiziell erwünschte »Chinesische IR-Schule« profilieren konnte.
Die Diskussionen folgten jeweils in etwa den auf Parteikongressen propagierten Leitlinien. Die innovative Phase der IR-Debatte setzte erst 2007 mit Hu Jintaos Äußerung auf dem 17. Parteikongreß der KPCh ein, hinfort gelte als Ziel die Schaffung einer »harmonischen Gesellschaft« und einer »harmonischen Welt« auf dem Weg einer »friedlichen Entwicklung«. Die IR-Vordenker nahmen sich prompt Themen wie soft power, Multilateralismus, und friedlichen Wandel vor.
Unter Xi Jinping, ab 2013 also, veränderte sich dann die Schwerpunktlage deutlich. Neben renovierten sinomarxistischen Ansätzen (Cui Zhiyuan, Pan Wei) sind im In- und Ausland derzeit vor allem jene Konzepte besonders populär, die sich indigener Textquellen für ihre Argumentation bedienen. Dabei werden in erster Linie Texte aus Chinas Achsenzeit (722 – 221 v. Chr.), vor allem der »Periode der Kämpfenden Staaten« (464 – 221 v. Chr.) mit ihren »hundert miteinander wetteifernden Schulen«, heuristisch gelesen und als Steinbrüche für die Konstruktion von Zukunftsszenarien herangezogen.
Mit zwei Ausnahmen (Xu Jilin, Ge Zhaoguang) ist keiner der bekannteren Vordenker Historiker, geschweige denn Althistoriker. Unter den Futurologen dominieren Politologen, Sozialwissenschaftler, Ökonomen und Philosophen. Entsprechend unphilologisch fällt der Umgang mit den Texten aus. Der Stand der Quellenkritik wird ignoriert. Anachronismen sind an der Tagesordnung.
Vom Politologen und Direktor des Instituts für internationale Beziehungen an der Tsinghua-Universität (Peking) Yan Xuetong, stammt der entsprechende akademische Freifahrtschein: Futurologen hätten sich nicht um die Authentizität ihrer alten Quellen und die Historizität ihrer Inhalte zu kümmern, sie müßten die Geschichte nicht kennen, um Erkenntnisse aus ihren Quellen zu gewinnen.
Futurologen eint auch der Anspruch auf die Einzigartigkeit der chinesischen Geschichte und Kultur (Exzeptionalismus) und konsequenterweise die Hinwendung zum Post-Positivismus in den Sozialwissenschaften, der gleichbedeutend mit einer Abkehr von empirisch testbaren Regelmäßigkeiten und von Gesetzen geprägten Interpretamenten ist.
Die folgenden sechs angeblich bedeutendsten kulturellen Alleinstellungsmerkmale, von denen die ersten drei dem Altertum entstammen, geben in etwa das offizielle politische Selbstverständnis wieder: (1) »Die Einheit von Himmel / Natur und Mensch« zeitigt eine Gesellschaft, die sich vor allem um die Performanz (Leistungsbilanz) der Regierung, ihrer Übereinstimmung mit dem »Weg des Himmels« (tiandao) kümmert, und nicht allein den legitimierenden Ordnungsfaktor in Betracht zieht. (2) »Der Weg von Mitte und Maß« ist der einer großen dauerhaften Partei, die den Bedürfnissen der Gesamtbevölkerung und nicht einzelnen Interessengruppen und sozialen Klassen dient. (3) »Die Welt gehört allen« gibt die Überzeugung wieder, daß die höchste Stufe der menschlichen Selbstverwirklichung in einer allen gehörenden »Welt der Großen Einheit« erreicht wird. (4) »Elitismus« hebt die für die Staatslenkung überragende Bedeutung moralisch Beispiel setzender, große Taten vollbringender und weise Ideen verbreitender Personen hervor. (5) »Volksorientierte Philosophie« steht letztlich für eine paternalistische Regierung. (6) »China-Bewußtsein« gibt die Überzeugung wieder, das vortrefflichste Volk mit der bedeutendsten Zivilisation auf der Erde zu sein.
Gerade diese Selbstüberschätzung ist es, so der prominente Vordenker Kang Xiaoguang, der sich als Sozialwissenschaftler für die Implementierung einer »konfuzianischen Religion« einsetzt, die »Chinas Essenz« vor der »Kühnheit und den festen Überzeugungen westlicher Kultur« schützt. Man geht ferner davon aus, daß die für jeden Chinesen einsichtigen »Nationale Konditionen« (guoqing) im Westen ohnehin nicht verstanden werden können.
Um das vermeintliche Gewicht der eigenen Zivilisation noch weiter zu befördern, stellte jüngst eine akademische Monographie mit beachtlichem Medienecho die Authentizität der europäischen Antike in Frage und behauptete, ausgewanderte Chinesen seien für ihren Glanz verantwortlich gewesen. Eine andere, nicht minder wirre Studie will glauben machen, daß die westliche Moderne (Technologie, Ökonomie, Demokratie, Philosophie etc.) ihren Ursprung in China habe, über Handelswege in den Westen gelangt sei und erst China das primitive Europa auf Zivilisationsniveau gebracht habe – bis hin zu der Behauptung, der Ursprung menschlicher Zivilisation liege sowieso in Südwest-China.
Auf dem 18. Nationalen Parteikongreß im November 2012 prägte Xi Jinping auch den Bannerbegriff vom »Chinesischen Traum« (Zhongguo meng), der China »Prosperität und Stärke« und der Gesellschaft »Demokratie«, »Zivilität« und »Harmonie« bescheren soll. Seither träumen Chinas Vordenker mit offiziellem Segen noch publikationsstärker von der Zukunft ihres Landes.
Nicht unerwähnt sollte der Umstand bleiben, daß alle futurologischen Szenarien zu Chinas Binnenentwicklung wie zu seiner globalen strategischen Zukunftsrolle völlig abgehoben von der realen Situation des Landes und seinen inneren krisenhaften Problemen erfolgen (müssen): u. a. dem alles beherrschenden crony capitalism (Kollusion von Partei, Wirtschaft und organisiertem Verbrechen in korrupten Netzwerken), einem sich anbahnenden Umweltkollaps in vielen Landesteilen, einer hohen Einkommensungleichheit (Gini-Koeffizient 2018: 0,51) und anomischen Tendenzen in der Gesellschaft, einer gigantischen Staatsverschuldung, einer andauernden Innovationsschwäche, der man durch Spionage und Erwerb innovativer Betriebe im Westen zu begegnen sucht, und bei alledem einer drohenden »middle income trap«. Imposante Zukunftsvisionen in Agitprop-Manier und ihre Diskussion sollen offensichtlich die Bevölkerung, in der es nicht an Unzufriedenheit und Unruhe mangelt, mit Erlösungsversprechen einlullen.
Der fragliche Zukunftsdiskurs manifestiert sich in einer Legion von Publikationen, die wie alle anderen Veröffentlichungen fortwährend aktualisierten Zensurbestimmungen ausgeliefert sind. Seit 2013 ist das Internet intensivster Überwachung und Kontrolle unterworfen; von Intellektuellen genutzte Plattformen werden bei Mißfallen unter Hinweis auf »Verbreitung falscher Ideen« kurzerhand geschlossen (z. B. 21com.net). Ein Satz der Kritik in Richtung Partei oder Zentralregierung kann das eigene Leben und das der Familie dauerhaft verändern.
Die gesellschaftlich allumfassende Führungsrolle der KPCh wurde erstmals im Oktober 2017 in die Partei-Charta aufgenommen. Alle öffentlichen Äußerungen haben sich seither im Einklang mit den »Xi-Jinping-Gedanken zum Sozialismus mit chinesischen Charakteristika für eine neue Ära« zu befinden. China ist, wie Zhu Anping schon 1957 während der für kritische Intellektuelle fatalen »Hundert Blüten«-Kampagne konstatierte, noch immer ein »Alles unter dem Himmel der Partei« (dangtianxia). Wer hier im Westen zwischenzeitlich seine Hoffnung auf Veränderung setzte, dachte ahistorisch und okzidental voreingenommen.
Futurologisch finalisiertes Altertum
Die Hinwendung zum Altertum bei der Suche nach Ideen und Lösungen für die Gestaltung der Zukunft ist in China keineswegs neu, sie findet sich in der Tradition utopischer Entwürfe und hat in der frühen Moderne bedeutenden Intellektuellen der Republikzeit (1911 – 1949) wie Zhang Taiyan (1869 – 1936), Deng Shi (1877 – 1945?) oder Liu Shipei (1884 – 1935) die Idee beschert, es ließen sich in den alten Texten alle wesentlichen westlichen Ideen und Institutionen entdecken. Sie behaupteten die Vergleichbarkeit der chinesischen Achsenzeit mit der griechisch-römischen Antike.
Da letztere in der Renaissance eine Wiedergeburt erfahren hatte, die zur Moderne führte, schlossen sie daraus, dies auch vom chinesischen Altertum erwarten zu können. Von dessen Wiederbelebung (fugu) versprachen sie sich letztlich eine eigenständige nationale Entwicklung. Anstoß dazu gab den Nationalisten vermutlich die Erkenntnis, daß China bis dahin der Vorstoß in die Moderne nur auf den Schultern der westlichen Mächte möglich gewesen war.
Zu den herausragenden Vordenkern, die sich gegenwärtig dem Altertum als Inspirationsquelle zuwenden, zählt Zhao Tingyang. Zhao arbeitet als Philosoph an der Akademie für Sozialwissenschaften in Peking und damit dem ältesten und größten think tank der KPCh-Parteispitze. Sein »Alles unter dem Himmel«-Modell ist das im In- und Ausland meistdiskutierte aus dieser Gruppe.
Der »Klassiker« Das Zeitgenössische des tianxia [-Modells] – Vorstellung von der Realisierung einer Weltordnung wurde von Michael Kahn-Ackermann übersetzt (in Anbetracht der streckenweise opaken Argumentation eine herkulische Leistung), der unter anderem als Seniorberater für die Hauptquartiere der Konfuzius-Institute fungiert, die zu den wichtigsten Einrichtungen chinesischer Außenpropaganda zählen. Zhao formt darin das Altertum nach den Bedürfnissen seines Zukunftsmodells – losgelöst vom Forschungsstand.
Grundsätzlich teilt sich die Gruppe der altertümelnden Vordenker in zwei Lager. Die erste und bei weitem größte Gruppe, zu der auch Zhao gehört, versucht mit umfänglichen Textzitaten ein tianxia-Modell zu konstruieren, von dem sie überzeugt ist, es könne die dominierende westlich-liberale Vorstellung einer Weltordnung durch eine friedlichere und egalitärere, chinesisch geprägte ersetzen.
Für Zhao bedeutet tianxia die ganze physisch-geographische Welt, sodann die Welt als eine Völkerfamilie und schließlich eine politische Weltordnung, als »Ontologie der Koexistenz« gedacht. Das Konzept siedelt er selbst »zwischen Idealismus und Realismus« an und nennt es im Gegensatz zu Utopia »concopia«, definiert als »realisierbare gemeinsam geteilte und genossene Welt«.
Methodologisch bedeute tianxia, so Zhao weiter, eine »Internalisierung«, eine »inklusive Welt«, insofern stellt die heutige Welt für ihn eine »Nicht-Welt« dar. Der Begriff tianxia, so Zhao, meinte traditionell das chinesische Reich und die ganze Welt und nicht den Nationalstaat, er inkludierte die Interessen anderer Länder. Mit der »Vernunft des Beziehungsnetzes« (relationaler Rationalität) wird der individuellen Vernunft, die nur nach Maximierung von Eigeninteressen strebt, eine Absage erteilt. Von höchstem Interesse müssen gemeinsame Sicherheit und Interessen sein, die Minimierung gegenseitiger Feindschaft. Existenz setzt Koexistenz voraus.
Als drittes Element wird eine konfuzianische Meliorisierung der Menschheit gefordert, die sich einer Pareto-Verbesserung, die Individuen bzw. Gruppen Vorteile ohne Nachteile für andere beschert, insofern überlegen zeigt, als sie jedem einzelnen Vorteile bringt. Als letztes Element nennt er den »vereinbarlichen Universalismus«, dessen Voraussetzung symmetrische Beziehungen sind, die auf von allen geteilten, also universalen Werten beruhen. Jeder davon abweichende Wert steht für eine persönliche Präferenz oder die von bestimmten Gruppen.
Zhao beteuert, daß dieses Konzept nichts mit Eroberung oder Hegemonie zu tun habe, da es ein freiwilliges, geteiltes und hospitables System darstelle. Wahrscheinlich, so Zhao in Abänderung früherer Positionen, bedarf es keiner Zentralregierung, da die Staaten sich selbst regieren, sondern eines von allen getragenen »Entscheidungsgremiums«, das über Verfassung, Finanzwesen, Wissenschaft, Technik und vieles mehr bestimmt. Andernorts ist dafür ein »Königsland« vorgesehen, das aufgrund seiner Größe und militärischen Potenz (in fester Ratio 6 : 3, 6 : 2, 6 : 1 zu der von großen, mittleren und kleinen Staaten) in der Lage ist, das System stabil zu halten, ohne es zu übervorteilen.
Der Politologe Liu Qing setzte Zhaos Konzept bei einer Diskussion in Beziehung zu Japans »Pan-Asianismus« vor 1945. Es könne sich potentiell daraus ein imperialistischer Diskurs entwickeln. Xu Jilin hält dem argumentativ seinen »Neuen-Tianxia-ismus« entgegen, der letztlich eine gemeinsame Weltzivilisation und ‑administration beinhaltet.
Es handelt sich dabei um eine eigenwillige Verschmelzung von Partikularismus und Universalismus. Das traditionelle »Alles unter dem Himmel« mit China im Kern dreier konzentrischer Kreise (Chinas Ökumene, Nachbarländer, Tributstaaten) wird zukunftsfähig in einem »nichthierarchischen und dezentralisierten neuen Universalismus«, einer »geteilten Universalität«.
Nicht nur Konfuzius und seine Anhänger, alle späteren Konfuzianer und mithin auch Zhao Tingyang sehen in der spirituellen »Weltordnung« der West-Zhou-Dynastie (1027 – 772 v. Chr.) den Prototyp des tianxia-Modells realisiert. Eine zweite, sehr kleine Gruppe an Vordenkern mit Ge Zhaoguang als prominentestem Vertreter weist sachkundig darauf hin, daß tianxia eigentlich eine Imagination darstellt, die vom konkreten Geschichtsverlauf zu keiner Zeit eingelöst wurde. Zhaos »Inklusive Welt«-Denken war in Tat und Wahrheit ein Denken und Handeln in den Kategorien »Innen« (Zivilisation, Chinesen) und »Außen« (unzivilisierte Barbaren).
Die politische Tradition Chinas kannte keine Gleichheit zwischen Kulturen unterschiedlicher Länder, beruhte vielmehr auf einer zivilisationshierarchischen Ordnung der bekannten Welt mit China in der Mitte als Zentrum und Höhepunkt zivilisatorischer Entwicklung, umgeben von »gekochten« (= zivilisierten, akkulturierten) und jenseits »rohen« (unzivilisierten) Barbaren. Die Geschichte der Beziehungen der Han-Chinesen zu ihren Nachbarn ist von wechselseitiger kultureller Beeinflussung und einem Nebeneinander von friedlichen wie kriegerischen Aspekten, jeweils abhängig von der eigenen militärischen Stärke und der des Gegners, geprägt.
Zhao spricht vom heutigen China als Vielvölkerstaat mit tianxia-Prägung. Bei einer ethnischen Struktur, in der die Han-Chinesen mit über 91 Prozent die Bevölkerungsmehrheit unter 56 anerkannten und 19 nichtanerkannten Ethnien aufweisen, ist dies zumindest ein fragwürdiger Begriff, besser sollte von ethnischen Minoritäten denn von »Völkern« die Rede sein.
Gänzlich unzutreffend wird das tianxia-Attribut, wenn man Chinas Politik gegenüber diesen Minoritäten, vor allem den größeren und nichtbotmäßigen unter die Lupe nimmt. Tibet und Xinjiang sind seit geraumer Zeit einer politisch gelenkten, systematischen demographischen Überwältigung durch Han-Chinesen ausgesetzt.
Ein Blick auf die Veränderungen der historischen Grenzen und die Militärgeschichte Chinas belegt zweifelsfrei einen kolonisatorischen Expansionismus mit zivilisatorischem Anspruch, eine zivilisatorische Erlösung von Nicht-Han-Kulturen durch die Han-Zivilisation, die Essenz aus einer Vielzahl von Lokalkulturen der chinesischen Ökumene. Zhaos »Whirlpool«-Formel (Kahn-Ackermann: »Mahlstrom«) von einer zivilisatorischen Zentripetalkraft, die, ausgehend von der »Zentralebene mit ihrer spirituellen Welt«, letztlich zu Wachstum ohne expansionistische Attitüde geführt habe, kann schon militärhistorisch nicht überzeugen, was ein Blick aufs Altertum zeigt.
Für die modellhafte tianxia-Ära (West-Zhou-Zeit) wird von den einzigen authentischen Schriftquellen, den Bronzeinschriften, reges kriegerisches Treiben überliefert. Es gab zahlreiche Einfälle von »Barbaren« aus allen Himmelsrichtungen sowie präemptive und reaktive Feldzüge mit Vernichtungs- und / oder Kolonisierungsabsichten gegen sie. Mit insgesamt 14 stehenden Heeresverbänden als militärischem Rückgrat gebärdeten sich die Zhou als martialische Eroberer, aber auch als Beschützer ihrer Lehensstaaten, die bei Verletzung der Lehenspflichten militärisch gezüchtigt wurden.
In der nachfolgenden »Frühling-Herbst«-Periode (722 – 464 v. Chr.) fanden dann in 258 Jahren 1211,5 größere Militärereignisse statt (solche mit »Barbaren« wurden mit 0,5 gezählt), die dazu führten, daß von 110 nur 22 Staaten überlebten. In der anschließenden »Zeit der Kämpfenden Staaten« (464 – 221 v. Chr.) fanden in 243 Jahren 488,5 Kriege bedeutend größeren Umfangs und Dauer, Levée en masse, mehrjährige Stadtbelagerungen und längere Kampagnen mit bis zu 13 Schlachten statt.
Eine wie immer geartete spirituelle Mäßigung des Verhaltens von Konfliktparteien, wie Zhao sie dem tianxia-Modell zuschreibt, ist historisch-kritisch gesehen auch für den weiteren Geschichtsverlauf nicht zu belegen. Der Blick auf den Zeitraum zwischen 960 und 1911 in Chinas größter Militärchronologie weist 1761 bedeutendere Ereignisse dies- und jenseits der Grenzen aus, also statistisch 1,8 Ereignisse pro Jahr. Nicht berücksichtigt sind hier militärische Einsätze aus Garnisonen gegen das alltägliche endemische Banditentum, die Niederschlagung lokaler Aufstände, Hunger- und Steuerrevolten.
Zu den populärsten historischen Mythen im In- und Ausland zählen die angeblich außergewöhnliche Aggressionsarmut und die Friedfertigkeit der chinesischen Gesellschaft. Dies wird auch von allen VRCh-Futurologen bedient. Nach zwanzig Jahren Quellenstudium zu Kriminalität und Alltagsgewalt in Chinas Geschichte und Gegenwart sowie einschlägigen eigenen Erfahrungen im Land mutet dieser Mythos schlichtweg bizarr an. Er fußt auf einer kollektiven Amnesie als Folgeerscheinung einer jahrhundertewährenden konfuzianischen Elitenpropaganda.
Doch ebendiese Eliten zeigten sich bei genauerer Inspektion horizontal gegen ihresgleichen und vertikal gegen Angehörige untergeordneter sozialer Strata keineswegs gewaltabgewandt. Die Vorstellung einer konfuzianisch-ethisch beherrschten vormodernen Gesellschaft wird selbst von ihrem Kern, den Familien und Lineagen, nicht überzeugend eingelöst. Daß auch namhafte Historiker diesem Mythos verfallen sind, zeigt beispielsweise He Fangchuan, der seinen Landsleuten den Besitz eines »Friedensgens« zuschreibt.
Die KPCh bekämpfte Konfuzius und den Konfuzianismus kampagnenartig von 1966 bis 1967 (heiße Phase der Kulturrevolution) und von 1973 bis 1975 (in Eintracht mit dem gestürzten Lin Biao). Ein Wust an pseudowissenschaftlichen Aufsätzen, an Pamphleten und Cartoons – die am weitesten verbreitete Serie trug in verschiedenen Aufmachungen den Titel Das verbrecherische Leben des Kong Alte Zwei [= Testikelpaar] – ergoß sich in Millionenauflage und verschiedenen Versionen über die Bevölkerung.
Mit Beginn der Reformperiode 1980, insbesondere seit sich die Gesellschaft massiv sozial desintegriert, wird die moralische Kraft des Konfuzianismus beschworen, er soll existentielle Unsicherheiten lindern helfen und das kulturelle Selbstbewußtsein fördern. Zu seinen ehernen Werten gehören Elitismus, Meritokratismus und die Herrschaft von Weisen und Tugendhaften als erzieherisches Vorbild für das Volk.
Wenn Futurologen ihre aus dem Altertum geschöpften und der Gegenwart anverwandelten Modelle unter die Kautel einer Erfüllung dieser Forderungen stellen und wie Jiang Qing, der prominenteste gegenwärtige Konfuzianer in China, den »Weg humaner Autorität« (wangdao) und die Vertretung »heiliger Werte« sowie »freie Rede« einfordern, dann kommt dies einem Affront gegenüber der KPCh-Nomenklatura gleich. Jiang stellt gar seine konfuzianische Staatsform dem Sozialismus der Partei entgegen. Man darf gespannt sein, wie lange ihm dies unter dem Mantel des Exzeptionalismus noch gestattet sein wird.
Die KPCh agiert strikt antikonfuzianisch. Der vorherrschende crony capitalism führte zu atemberaubenden Bereicherungen innerhalb der zentralen und lokalen Partei-Nomenklatura. David Barboza gelang 2012 der Nachweis, daß die Familie von Wen Jiabao, Premier des Staatsrates (2003 – 2013), ein Vermögen von ca. 2,7 Milliarden US-Dollar kontrolliert. Eine Nichte von Xi Jinping erwarb 2009 eine Villa an der Repulse Bay in Hongkong für 19,3 Millionen US-Dollar und weitere fünf Appartements. Qi Qiaoqiao, die Schwester, ist geschäftlich verknüpft mit dem Immobilientycoon Wang Jianlin, dem mit einem Vermögen von ca. 22,7 Milliarden US-Dollar reichsten Mann Chinas.
Zutiefst antikonfuzianisch sind beispielsweise auch die Anstrengungen des Parteistaates zur elektronischen Totalüberwachung der Bevölkerung und das rigide »Sozialkreditsystem«; letzteres erinnert an die in der späten Kaiserzeit (1369 – 1911) populären »Richtlinien für Verdienste und Missetaten« (gongguoge) mit ihren im Pantheon geführten Punktesystemen, die über himmlische Belohnung und Bestrafung im Diesseits und im Jenseits entschieden. Ihnen jedoch unterwarf man sich freiwillig aus eigener Überzeugung.
Die Lektüre der verschiedenen Zukunftsentwürfe zu Chinas Rolle in der Welt sollte vor dem Hintergrund des sich tatsächlich vollziehenden politischen Geschehens erfolgen. Um einer weiteren Glaubenskrise wie der in den 1980er Jahren vorzubeugen (Verlust des Glaubens an Sozialismus, Marxismus und Partei), setzte 1991 eine »patriotische Erziehungskampagne« ein, die den Mythos der »Hundertjährigen Erniedrigung« (1839 – 1949) und des Exzeptionalismus bedient, die eminente Rolle der Partei auf dem Weg zu Chinas erneuter Größe beschwört und die historische Erinnerung ganz in den Dienst des Nationalismus stellt.
Chinas Nationalismus ist heute ein strikter Han-Nationalismus, ganz und gar kein inklusiver. Er führte u. a. zu Neo-Traditionalismen wie der seit 2001 aktiven »Han-Kleider-Bewegung« (hanfu yundong), die sich dem Motto »Han-Kleidung auf dem Leib bedeutet eine friedliche Lebensspanne« (hanfu zai shen pingan yi sheng) verschrieben hat, gemeinsame kulturelle Aktivitäten durchführt und sich eine ethnisch homogene, perfekt geordnete und sichere Gesellschaft wünscht. Dieser Eutopie näher zu kommen würde zunächst eine konfuzianisierte Partei, strikten Meritokratismus und ein funktionierendes Rechtssystem voraussetzen. Die Chancen dafür könnten nicht schlechter stehen.
Aber sie stehen auch schlecht für die ganze Welt, denn »wenn das tianxia-System nicht angenommen werden sollte, um die globalen Risiken unter Kontrolle zu bringen«, so Zhao Tingyang, dann »verlieren die menschlichen Wesen sehr wahrscheinlich ihre Welt«. Trübe Aussichten insgesamt!