Auf langjährige Erfahrungen als »Anreger und Verfasser« kann Frank Böckelmann zurückblicken. Mit diesen Worten umreißt er in einem der Texte, die im Band Die Säumigen versammelt sind, das Tätigkeitsfeld seiner Figur Gabor Schmidt, seines »Alter ego«. Das Sahnehäubchen des Buches serviert Böckelmann gleich im Vorwort.
Das Projekt war einst als Gemeinschaftswerk geplant, ein Anthropologe wollte ergänzende Texte beisteuern. Nach zweijähriger »Säumigkeit« sei dieser dann durch politische Differenzen mit dem Autor von seinen Verpflichtungen »erlöst« worden. Böckelmann bewegt, ausgehend von seinem Bereich, die Frage, warum auch gute, vor allem langfristige Konzeptionen scheitern, warum die Dinge trotz ausreichender Kapazitäten immer wieder hinausgezögert werden.
Man weiß, was zu tun ist, man kann es tun. Aber es findet nicht statt. Zu beobachten sind Passivität, Selbstqual und Vermeidungsaufwand, der wiederum kontraproduktiv Kraftreserven bindet. Die Beteiligten fügen sich, wissend und sehend, selbst Schaden zu. Böckelmanns großes Stichwort ist »Säumigkeit«, der mit dem ihn interessierenden Phänomen eng verbundene Begriff der Prokrastination kommt bei ihm jedoch nicht vor.
Auch wenn in den verschiedenen, nur durch das Titelthema verbundenen Abschnitten eine Reihe von fiktiven Personen auftritt, so handelt es sich nicht in erster Linie um literarische Erzählungen. Es sind eher exemplarische, zu nicht geringen Teilen offenbar auf eigenen Erfahrungen oder zumindest realen Berichten beruhende Schilderungen – mit anklagendem oder bereits resignierendem Charakter. Beschreibungen sind es, keine Lösungsrezepte.
Insbesondere denjenigen, die mit dem Feld der Publizistik vertraut sind, wird vieles bekannt vorkommen, was der geplagte Gabor Schmidt (oder eben Frank Böckelmann) über die »Säumigkeit der Anderen« zu sagen hat. Etwa, daß sich um jeden Zuverlässigen »Lebenszeitverschwender« sammeln. Der als Projektleiter fungierende Schmidt muß bezüglich gegebener Zusagen immer wieder »Notpläne und Aufschübe beglaubigen«. Im Sinne des erhofften Abschlusses sei er »ein Monster der Rücksichtnahme« geworden. Früh habe er gelernt, »daß jeder Aufschub seine Eigendynamik« gewinnt. Im Aufschub glauben die »Säumigen« dann, über sich hinauswachsen zu können – in der Regel ein Irrtum.
Nach dem Scheitern stehen die Rechtfertigungen derjenigen, die nicht geliefert haben, etwa, daß die Aufgabe von vornherein unlösbar gewesen sei. Typologisierungen von »Säumigen« werden angeschlossen. So gebe es den »Lückenlasser«, der »kein Buch und keinen Bericht jemals beendet«, oder den »Gesprächsblender«, der so gut erzählen kann, »daß er zwanzig Jahre lang um die Schriftlichkeit herumgekommen« sei. Anfällig für »Säumigkeit« ist Schmidt übrigens selbst.
Dann wird der Blick geweitet. Ein Schüler ist nicht nur durch Unkonzentriertheit »säumig«, er ist auch »zu säumig«, um den Plan zum Ausbruch aus dem zu eng empfundenen Leben umzusetzen. Der »säumige Student« geht »auf taktische und ironische Distanz« zur Universität, lernt wenig und liefert, obwohl er das Ganze als »gewitzter Selbstüberbieter« angeht, in seiner Abschlußarbeit nur den Bruchteil des ursprünglichen Vorhabens, über das es hieß, weil er »ernstlich nichts zu sagen hatte, wollte er alles auf einmal sagen.«
Eine »säumige Karrieristin« findet sich bei Böckelmann ebenso wie »säumige Liebhaber«, die sich nach der Kontaktanbahnung über eine Agentur niemals treffen oder die den konsequenten Schritt zum dauerhaften Zusammensein »versäumen«. Und es gibt »säumige Autoren«, wie denjenigen, der sein »Mutmacher-Buch« nie wirklich beginnt. Angefügt sind den »Säumigen« zwei ältere Texte Böckelmanns, wobei sich der Zusammenhang zu den vorhergehenden Ausführungen nur schwer erschließt.
Dem Band Die Außerirdischen sind da ist die kurze Geschichte »Das Unding« entnommen, mit Dialogen wie: »Ich brauche zehn, zwölf Jahre.« – »Das ist eine Menge Zeit.« – »Nehmen wir fünf Jahre von früher«. In einem Aufsatz über »Diskretes Dasein im Netzzeitalter« führt er, neben anderem, Überlegungen zu »Geltungsmärkten« im massenmedialen Zeitalter aus und verweist darauf, daß es nicht mehr um die Dinge an sich gehe, sondern um deren »organisierte Beachtung«.
Mit Die Säumigen liegt ein Buch vor, das in manch pointierter Formulierung zeigt, daß der Mensch noch einen weiten Weg vor sich hat, sollte er den Zustand der Perfektion anstreben. Neues gibt es weniger, dafür Unterhaltsames. Und nicht nur Angenehmes – in der einen oder anderen Figur spiegeln sich eigene Schwächen.
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Frank Böckelmann: Die Säumigen. Prosa, Lüdinghausen / Neuruppin: Manuscriptum Verlagsbuchhandlung 2021. 186 S., 19 €
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