dessen Titel aufhorchen läßt. Um es vorwegzunehmen: Denaturiert bedeutet nicht entartet, vielmehr geht es in dieser hochphilosophischen Betrachtung darum, welche tiefgreifende Transformation der Begriff »Menschenwürde« in den letzten Jahrzehnten erfahren hat.
Ein verzerrtes Bild vom Menschen wird offenbar, das dramatische Auswirkungen hat: Die daraus abgeleiteten neuen Rechte werden einseitig auf den individuellen Willen reduziert oder auf den Geist im Gegensatz zum Körper, was dazu verleitet, jede Überwindung natürlicher Schranken als Befreiung und Fortschritt voranzutreiben. Der Mensch wird zum Gegenstand seines Planens, Gestaltens, Manipulierens bis zu dem Punkt, an dem er tatsächlich zu entarten droht – weil er Gefahr läuft, seinen eigenen Leib zu verlieren.
Wie konnte es dazu kommen?
Dies führt uns der Autor, der unter anderem als Vertreter des Heiligen Stuhls 20 Jahre lang die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs aus nächster Nähe verfolgt hat, in einem kenntnisreichen Streifzug durch die Entwicklung der Menschenrechte vor Augen.
So erfahren wir, daß es sich nicht um einen kontinuierlichen Prozeß handelte, der heute zu seinem glorreichen Abschluß gelangt, sondern daß bei der Ausarbeitung der grundlegenden Formulierungen in der Nachkriegszeit von Anfang an zwei einander entgegengesetzte Auffassungen im Widerstreit lagen. Da war zum einen der christlich inspirierte Personalismus, der besagt: Würde kommt uns zu, weil wir Ebenbilder Gottes sind, weil wir einen Körper und eine unsterbliche Seele besitzen.
Der Mensch verdankt seine Existenz nicht sich selbst. Er nimmt sich als ein notwendigerweise beschränktes Geschöpf in Empfang und hat sorgsam mit dem ihm anvertrauten Gut umzugehen. Würdig zu leben heißt, im Einklang mit der menschlichen Natur zu leben.
Den Gegenpart dazu stellte die materialistisch-atheistische Auffassung jener von der Evolutionstheorie beeinflußten Humanisten und Eugeniker wie Julian Huxley dar, die auf dem Grundsatz beruhte: Über Würde verfügen wir, weil wir imstande sind, zu denken und zu entscheiden. Dieser Ideologie zufolge ist die Menschwerdung ein langer Befreiungsprozeß des Geistes von der Materie, der in außerordentlichen kognitiven Leistungen gipfelt. Im Drang zur unbeschränkten Selbstüberschreitung unter Ausblendung aller irdischen Bedingtheiten, in der Fähigkeit, sich zum Göttlichen zu erheben, also nicht mehr Geschöpf, sondern eigener Schöpfer zu sein, liegt demnach die Würde des Menschen begründet. Es gilt somit nicht mehr das mit den göttlichen Gesetzen übereinstimmende Naturrecht, sondern der Vorrang des Wollens vor dem Sein.
Die Originalfassung der Allgemeinen Erklärung von 1948 brachte zunächst die christliche Version zur Geltung. Dort kommen vor allem die natürlichen Rechte des Menschen zum Ausdruck. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte indes setzte sich immer mehr der postmoderne Individualismus mit neuen widernatürlichen Rechten durch, wie z. B. dem Recht auf Euthanasie und jenem auf Abtreibung. Diese wiederum befördern in unserer Gegenwart die Entstehung transhumaner, zur Neudefinition der Natur ermächtigender Rechte, die zutiefst verstörend wirken: das Recht auf Sterbehilfe, auf ein Kind ohne Vater, auf Änderung des Geschlechts.
Grégor Puppinck hat ein Meisterwerk vorgelegt, das fesselnd zu lesen und mit zahlreichen Beispielen unterfüttert ist. Dabei gelingt ihm das Kunststück, nie ins Trockene abzugleiten, wie es bei einem Juristen zu befürchten wäre. Mit atemberaubender Eindringlichkeit seziert er das Paradoxon, daß ausgerechnet die materialistisch-positivistische Weltanschauung danach strebt, den Menschen zu entmaterialisieren und ihn in letzter Konsequenz auf »reines Bewußtsein« zu reduzieren.
Besonders erhellend auch die spirituelle Dimension hinter dem Transhumanismus. Es tritt eine seit der Antike bekannte Denkrichtung hervor, die früh von der Kirche als Häresie verworfen wurde: die gnostische Lehre von der Verworfenheit alles Irdischen und der moralischen Verpflichtung, das körperhaft Naturgegebene als niedrig zu erachten und hinter sich zu lassen.
So trägt eine alte Idee im Gewand progressiver Humanität den Sieg davon: Mit Hilfe der neuen Rechte feiert der neue Mensch den Triumph des Willens über den Körper. Bedenkenloses Verstümmeln durch Tätowierungen, Piercings und operative Eingriffe macht ihn zum Schöpfer seiner selbst – auch das Recht, sein Geschlecht durch einen (nunmehr bloßen) Sprechakt neu zu bestimmen.
Sich über das tatsächlich Gegebene im Erscheinungsbild des Menschen hinwegzusetzen (Hautfarbe, Geschlecht, Alter, körperliche Befähigung) ist das Gebot der Stunde – jedermann ist verpflichtet, sein Gegenüber als »reines Geistwesen« zu betrachten. Die Kehrseite davon: Ist der Mensch noch nicht oder nicht mehr im Vollbesitz seines Bewußtseins, kann man mit ihm verfahren, was die Willkür gebietet: Embryonenforschung, Ausschlachtung von Hirntoten als Ersatzteillager und – seit neustem – die weltweit erste Kompostieranlage für menschliche Leichname (in Seattle) stellen kein moralisches Problem dar.
Das Verständnis für die Heiligkeit des menschlichen Leibes scheint endgültig der Vergangenheit anzugehören.
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Grégor Puppinck: Der denaturierte Mensch und seine Rechte, aus dem Französischen von Jakob Cornides, Heiligenkreuz im Wienerwald: Be+Be-Verlag 2021. 276 S., 21,90 €
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