Das schmerzt mich, weil ich lange darauf beharrte, daß es natürlich objektive Bewertungskriterien gäbe. Logisch sah ich den Mainstream des Kulturfeuilletons oft von meinem persönlichen Urteil abweichen.
Aber – pfff, man kennt ja diese Typen. Sie preisen irgendwas als heiß, weil die Autorin eine Fesche ist oder weil Autor X mit Z verbandelt ist, und Z ist zufällig Nichte von Q, dem Verleger, bei dem man gern selbst irgendwann mal unterkommen mag.
Vor zwei Jahren hatte Rowohlt einen vielbeachteten Belletristikchecker herausgebracht, Die Schlange im Wolfspelz. Das Geheimnis Großer Literatur von Michael Maar. (Ja, das ist der Sohn von Paul Maar, Das Sams).
Mir brachte dieses großartige Kompendium Erleichterung, weil Maar ganz dezidiert zwischen Stilgöttern und Murklern unterschied – und ich bei seinen Kriterien weithin „mitgehen“ konnte.
„Was ist Stil?“ – Maar brachte es auf den Punkt bzw. die Punkte. Ein Diktum aus seiner Feder:
Wenn man den Jargon meidet, ist man stilistisch schon auf dem richtigen Weg.
Nun haben wir in unseren Reihen (Kommentariat!) einen gewissen maiordomus. Jeder, der auch nur gelegentlich unsere Internetrunde besucht, kann wissen, daß wir es hier mit einem mehrfach exzellenten Fachmann (der Geisteswissenschaften) zu tun haben. Belesen, x‑fach publiziert, eloquent, vertraut und zu beachtlichen Teilen persönlich bekannt mit Geistesgrößen deutscher Zunge. Ein Kenner.
Mir ist seit Jahren aufgefallen, daß unser maiordomus den Schriftsteller Martin Mosebach nicht schätzt. Für mich hingegen ist Mosebach fraglos einer der Allergrößten seiner Zunft. Ich kann versichern, daß er es auch dann wäre, wenn ihm nicht das Etikett des „Reaktionären“ etc. anheftete. Seine Romane sind ja unpolitisch. Aber er kann es einfach! Es gibt keinen lebenden besseren Menschenschilderer, es gibt keinen eleganteren Stilisten, punkt.
Gut -, maiordomus, gebildet wie meinungsfreudig, lehnt ihn ab. Er lehnt ihn so sehr ab, daß er das in mindestens zehn Meinungsbeiträgen in diesem Forum kundgetan hat. Überdeutlich!
Mag er vielleicht grundsätzlich keine zeitgenössischen Autoren? Nein, er hat wiederholt Thomas Hürlimann erwähnt und gepriesen. Zuletzt hatte es maiordomus gewurmt, daß Hürlimanns Roter Diamant nicht auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis aufgetaucht sei.
Jetzt wurde ich neugierig. Hürlimann ist einer von ca. tausend „renommierten“ zeitgenössischen Autoren, die ich nie gelesen habe. Zuletzt erschien Der Rote Diamant sogar auf der SWR-Bestenliste. In der eben vergangenen Woche dann lieferte der Staatsfunk eine wahre Eloge auf diesen Roman
Ich habe mir das Werk also gekauft. Hürlimann ist 1950 in Zug/Schweiz geboren. Offenkundig schreibt er – vielfach preisgekrönt, vor allem als Dramatiker – gern entlang autobiographischen Mustern. Zwischen 1963 und 1971 besuchte er das Gymnasium im Kloster Einsiedeln. Ungefähr dort spielt der hier zu besprechende Roman. Nur heißt das Schulkloster hier „Maria zum Schnee“.
Ich habe die Lektüre nicht bereut. Ich wurde einigermaßen gut unterhalten. Aber sie war mir über Strecken peinlich. Wie kann ein erfahrener Autor immer wieder derart abgleiten? Schmerzhaft danebenliegen? So glitschig werden? So abgeschmackt formulieren?
Worum geht es also?
Es ist ein „Arthur Goldau“, der hier in erster Person den schmerzvollen Abschied von „Mimi“, seiner „Frau Maman“ exerziert. Sie fährt ihren Jungen (per PKW, etwa anno 1961) zum katholischen Internat, in dem er in den nächsten acht Jahren gebildet und erzogen werden soll. Mimi ist entschieden, forsch, bestimmend, auf fast brachiale Art. Als sie den Herrn Sohnemann zum Internat bringt, rutscht sie in einer Steilkurve in den Graben. Was tut sie zunächst? Sie packt ihr Beautycase aus, zieht sich die Lippen nach, tupft Puder auf die Wangen etc. Hürlimann verkauft uns das als staunenswerte Coolness und steilen Stil.
Ein Mosebach hätte einen beobachtenden, skeptischen, wenn nicht ironischen Abstand eingezogen zu dieser dominanten Mutterfigur. Hürlimann schafft das nicht; seine „Maman“/“Mimi“ und die Abdrücke, die ihre harten Stöckelschuhe im Linoleum des Klosters hinterlassen, geraten hagiographisch. Sie nennt ihren Sohn „Arthi-Darling“ und wird das auch noch fünfzig Jahre später tun. Ist das nicht überzogen? Ja. Hier ist jemand wahnsinnig stolz auf seine crazy Mutter avant la lettre.
Es geht weiter mit dem Kloster-Pförtner, der die Delegation Arthi-Darling und Mimi empfängt. Der Pförtner nämlich reagiert auf die arg verspätete Ankunft mit reinem „Vogelzwitschern“. Arthi-Darling muß die Sprache des „pfeifenden Vogelmanns“ für seine sturselbstbewußte „Maman“ übersetzen.
Kann man sich solch überzeichnetes, karikiertes Personal vorstellen? Wird es in der Vorstellung lebendig? Nein und nein. Es gibt keine Menschen, die rein zwitschern und keine, die Gezwitscher übersetzen. Es sind einfach falsche, übertriebene Bilder.
Hürlimann pflegt die Sprache einer Dramaqueen. Was wohl real “kraß” war an den Zurichtungen in einer solchen Schule, an den Idiosynkrasien der geistlichen Brüder, wird hier als mindestens “supermegakraß” ausgewalzt. Alles wird auf zwei‑, drei‑, vielfache Stärke vergrößert. Hier, auf Seite 20, beginnt der Slapstick, und er wird bis Seite 317 – „FINIS“ – nicht enden.
Hürlimann zeichnet vielfach die Qualen eines katholischen Internatslebens nach. Die Brüder, auch die lehrenden, werden geringfügig unterschieden: Einer spinnt, einer stinkt wie ein Bock, ein anderer nach „feuchtem Hund“, einer ist dement bis zur Blödheit, einer hat einen Sexualfetisch. Nein, den haben natürlich mehrere! Alle haben einen überdeutlichen Knall. Sie “wimmern”, “kreischen”, “krächzen”, “krähen”, “geifern”, “säuseln”, “winseln”. Was für billige Accessoires!
Einer der Mönche vollzieht laufend und meist unangebracht Liegestütze zwecks Triebabfuhr – hier finden wir uns auf dem Niveau von RTL II wieder. Solches Niveau bedient Hürlimann gern. Da er nicht durch bloße, genaue Beschreibung zur Kenntlichkeit entstellen kann, muß er permanent übertreiben. Wie dürftig!
Einer der Brüder gilt ihm als „Ave-Maria-Apparat“, weil der unentwegt betet. Wie unschön:
Über seine ausgestülpte, rotfleischige, schneckenartige Unterlippe rollte ein Ave-Maria nach dem anderen, immerzu, unaufhörlich. Wohl bis zu seinem Ableben und darüber hinaus (sofern ein Ave-Maria überhaupt ableben konnte)
Aargh, das ist so „witzig“, daß man sich fragt, welches Trauma der Autor wohl erlitten hat. Weiter:
Dem Arthur kommt das Gerücht vom „Roten Diamanten“ und dessen mysteriösen Verbleib recht bald zu Ohren. Der unendlich kostbare Edelstein soll einst zwischen den Brüsten der Kleopatra gelegen haben, dann aus Kaiser Rudolfs Krone heraus vertrackte Wege zurückgelegt haben: Vom Brustkreuz diverser Päpste über die Wiener Hofburg, über einen Lohengrin-Darsteller und einen Puff hin zum Kloster Maria zum Schnee.
Arthur Goldau (dessen jüdische Abkunft hier ein bißchen absichtsvoll hereingemogelt erscheint – wer weiß schon, wofür das gut ist!) und seine Klassenkameraden fahnden nun jahrelang nach dem Diamanten. Nein, jahrzehntelang!
Wie das geht, ist das eine. Wie sich der Alltag im klösterlichen Gymnasium gestaltet, ist das andere.
Ein alter Mönch mit „entfleischtem“ Gesicht (diese Wendung kommt hier x- mal vor) lädt Arthur ein in sein Zimmer „vollgestopft mit Folianten Globen Sanduhren Broschüren Akten Pergamenten Seekarten.“ Logisch hat er einen Tip. Um es vorwegzunehmen: Jede Drei-Fragezeichen-Geschichte ist spannender.
Die expressionistisch-atemlose Wortreihung wird bei Hürlimann zum Tick. X‑mal kommt sie in folgender Zuckung vor:
Wir träumten (von Titten Schnitzeln Hintern Fritten).
Ah, man stand unter Strom, wie faszinierend. Hürlimann beschreibt auch genüßlich die Samenergüsse des pubertären Arthur, drunter geht´s nicht. Es soll ja moderne Literatur sein!
Dem letzten Deppen ist längst klar: Hier soll geschildert werden, wie extrem eine katholische Sexualmoral das Begehren nur anheizte. Es kommt letztlich sogar zum blutigen Geschlechtsverkehr zwischen Arthur und einem Mädchen aus dem Dorf. Männerphantasien!
Durch´s Buch zieht sich eine Melodie: Bob Dylan´s „The Times They Are a‑Changing“. Das ist der basso continuo, der hier eine penetrante Marke hinterläßt. Hürlimanns Motto: „Leute, ihr merkt schon, daß ich damals Teilnehmer einer Umbruchszeit war?!“ Meine Güte, was für ein altes, langweiliges Lied. Ja, die alte Zucht & Ordnung ist dahin, und wer will, mag sich freuen darüber.
Naja, man kann das hier bestellen und lesen und sich ein Urteil bilden – ernsthaft langweilig ist es bloß selten. Am Ende (viertes und letztes Kapitel, Arthur kehrt als alter Mann zurück zum Kloster und erwischt endlich den Roten Diamanten; es wird extrem hollywoodesk, das heißt sensationell, aufgebläht und unglaubwürdig) wird Hürlimann redundant und faßt „alles nochmal zusammen“.
Man kann andererseits auch den neuen Mosebach vorbestellen: Taube und Wildente wird Mitte Oktober erscheinen.
Der Gehenkte
Es gibt beides: Geschmack und Vorlieben = subjektive Urteile und objektive Kriterien für die Güte und Bedeutsamkeit von Literatur. Letztere sind freilich schwer zu benennen. Ich würde sie im Begriff des "Wesentlichen" suchen. Wird dies, wird Bleibendes, Ewiges, Gültiges etc. angesprochen? Das kann auch in der Marginalie sein, kann von der Peripherie kommen. Und es muß mit dem literarischen Vermögen korrelieren, d.h. der Autor muß schreiben können, sein Text muß eine sinnvolle Konstruktion offenbaren - auch hier sind die künstlerischen Mittel denkbar verschieden. Ein zweiseitiger Satz kann ebenso Kunst oder Schund sein wie ein Wortgruppen-Stakkato. Ein gutes Kriterium ist stets, ob die Handlungen an Fäden hängen, ob also das, was passiert eine gewisse innere Notwendigkeit hat - was den Zufall nicht ausschließt, nur sollte dieser nicht regieren. Schlechte Literatur sind fast immer Und-dann-Geschichten. Schlechtes Deutsch sind überlange Adverbial- und Konjunktionsketten.