Jedenfalls als Jungen. Nicht nur in dieser fragwürdigen Hinsicht sollten wir früh als erwachsen gelten.
Die uns prägten, die kraftvolleren Lehrerinnen und Lehrer, die Männer aus der Patenbrigade, die Ausbilder im verwaschenen blauen Kittel, die Schleifer bei der Armee, sie alle waren nach eigenem Selbstbild vom alten Schlag. Gut, nicht alle hatten den Krieg durchgemacht, aber den Nachkrieg, also den Mangel. Sie wußten sich zusammenzureißen und erzogen uns genau dazu – sich zusammenreißen und durchziehen können. Preußische Tugenden, nationalsozialistisch verschärft, sozialistisch genutzt.
Wo unsere Vorgängergeneration in die Lehre gegangen war, herrschten zum einen ein rauer Ton, zum anderen aber ganz zwangsläufig Aufbruchsstimmung. Das Land mußte wiederaufgebaut werden, einerlei ob nun kapitalistisch, marktwirtschaftlich oder sozialistisch.
Unten, wo gearbeitet wurde, lief’s ideologiefrei: Man leistete, was notwendig ist. Zementmischung brauchte keine Politik. Erst das Wir, dann das Ich; alle mußten ran, denn so wie fünfundvierzig, sechsundvierzig konnte es nicht bleiben.
Leistung lohnte sich nicht immer, zählte aber. Ein echter Kerl war, wer ranklotzen und was schaffen konnte und wer damit was verdiente, und sei’s eher Achtung als nur Geld. Ein so ideologisches Gewäsch, wie es in der Berliner Republik gegenwärtig alle Abläufe überwuchert, hätte damals nur das dringend Erforderte aufgehalten. Wenn man bedenkt, welche Kraft das immer dreister agierende Politische gerade frißt und welche Kosten es auslöst! Dieser Raum des leeren Gedöns fehlte damals, selbst SED-Propaganda konzentrierte sich auf relevante Ziele, nur eben in politisch fragwürdiger Weise.
Der große Bereich der Versorgungen – von Buchhaltung über Bäuerliche Handelsgenossenschaft bis Handel und Haushalt – wurde maßgeblich von Frauen zusammengehalten, die gleichfalls mehr kraftvoll und zäh als als zart wirkten. Selbst wenn sie zart waren: Frauen in Kittelschürzen und mit Kopftüchern, in den Verwaltungen solche mit Herrenbrillen und straffem Dutt. Aber Frauen fuhren auch Mähdrescher.
Aus der Gegenwart rückbetrachtet, standen wir DDR-Boomer allerdings in einem Dilemma, denn während die Welt unserer Altersgenossen im Westen fortbestand, ging unsere 1989/90 unter.
Die Wende, die friedliche Revolution, die Heldenstadt Leipzig, das sind Begriffe, die einen stolz stimmen könnten, aber sie machten schon in den Neunzigern nicht mal die Heldenstädter selbst mehr stolz. Wir sollten uns beständig so erlöst und befreit von der Diktatur fühlen und uns gefälligst so aufrichtig freuen, daß uns genau das bald schwerfiel. Daß uns die politische Klasse des Westens mindestens in ihren Phrasen am Tag der Einheit feierte und lobte, stimmte uns zunehmend argwöhnisch.
Abgesehen davon, daß eher eine Restauration begann. Die einst subversiven ostdeutschen Vollbart-Bürgerbewegten wurden eingehegt und bekamen einen gut dotierten Posten, auf dem sie verstummten, oder sie grantelten eben im Abseits weiter.
Gegenüber der vermeintlichen Gnade der Geschichte, dem „Geschenk“ der Einheit, waren wir zuweilen allzu undankbar, vor allem, als wir mitbekamen, daß wir den fremden kräftigen Bruder, die Bundesrepublik, offenbar doch gehörig überschätzt hatten, wie das mit Blick auf stärker anmutende Geschwister oft geschieht.
Man kann es unfreiwillig komisch finden, skurril oder sogar tragisch: Nach nicht mal drei Jahrzehnten, die wir trotz oder wegen aller Schwierigkeiten immer noch als Aufbau unseres Landes verstanden hatten, selbst wenn nicht wenige von uns mit diesem Land über Kreuz lagen, brach unsere kleine Geschichte, von der großen gerichtet, ganz abrupt ab.
Nicht allein unsere Kindheit und Jugend war zu Ende, sondern zugleich die Welt, die damit verbunden war. Das einzig Eindrucksvolle daran war das unmittelbare Erleben, wie alle ernsten Vereinbarungen, selbst die Verfassung, dazu die hochgerüstete Exekutive, darunter die ganze Stasi, dazu über dreihunderttausend Sowjetsoldaten aller Waffengattungen im Land, wie also ein Staat mit seinem eindrucksvollen Apparat und der gesamten sowjetischen Unterstützung in kürzester Frist beinahe geräuschlos unterging. Plötzlich und unspektakulär war’s zu Ende. Ohne Abspann.
Darin hat der Existentialismus einfach recht:
Gleich allen anderen Menschen, ins Dasein geworfen, konnten wir DDR-Boomer nicht wissen, welchen Gang die Welt nimmt, in die wir hineingeboren wurden, und wir wußten ebensowenig, welchen Weg wir nehmen würden. Jedem Menschen geht es so, nicht nur jenen starken DDR-Jahrgängen, die von 1955 bis 1969 geboren wurden, mit dem demografisch hervorstechenden Geburtsjahr 1964, zu dem ich gehöre. Niemand weiß, was das Schicksal bereithält oder was der Beschluß Gottes ist, aber beständig meinen wir vermessen, wir wüßten das genau.
Eines aber ist Fakt: Wir waren nun mal viele. Manches gleicht dem, was Thomas E. Schmidt gerade sehr treffend über die West-Boomer schrieb:
„Immer zusammen, immer im Rudel, fast alle mit Geschwistern, inmitten strampelnder, sich schlängelnder Kinderleiber, in allen Verwahranstalten als Herde behandelt, auch später immer ‚der Trend‘, das gut und verläßlich Beobachtbare, statistisch gesehen die Wahrheit über die Republik.“ –
Im Westen wie im Osten bekamen die Familien in den Fünfzigern, Sechzigern – vor dem Pillenknick – viele Kinder, mehr als davor und danach, was den etwas simplen, aber nicht falschen Schluß zuläßt: Selbst wenn es den Leuten noch am später vertrauten Komfort fehlte, so hatten sie mit Blick in die Zukunft doch ein Grundgefühl der Zuversicht. Ganz im Gegensatz zu heute: Komfort ist weniger wichtig als Hoffnung. Diese fehlt heute, während wir an jenem übersatt sind.
Westdeutschland gab der Erfolg seit dem Wirtschaftswunder Recht; unsere Welt jedoch brach ab, bevor wir dreißig wurden. Zwangsläufig, aber das erkannten wir erst im nachhinein, klar.
Zuvor waren die Pläne und Hoffnungen enorm: erster „Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden“, „Sieger der Geschichte“ und Sieger im „Wettstreit der Systeme“, der Mensch angeblich im Mittelpunkt und sowieso das Maß aller Dinge, die Chancen für jeden nicht nur gleich, sondern in den bevorstehenden Möglichkeiten unvergleichlich. Hieß es. Dachten wir zunächst, nicht alle, aber doch eine Mehrheit. Wer arrogant darüber urteilt, sollte bedenken: Wir waren Hineingeborene und kannten nur unsere Welt.
Die produktiven Zweifel und die kritische Skepsis herrschten in Pfarrhaus und Kirche, in den Intellektuellen- und Künstlermilieus und bei jenen, die noch ein anderes Wirtschaften kannten. Die nachvollziehbar schwer Frustrierten und Entrechteten, enteignete Mittelständler und Bauern etwa, hatten die DDR größtenteils verlassen, bevor wir geboren wurden. Wer blieb, arrangierte sich zumeist und freute sich der Erfolge.
Noch war Nachkrieg, schon deswegen konnte es nur nach vorn, mit Kurs auf das Bessere, das Friedlichere und so in Richtung nicht zuletzt eines gewissen Wohlstands gehen.
Äußerlich schien es ja passabel zu laufen. Es wurde gebaut, es gab also neue Wohnungen, und die Plattenbauten hießen damals einfach Neubauten; sie wirkten licht und modern gegen das Grau des durchaus spürbaren Verfalls der Innenstädte; und es war ja, meinten wir, das Alte, das zerfiel, das Neue wurde erst geschaffen. Wird schon, dachten wir.
Im Westen lief es schneller, glatter und bunter und ja sowieso demokratisch und in Würde und in Freiheit, wie bis heute betont wird, aber obwohl wir den Westen in ARD und ZDF sahen, erlebten wir ihn ja nicht, er blieb eine ferne, unerreichbare und daher letztlich unwirkliche, ja gewissermaßen virtuelle Welt, die es offenbar so nur bei „Derrick“ gab – und etwas Duft davon im „Intershop“, für jene, die Westgeld hatten.
Und was eigentlich mit Freiheit, mit Würde, mit Demokratie gemeint war, wußten wir so genau nicht, weil wir’s nicht eingeübt hatten. Noch heute wird den Ostlern, insbesondere den Sachsen, ja didaktischen Tones vorgeworfen, sie beherrschten Demokratie einfach nicht, mindestens würdigten sie die nicht genügend.
Außerdem war der Westen etwas, was er ab 1989 urplötzlich gar nicht mehr sein wollte oder sollte und was heute offenbar völlig vergessen ist:
Er war der Feind.
Daß die Welt, aus der die Westpakete kamen, es im Kalten Krieg politisch und militärisch nicht gut mit uns meinen konnte, paßte für die meisten von uns durchaus zusammen. Wer Westverwandte hatte und sie sogar traf, hatte vor ihnen Respekt, bewunderte sie gar, bemerkte aber:
Die wollten es nicht nur besser wissen, die wußten es tatsächlich besser. Am Ende behielten sie Recht. So, wie es bei uns gelaufen war, hatte es nicht laufen können; sie, die aus dem Westen, hatten das ja immer gesagt. Wir mußten es spätestens 1990 zugeben, klar, aber wer gibt schon gern eine Niederlage zu, selbst wenn er daran so ganz persönlich nicht schuld sein kann. Als die Treuhand das „Volksvermögen“ verkaufte, sahen wir artig zu. Ging nicht anders, dachten wir, denn unser Wirtschafts‑, ja unsere gesamte Daseinsweise hatte sichtlich versagt.
Wir hatten nur eine Chance: Wir mußten uns den Westbürgern angleichen, sie zu imitieren versuchen; wir sollten werden wie sie.
Aber vorher war das da drüben, so unsere Wahrnehmung, das alte Deutschland, wir waren das neue. Und selbst wenn das neue noch nicht so glatt aussah wie das alte, war es doch irgendwie, nun ja, vielleicht das erotischere Deutschland, ohne daß dieses Bild gleich zur Blauhemd-Impression der FDJ-Pfingsttreffen oder gar zu einem FKK-Farbfilm zusammenschnurren muß.
Wir waren irgendwie alle mit Hoffnung gedopt, meine Generation jedenfalls, nicht nur unsere Leistungssportler, die es kurioserweise immer mit den Athleten der Supermächte oder sogar vor denen zur Siegerehrung schafften.
Ja, unser Mini-Land wollte unbedingt selbst eine Supermacht unter den wirklich Großen sein, so wie bei den Olympiaden. Wir wollten Weltmeister werden, insbesondere um es dem feisten Deutschland-West als sein kleiner, aber fitter Widerpart so richtig zu zeigen, und das wirkt, blicken wir zurück, schon unfreiwillig komisch und lächerlich, jedenfalls infantil.
Jetzt gilt Deutschland immer noch als erfolgreich, aber es ist alt, eine geriatrische Republik, weitgehend sozialdemokratisch den Transfer- und Fürsorgesystemen oder direkt dem medizinisch-pharmakologischen Komplex überantwortet. Immer weniger geschröpfte Leistungsträger schleppen immer mehr Alimentierte mit, vor allem jene, die wir global einladen und denen wir hierzulande Teilhabe versprechen.
Innerhalb der Großstädte wird eine als deutsch identifizierbare Kultur durch „woken“ Lebensstil und die „bunte“ Migrantengemeinschaft abgelöst; außerhalb der Urbanität verdämmert das Land sowieso. Wichtiger als die Trainings- dürften mittlerweile die Dialyse-Zentren sein.
Vorm Untergang der DDR hörten wir andauernd, wir, die Jugend, würden dringend für die Zukunft gebraucht, man setze in uns die größten Erwartungen, wir müßten die Elite des nächsten Jahrhunderts werden, und dafür hätten wir uns – Verdammt noch mal! – anzustrengen.
Es mag heute kurios wirken, aber die DDR sah sich nicht nur als eine, sondern sogar als die eigentliche deutsche Nation an, als Vollenderin der deutschen Geschichte, als Bewahrerin des großen geistigen Erbes. Ihre Curricula weisen das insbesondere im Fach Literatur nicht nur im umfangeichen Lektürekanon so aus.
Wir konnten zur Wiedervereinigung noch nicht absehen, daß die uns so stark erscheinende Bundesrepublik alsbald gar keine eigene Nation mehr sein wollte, schon gar keine dezidiert deutsche. Spätestens, als wir dazustießen, fing sie an, sich ohne Not abzuschaffen, erst über das Aufgehen in Europa, die Euro-Einführung als Pfand für die Einheit, das Abtreten von immer mehr ganz entscheidenden Rechten an die Brüsseler Zentrale, den Traum vom Weltbürgertum, schließlich der radikale Bruch mit der Vergangenheit, das Ausschlagen des Erbes, nicht zuletzt über reduzierte Bildung, den ritualisierten Schuldkomplex, endlich die Umbenennungen, die Sprachverhunzung, die Cancel-Cuture durch indoktrinierte junge Garden und deren Bilderstürmerei. Wir erkannten, daß namentlich unsere Boomer-Altersgenossen West das so wünschten und als befreiend empfanden.
Thomas E. Schmidt widmet in seinem Boomer-West-Buch dem eigenen Befremden, die Vereinigung könnte zur Wiederbelebung nationalen Empfindens führen, ein ganzes Kapitel und argumentiert:
„Die Frage nach der Nation im größer gewordenen Nationalstaat, also nach den inneren Grundlagen des Zusammenlebens, wurde von uns zwar aufgeworfen, an vielen Stellen auch debattiert, am Ende wurde sich aber liegengelassen. (…) Das Wir der Einheit war keinesfalls identisch mit dem Wir der Nation. Es existierte ja in unseren Augen gar nichts Vorhergehendes mehr, das ein klares historisches Ziel oder eine Rückkehr hätte begründen können. (…) Der Aufruf zur Neugründung der Bundesrepublik im aktiven Vollzug eines linksliberalen Konsenses war für uns in Wirklichkeit so wenig anziehend wie das erneuerte Nationalgefühl. (…) Etwas hätte es gegeben, nennen wir es Nation, das alles Trennende eingeebnet haben würde. Und genau diesen Grund, jene Essenz bestritten wir.“
Wir Ostler nicht. In einer selbstbewußten und leistungsfähigen Nation anzukommen wäre das einzige Ziel gewesen, was gelohnt hätte, wollte man sich nicht auf Discounter-Konsum beschränken. Gerade ein Satz befremdet: “Es existierte in unseren Augen gar nichts Vorhergehendes mehr, das ein historisches Ziel oder gar eine Rückkehr hätte begründen können.” Das neue Verständnis der Bundesrepublik ging also davon aus, daß sie sich mit dem Grundgesetz erfunden hatte, und alles, was vorher geschehen war, erschien als wertlos oder als kontaminiert. Man wollte es nicht mehr haben. Mit den schwierigen Anteilen schlug man gleich das gesamte Erbe aus.
Zurück: Als ich mit Versetzung in die neunte Klasse 1978 in das Internat einer „Erweiterten Oberschule“ kam, hörte ich gemeinsam mit meinen Altersgenossen in der alten neogotischen Aula, die mit dem leuchtenden Ornamentglas der hohen Fenster mehr nach dem uralten Deutschland als nach Revolution aussah:
Es ist eine Auszeichnung, daß ihr hier seid, erweist euch ihrer würdig. Wer die Anforderungen hier nicht besteht, von dem werden wir uns nach zwei Probejahren verabschieden, aber es ist ja eine Ehre, in der Produktion zu arbeiten; nicht jeder gehört auf die Hochschule oder Universität. Wir hier wollen die Besten. Und dann wieder: Ihr sollt die Elite der neunziger Jahre werden.
Dabei würde es diese Elite – wenigstens für die DDR – überhaupt nicht geben. Wir waren jung, aber unser Land todkrank. Mag sein, unsere Vorgängergeneration, desillusionierter als wir, die Generation Biermann, ahnte es; wir sahen es nicht.
Aufgrund der geschichtlich ausgelösten biographischen Brüche können wir nicht auf so ruhige Karrieren verweisen wie unsere Altersgenossen aus dem guten alten Westen.
Im Klischee: eine von der Hausfrau-Mutter zu Hause beschirmte Kindheit, zeitig aufs Gymnasium, ruhiger Durchlauf im lange Erprobten, Abitur gesichert, sehr gern Zivildienst, dann ein langes, gründliches, zeitig aufwendiges Studium, in Ruhe an zwei, gar drei Universitäten absolviert, möglichst in Richtung eines verantwortungsvollen und daher einträglichen Berufes, am besten eine kleine Promotion drangestrickt – alles ideologie- und stasifrei, ohne harte historische Turbulenzen, oft zusätzlich abgesichert von der Erwartung eines verdienten Erbes, gediegene Biographien im goldenen Westherbst des Kalten Krieges.
Aber das konnten wir in der neogotischen Aula der Erweiterten Schule von der Perleberg, die die Namen Goethes trug, natürlich nicht wissen. Also arbeiteten wir auf das von den Lehrern gesetzte Ziel hin, die Elite der neunziger Jahre und des frühen nächsten Jahrhunderts zu werden … Damit jedoch liefen wir nun mal ins Leere.
Schon unsere Oberschuljahre hätten so viel ahnen lassen:
1978 war plötzlich ein Pole, Karol Wojtyla, Papst, 1979 wurde Margaret Thatcher Premierministerin und blieb es bis 1990, 1979 kehrte Ruhollah Chomeni im Zuge der „islamischen Revolution“ aus dem Exil zurück, ab 1981 war Ronald Reagan Präsident, still traten die Computer ihren Siegeszug Richtung Informationszeitalter an … Was allein von jedem einzelnen dieser Ereignissen ausgehen würde, ahnten wir nicht.
Ja, wir hörten Udo Lindenberg, wir hörten Pink Floyd, wir spielten Dylan auf der Gitarre, wir besorgten uns von irgendwoher Jeans, bevor unser Land selbst drei eigene Marken produzierte, die Westpaketempfänger nur herablassend belächelten; unser Geschmack war westregiert wie der der ganzen Welt, aber wir blieben – zwangläufig, klar – diesem seltsamen Land verhaftet, das nicht mehr lange zögerte, bis es unterging.
Wir lebten in einer bipolaren Welt, von der klar war, daß die eine Seite der jeweils anderen unter den Bedingungen eines thermonuklearen Krieges den Garaus machen würde, wenn es zum ersten Schuß kam. Wenn es überhaupt noch ein Schlachtfeld geben sollte, würde es Deutschland sein.
Der Vietnam-Krieg, der Pinochet-Putsch in Chile, die dreisten Einflußnahmen und Einkreisungen durch die USA, schließlich der NATO-Doppelbeschluß, das alles machte den Westen für die meisten von uns politisch nicht unbedingt so anziehend, wie er es alltagskulturell durchaus war.
Mich wundert mehr, daß genau das schnell vergessen wurde, die Tatsache, daß dieses Freund-Feind-Schema über vier Jahrzehnte sehr eindeutig Koordinaten des Standortes bestimmte. Es ging nicht nur um die netten Westtanten drüben und deren Brüder und Schwester hüben; es ging vielmehr um zwei hochgerüstete Frontstaaten, zu denen wir jeweils gehörten. In verschiedene Weltsysteme eingebunden, sollten wir einander bekämpfen, und genau dazu wurden wir umfassend ausgebildet.
Unser Vorteil: Wir verzettelten uns nicht sinnlos bei Derrida und stellten in Stil-Imitationen Dekonstruktivismus gegen Konstruktivismus; die Jungintellektuellen von uns wären schon froh gewesen, hätten sie Schopenhauer, Nietzsche, Freud im Buchhandel bekommen können – Namen, die drüben längst out waren, weil man, gedanklich und politisch wohlstandsverwahrlost, zwar endlich über Mao hinausfand, nun aber die Erlösung bei Barthes und Foucault suchte, ohne die dunklen Suhrkamp-Taschenbücher je ganz durchzulesen und überhaupt auch nur mit einem Bein irgendwie im Leben zu stehen.
Wir waren polytechnisch erzogen, kannten uns also mit Algebra und Analysis ebenso aus wie mit dem Dreiphasen-Wechselstrommotor, wir konnten LKW fahren und bewährten uns auf Arbeitseinsätzen sowie in der Ernte, und wir Jungen wußten mindestens die AK-47 zu handhaben, noch bevor wir überhaupt in die Streitkräfte eingetreten waren.
Das aber war der letzte Akt: Eineinhalb oder drei Jahre Armee in den Achtzigern, schwierige Jahre langer Trennungen von der Familie und der Freundin, zeitgleich mit unserer Vereidigung der Tod Leonid Iljitsch Breschnews und seine Beisetzung während diesigen Moskauer Novemberwetters an der Kremlmauer.
Wie ein Omen, ein Menetekel, das einem etwas hätte sagen können. Nach dem gespenstischen Intermezzo von Andropow und Tschernenko dann die nächste und letzte Irritation, Gorbatschows Reden und Auftritte, die allzu schönen Illusionen von Glasnost und Perestroika, nun gäbe es einen Neubeginn in einer Art Freiheit.
Das Absurde nun wieder daran: Diese Illusionen sollten dem Sozialismus, der eben nicht so aussah, wie er sein sollte, die Hoffnung und den Optimismus zurückgeben, indem, so der neue Mann in Moskau, einfach konsequent auf Lenin und dessen Ideale zurückzugreifen wäre, aber:
Gerade in Lenins Zeit war dieser Sozialismus genau der Alptraum, den man uns verschwiegen hatte. Und prompt holten uns Junge, wie aus den Gräbern der Geschichte gerufen, die alten Gespenster ein. Es stellte sich heraus, daß das, was Solshenizyn beschrieben hatte, eben kein „hysterischer Antisowjetismus“ war, sondern die harte Wahrheit. Für uns ein Schock. Die alptraumhaften Verbrechen des Sozialismus lagen in den Genen seiner Ideologie.
Der letzte Trugschluß bestand dann noch darin, daß Stalin nichts mit Lenin zu tun hatte, daß er eine Art Anti-Lenin gewesen wäre, vor dem dieser passenderweise noch gewarnt hatte, aber das Gegenteil stellte sich als Wahrheit heraus:
Ohne Lenin kein Stalin, ohne beide keine schon damals erfolgte totale Diskreditierung des sozialistischen, gar kommunistischen Gedankens. Mag aber sein, es gab noch eine allerletzte Illusion, jene, die bis heute fortlebt und raunt, es hätte gar einen ganz anderen Sozialismus geben können, einen demokratischen, einen – was für ein Lapsus! – mit menschlichem Antlitz. – Eben nicht! Leider. Nur diesen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Unsere Geschichte endete mit dem Gejohle unserer Landsleute im Garten der Prager Botschaft, wo sie darum bettelten, endlich, endlich in den Westen gelassen zu werden. Was ihnen Hans Dietrich Genscher dann vom Balkon aus, getaucht in eine Gloriole aus Scheinwerferlicht, gestattete. Das sah nicht nur wie die Eröffnung eines neuen Shopping-Centers aus, es war genau das. Wir alle wurden Profi-Shopper und dem Weltmarkt endlich zugeschlagen.
Damit endete die Geschichte der Ost-Boomer, die sich dann den West-Boomern zugesellten, die zahlenstärksten Kohorten, nunmehr vereint, aber einander doch ziemlich fremd.
Wir aus dem Osten bleiben – unvergnatzt – doch irgendwie die anderen, wir wurden der Bundesrepublik nun mal nicht zugeboren, sondern ihr angegliedert, daher mindestens in Teilen unseres Befindens gewissermaßen deutsche Asylanten in einem sich dezidiert nicht mehr als Nation empfindenden Deutschland, das ja ohnehin zu einer Asylantenrepublik avancierte.
Wir wurden keine neuliberal empfindenden Kosmopoliten, keine echten Kunst- und nicht mal Weinkenner. Die affektierte Rede über Feuilleton-Themen lag uns so fern wie der Zwang, im Small-Talk als erster das coolste Bonmot raushauen zu müssen, um geistreich zu wirken. Wir blieben Provinzialisten jenseits des von unseren West-Altersgenossen beschwärmten metropolitanen Daseins. Wir konstruierten die kleinen Verhältnisse unseres Lebens; alle modische Dekonstruktion hingegen lag uns fern, hatten wir doch unsere Ursprungssicherheit verloren.
Maiordomus
Dieser Beitrag, von echtem Quellenwert, "legitimiert" diese Seite in überproportionalem Ausmass; abgesehen von der Meinungs- und Gedankenfreiheit, letzteres ein schönes Wort von Friedrich Schiller aus "Don Carlos", Natürlich gibt es noch andere, (sage nicht von selbst ") wichtigere" Debatten als die um guten oder weniger guten Romanstil. Immerhin ist Bosselmann Phonophor-Autor. Etwas in schriftlicher Form zu sagen haben, bedeutet zunächst natürlich, dass einer schreiben kann.