Cerstin Gammelin: Die Unterschätzten

Die »Wende« von 1989 / 90 setzte ungeheure Ener­gien frei.

Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

Eine von ihnen war die Begeis­te­rung, mit der wei­te Tei­le der Deut­schen die neu­ge­won­ne­ne Ein­heit begrüß­ten. Eine wei­te­re Ener­gie läßt sich mit der Ent­fes­se­lung der Markt­kräf­te beschreiben.

Der Aus­ver­kauf der ost­deut­schen Wirt­schaft und die Pri­va­ti­sie­rungs­wel­le zuguns­ten west­deut­scher und aus­län­di­scher Kon­zer­ne sorg­ten für bei­spiel­lo­se Brü­che in ost­deut­schen Bio­gra­phien. Dem Abschluß­be­richt der Ein­heits­kom­mis­si­on kann ent­nom­men wer­den, daß im Jahr 1995 vier von fünf Ost­bür­gern nicht mehr auf dem Arbeits­platz wir­ken konn­ten, den sie 1990 gehabt hatten.

Mit der­lei objek­ti­ven Fak­ten star­tet die in Chem­nitz aus­ge­bil­de­te Maschi­nen­baue­rin und Jour­na­lis­tin Cers­tin ­Gam­mel­in (Jg. 1965) ihre sub­jek­ti­ve Schau der ost­deut­schen Poli­tik. Die­se Arbeit ist in Tei­len ver­dienst­voll, in Tei­len überflüssig.

Ver­dienst­voll ist das Buch, weil es genu­in ost­deut­schen Per­spek­ti­ven soge­nann­te Sicht­bar­keit ver­schafft und weil deut­lich wird, wie wich­tig für alle poli­ti­schen Akteu­re Gesamt­deutsch­lands just Ost-Ent­wick­lun­gen sind: Gam­mel­in räumt mit der auch im Nah­feld der AfD weit­ver­brei­te­ten Legen­de auf, wonach allei­ne Nor­d­rhein-West­fa­len durch sei­ne Ein­woh­ner­zahl bedeut­sa­mer sei als alle fünf Ost­län­der: »Die Zahl der Wäh­ler ist nicht allein ent­schei­dend. Aus­schlag­ge­bend ist, ob von die­sen Regio­nen Ver­än­de­run­gen aus­ge­hen kön­nen, die das gan­ze Land beein­flus­sen.« Und daß sym­bol­träch­ti­ge Wel­len ins­be­son­de­re von Ost­deutsch­land aus­ge­hen, zeigt die Autorin dann auch anhand von par­la­ments­po­li­tisch-koali­tio­nä­ren, pro­test­be­zo­ge­nen oder sons­ti­gen Zäsu­ren beein­dru­ckend auf.

Über­flüs­sig ist das Buch – ers­tens –, weil die­se Din­ge bereits in ande­ren Publi­ka­tio­nen vor­ge­stellt wur­den. Ob Ilko-Sascha Kowal­c­zuk, Johann Micha­el Möl­ler, Nor­bert F. Pötzl oder Stef­fen Mau: Sie alle haben ent­spre­chen­de Ost-West-Erkennt­nis­se und zeit­ge­schicht­li­che Ana­ly­sen publi­kums­wirk­sam aufbereitet.

Zwei­tens erscheint eine Lek­tü­re über­flüs­sig, weil Gam­mel­in als Jour­na­lis­tin der Süd­deut­schen Zei­tung nicht von milieu­ty­pi­schen Ver­hal­tens­wei­sen abse­hen kann.

Ob Elo­gen auf Ange­la Mer­kel (»Sie wird feh­len«) und Jan Böh­mer­mann (»zeigt, wie es gehen könn­te«) oder unre­flek­tier­tes AfD-Bas­hing: Wer zeit­geis­ti­ge Pro­pa­gan­da repro­du­ziert, ris­kiert bereit­wil­lig, daß klu­ge Pas­sa­gen – etwa über die »mas­sen­me­dia­le west­deut­sche Mei­nungs­füh­rer­schaft« und die Bun­des­rats­sperr­mehr­heit gegen­über den ost­deut­schen Län­dern – ins Hin­ter­tref­fen geraten.

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Cers­tin Gam­mel­in: Die Unter­schätz­ten. Wie der Osten die deut­sche Poli­tik bestimmt, Ber­lin: Econ Ver­lag 2021. 302 S., 22,99 €

 

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Benedikt Kaiser

Benedikt Kaiser ist Politikwissenschaftler und arbeitet als Verlagslektor.

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