Beschwiegen werden andere Dinge: das, was man über sich nicht gerne erzählen will, und das, was man in einem Regime nicht laut sagen darf – Neigungen und Schwächen, Staatsterror und irre Pläne. Dieses Beschweigen kann ein Verstummen sein, ein Nicht-Sagen, ein Lügen, ein Sprechen zwischen den Zeilen: Andrea Tompas Roman spielt diese und andere Formen des Schweigens durch.
Omertà besteht aus vier Büchern. Drei Frauen und ein Mann erzählen der Reihe nach aus ihrem Leben, stets im Ich.
Die Bäuerin Kali beginnt, sie stammt aus der Nähe von Kolozsvár, das auf rumänisch Cluj-Napoca heißt, auf deutsch Klausenburg. Sie gehört der ungarischen Volksgruppe der Szekler an, die seit dem Vertrag von Trianon auf rumänischem Staatsgebiet leben müssen und sich nun, unter der kommunistischen Führung der Volksrepublik Rumänien, gemeinsam mit den anderen Nationalitäten »überwinden« sollen, um in einem brüderlichen Volk aufzugehen.
Kalis Buch – das ist bäuerliche Sprache über fast 200 Seiten. Wer je einmal mehr als ein paar Sätze mit einem der alten rumäniendeutschen Bauern aus Siebenbürgen wechselte, erkennt den Ton sofort wieder: die Satzkonstruktionen, den angenehm reduzierten Wortschatz, das verschmitzte Selbstbewußtsein, das Wache und das Bodenständige.
Die Übersetzung aus dem Ungarischen durch die selbst preisgekrönte Schriftstellerin Terézia Mora ist eine Meisterleistung: Die Sprache ist stimmig, passend zum Charakter einer Frau Mitte Dreißig, die gern hart arbeitet und der man nichts vormachen kann.
Kali floh von ihrem saufenden und prügelnden Mann fort in die Stadt und verdingt sich nun bei einem Rosenzüchter, einem hingebungsvollen Gärtner, dessen Passion sie fast bespöttelt. Dieser Vilmos ist anders als die Männer, die Kali kennt: ein Wissenschaftler, der aus der Zucht eine Kunst macht und der Naturwüchsigkeit in einer Mischung aus Dienst und Eingriff gegenübertritt.
»Komplizierte Einfachheit« ist sein Ideal, Züchtung müsse so sein, daß es die Natur hätte selbst fertigbringen können, »weil man kann Rosen machen, die innen rot sind, außen weiß, aber so etwas will zu auffällig sein.« Auch Frauen will Vilmos nicht protzen sehen, sondern lieber entblättern. Kali wird schwanger, aber als das Kind kommt, setzt Vilmos sie in ein kleines Häuschen auf dem Dorf. Ein »ungeordnetes Privatleben« kann er sich als Funktionär der Partei nicht mehr leisten.
Soweit ist es mittlerweile nämlich gekommen, und Vilmos berichtet in seinem Buch (dem 2. und umfangreichsten im Roman) von seinem Aufstieg zum Leiter einer großen Versuchsgärtnerei, von seiner Fahrt zu einer Rosenausstellung nach Paris, seinen absurden Versuchen mit sowjetisch-wissenschaftlichen Methoden einer neuen Landwirtschaft, die sich mittels Wille und Theorie über Naturgegebenheiten, Witterung, Zucht und jahrhundertelange Erfahrung hinwegsetzen will.
Wie Vilmos sich verhält, wie er die Leiter hinaufgeschoben wird, wie er die Sprache des Regimes übernimmt und das beschweigt, von dem er als Kenner weiß, daß es niemals wird funktionieren können: das zeigt ihn als Nutznießer des Regimes, denn er kann züchten und forschen, und dieser Verwirklichungsmöglichkeit ordnet er alles andere unter, auch die Anteilnahme am Leid derer, die in die Mühle des Regimes geraten sind.
Im Gespräch mit einem verzweifelten Oppositionellen, der saß und der im Zuge des Ungarn-Aufstands 1956 erneute Repressalien fürchtet, wiegelt Vilmos ab. Wir wissen das, wir üben das gerade: Auch Schönreden ist eine Form des Verschweigens.
Der den Menschen gegenüber empathielose Vilmos: Annuschkas Buch berichtet davon, im Ton und aus der Sicht eines Mädchens, das, fünfzehn, sechzehn Jahre alt, die schwere Arbeit einer Gemüsebäuerin leistet, um sich und ihren alkoholkranken Vater durchzubringen. Sie schweigt vor diesem Mann und spricht lieber mit ihrem Gemüse, ihrem Pferd und der toten Mutter.
Sie verfällt dem Vilmos, das möchte man nicht lesen, aber es ist folgerichtig. Vilmos steht im Zentrum des Buchs, seine Gestalt schreitet einen Bogen ab: Kali zeigt ihn als halbe Märchenfigur, er selbst berichtet von sich selbst als einem wehleidigen und von Rosen besessen Mann, aber in Annuschkas Buch sinkt sein Stern rapide: Denn als ihn diese überanstrengte junge Frau, die er in sein Bett zerrte, endlich um Hilfe für ihr beschlagnahmtes Pferd und dann für ihre internierte Schwester bittet, muß Vilmos »Rücksichten« nehmen und tut keinen Strich für sie.
Annuschkas Schwester ist die Nonne Eleonora. Sie erzählt das vierte Buch. Vilmos wird darin nur noch flüchtig erwähnt. Eleonoras Bericht ist eine Verschränkung von Rückblick und neuerlichem Lebensversuch, beginnend mit ihrer Entlassung aus dem Gefängnis, in dem sie und ihre Mitschwestern jahrelang einsaßen.
Sie ist krank, aber beharrlich und ganz bei Gott, vermittelt also eine Widerstandsform, die im gebundenen Wort, dem festgelegten Gebet, ihre ganz eigene Sprache hat.
Hier erhält der Roman seine Verklammerungen: Komplizierte Einfachheit ist für Vilmos die Rosenzucht, für Eleonora der Rosenkranz, dieses schlichte Gebet, in dem man doch durcheinanderkommen kann, wenn man sich nicht konzentriert. Während sie um ihr Gewand, ihr Habit kämpft, legt Kali ihre Szekler-Tracht ab, um diese formale Festlegung auf ein volkstreues Ungarntum zu beenden.
Erst in Eleonoras Buch fällt dann das Wort Omertà. Sie muß unterschreiben, daß sie nicht ein Sterbenswörtchen über das berichten werde, was sie im Gefängnis erlebte. Auch der Roman hält sich daran – aus Andeutungen erschließt man sich manches, und Eleonoras Zustand spricht Bände, obwohl sie eisern schweigt.
Zuletzt: Omertà schließt etwas auf, das uns Deutschen verlorenging. Es ist das Wissen um und das Gespür für die Befindlichkeiten des Völkerteppichs jenseits von Wien. Wir waren nie “Westen”, waren nie transatlantisch orientiert, sondern immer kontinental, mit Durchdringungs- und Befruchtungsbahnen in alle Länder. Damit ist es fast vorbei – die Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert kann auch als eine der Kappung und Selbstzerstörung dieser Nervenbahnen gelesen werden.
Omertà schildert also auch eine Welt, die unser Volk einst kannte, weil es in ihr sein Kontingent stellte. Es bleiben Werke wie dieses. Vier Bücher in einem, kein allwissender Erzähler, vier Stimmen, das Kaleidoskop eines Weltausschnitts – selten las ich einen so virtuosen Roman.
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Andrea Tompa: Omertà. Buch des Schweigens. Roman, Berlin: Suhrkamp 2022. 950 S., 34 €.
Gracchus
Komplizierte Einfachheit - dieses Ideal teile ich. Macht daher wirklich neugierig. So sehr, dass ich von meinem Prinzip, keine (aktuellen) Romane über 500 Seiten zu lesen, abweichen würde.