Das rechte Lager triumphiert bei der italienischen Parlamentswahl. Mit 43,7 % erreicht die Mitte-Rechts-Koalition sowohl in der Parlamentskammer als auch im italienischen Senat (44,02 %) die Regierungsmehrheit. Ein Sieg, der maßgeblich vom Zugpferd und neuen Aushängeschild der italienischen Rechten, Giorgia Meloni und ihrer Fratelli d‘Italia (FdI) – „Brüder Italiens“ getragen wurde. Mit 26 % konnte die FdI ihren fulminanten Aufwärtstrend aus den vorhergehenden Umfragen nochmals toppen und somit ihren prozentualen Anteil im Vergleich zur letzten Parlamentswahl 2018 nahezu mit sechs multiplizieren. In den absoluten Stimmen erreichte die FdI ein Plus von über 400 %. Innerhalb von vier Jahren hat Meloni es geschafft, die FdI von einer Kleinstpartei zur führenden Regierungskraft zu machen, womit Italien auch seine erste Frau als Premierministerin erhält.
Ein derartiger politischer Aufstieg erscheint in westeuropäischen Parteisystemen als ein Novum. Die FdI erreichte auch im westeuropäischen Vergleich den drittgrößten Zuwachs (+20,9 %) einer Partei seit 1945.
Dennoch erscheint diese Entwicklung vor allem innerhalb der politischen Kultur Italiens nicht vollkommen überraschend. Seit jeher ist das Land für seine politische Instabilität bekannt. Regierungen und Ministerpräsidenten überstehen nur selten eine vollständige Legislatur. Eine Regierung, die sich in Italien länger als anderthalb Jahre halten kann, ist eher die Ausnahme als die Regel. So kommt es auch, daß einige italienische Medien bei Meloni beim Titel „kommende Premierministerin“ in Klammern ein „falls es zu keinen Überraschungen kommt“ anfügen.
Die Mitte-Rechts-Koalition aus der Fratelli d‘Italia, LEGA (Matteo Salvini), Forza Italia (Silvio Berlusconi) und der Kleinstpartei Noi Moderati dürfte jedoch mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die kommende italienische Regierung bilden, auch wenn es vor allem für die LEGA und die Forza Italia jetzt heißt, Wunden zu lecken. Das generelle Kräfteverhältnis dieser „Centrodestra“ Koalition zeichnete sich schon in den Umfragen ab. Eine starke FdI, die die ambitionierten Machtpolitiker Salvini und Berlusconi mit in die Regierung trägt. Der Niedergang der LEGA von Umfragewerten von über 35 % im Sommer 2019 auf 12–15 % kurz vor der Parlamentswahl 2022 war vorauszusehen. Am Ende reichte es für Salvini und seine LEGA nicht einmal mehr für ein zweistelliges Ergebnis. Die LEGA wollte laut eigenem Kampagnenziel zumindest an ihr Ergebnis aus der Parlamentswahl 2018 mit 17,3 % aufschließen und konnte mit 8,85 % gerade einmal knapp die Hälfte erreichen. Auch der absolute Stimmenanteil der LEGA reduzierte sich von 5,6 Millionen auf nur noch 2,4 Millionen Stimmen.
Die Forza Italia unter der schrillen und in der italienischen Politik langjährig bekannten Persönlichkeit Silvio Berlusconi mußte Verluste von minus fünf Prozent einstecken. Ein bitterer Wahlabend für Salvini, der innerhalb der Partei nun auch künftige Führungsfragen aufwirft. Erste LEGA-Funktionäre und Abgeordnete fordern bereits Erneuerungsprozesse innerhalb der Partei.
Die Wählerwanderungen bestätigen zunächst die naheliegende Hypothese, daß der außergewöhnliche Erfolg der FdI vor allem auf der Absorbierung des gesamten verfügbaren rechten Wählerspektrums aufbaut. 40 % der LEGA-Wähler aus der Parlamentswahl 2018 setzen jetzt ihr Kreuz bei der FdI. Die Forza Italia verlor fast 1/3 ihrer Wähler an Meloni und ihre Partei. Das heißt, die Hälfte der FdI Wähler setzt sich aus den traditionellen rechtskonservativen Mobilisierungsreserven in Italien zusammen.
Die LEGA und Forza Italia verloren zusätzlich zu gleichen Teilen knapp 20 % ihrer Wählerschaft an das Nichtwählerlager. Generell brach die Wahlbeteiligung um ‑9,1% ein. Nur noch 63 % der Italiener trieb es zu dieser Parlamentswahl an die Urne. Die Abstrafung der klassischen Volksparteien und die niedrige Wahlbeteiligung dürften also Ausdruck einer grundsätzlichen politischen Vertrauenskrise sein.
Der Erfolg der FdI lässt sich jedoch nicht nur monokausal auf einen Sogeffekt im rechten Wählerspektrum zurückführen. Sowohl unter Nichtwählern als auch von der eher linkspopulistisch ausgerichteten Fünf-Sterne-Bewegung konnten jeweils zwischen 9 und 17% der Wähler mobilisiert werden. Die Fünf-Sterne-Bewegung selbst ist bei der letzten Parlamentswahl 2018 mit 32 % stärkste Kraft geworden und kommt nun nur noch auf 15 % der Stimmen. Immerhin ein besseres Ergebnis, als in den Umfragen zunächst prognostiziert wurde. Aber bei knapp sechs Millionen verlorenen Wählern dürfte es nur wenig Grund zu Optimismus geben. Die Fünf-Sterne-Bewegung galt im italienischen Parteiensystem stets als stabiles Wählerauffangbecken verschiedener politischer Milieus und wird auch als sogenannte „Catch-all-Party“ bezeichnet, deren Wählerschaften sich in relativ ausbalancierten Verhältnissen in alle ideologischen Himmelsrichtungen der politischen Landschaft verstreuen. Studien und Beobachtungen konnten zeigen, daß Salvinis Durchmarsch von 2018 auch durch die Mobilisierung rechter und konservativer Wählerschichten durch die Fünf-Sterne-Bewegung abgefedert werden konnte. 2022 zeigte sich bei der Fünf-Sterne-Bewegung eine Verdichtung im ideologischen Wählerprofil hin zu einer reinen und klassischen linken Protestpartei. Der eher rechtsorientierte Teil wanderte zur FdI über. Jeder dritte Fünf-Sterne-Wähler von 2018 blieb dem Urnengang jedoch fern.
Um diese Wählerdynamiken einzuordnen, wird gerne auf die natürliche hohe Wählervolatilität im italienischen Parteiensystem verwiesen. Auch bei dieser Wahl erreichte diese mit 31,8 % Wählerschwankungsbewegungen den dritthöchsten Wert in der italienischen Geschichte. Dies mag ein Erklärungsmuster sein.
Dennoch erscheint insbesondere die Zustimmung für rechte Parteien als überraschend hoch. Das liegt unter anderem daran, daß es in Italien keinen klassischen „Cordon sanitaire“ in der politischen Diskurskultur gibt. Die Warnungen vor der postfaschistischen Machtübernahme laufen bei der italienischen Wählerschaft ins Leere und dürften bei der eher moderaten bis harmlosen inhaltlichen Agenda und Programmatik der neuen rechten Koalition ohnehin eher ein linker Mythos bleiben. Der Kollaps der linken Parteien bei dieser Wahl dürfte auch damit zusammenhängen, daß die Warnungen vor „faschistischen Machtübernahmen“ bereits als inhaltliche Bankrotterklärungen der etablierten Parteien wahrgenommen werden.
Meloni konnte derweil deutliche eigene Akzente setzen, die sich auf die tatsächlichen politischen und sozialen Probleme fokussierten, während die linke Front stets das faschistische Gespenst an die Wand malte. Die Parlamentswahl 2022 ist zugleich das historisch schlechteste Abschneiden linker Parteien in der italienischen Geschichte.
Neben den taktischen und kampagnenorientierten Erklärungen gibt es in Italien jedoch auch gesellschaftlich-strukturelle Voraussetzungen, die es rechten Parteien und Koalitionen vereinfachen, entsprechende Wählerreservoirs zu aktivieren und mobilisieren. Die sozialen Milieustrukturen sind in Italien wesentlich fragmentierter als in Deutschland. Zugleich sind sie auch in ihren klassischen charakterlichen Attributen und Zuschreibungen meist unzufriedener und politskeptischer.
Schaut man auf die soziale Clusterverteilung und der tendenziellen Parteineigung, so fällt auf, daß die politische Rechte in sieben gesellschaftlichen Clustern am stärksten mobilisieren kann, die zusammengefasst 62 % der gesellschaftlichen ausmachen. Das linke und liberale Lager dominiert allerdings nur in vier Clustern, die zusammengenommen nur 25 % ausmachen, was bedeutet, daß die Rechte in Italien ein größeres milieuspezifisches Kernspektrum hat. Italien hat also schon strukturell ein rechtsoffeneres Wählerpotential, was sich auch darin zeigt, daß es seit den 90er-Jahren bereits vier rechte Koalitionen unter Führung von Berlusconi gab. Auch Meloni ist nicht vollends unerfahren im Regierungsapparat. Von 2008 bis 2011 war sie unter Berlusconi Jugend- und Sportministerin. Neu ist jedoch die Kräftekonstellation, indem mit der FdI eine dezidiert rechte Partei nicht nur der Koalitionsanhängsel ist, sondern erstmals auch die Regierung anführt und nun auch die Premierministerin stellt.
Bei den soziodemographischen Daten zeigt sich, ähnlich wie in anderen Ländern, eine zunehmende Frontstellung zwischen einer gut versorgten und hochgebildeten, liberalen und postmateriellen Klasse und jener abstiegsbedrohten Mittelschicht in der konventionellen Arbeitswelt und mittleren Alters. Die FdI kann vor allem in den mittleren Altersklassen zwischen 34 und 55, unter Selbstständigen und der ökonomischen Mittelschicht stark performen, während die Partei bei jüngeren Wählern und überraschenderweise auch Arbeitnehmern eher unterdurchschnittlich abschneidet.
Die FdI wird von den Wählern also nicht als klassische sozialpopulistische Rechtspartei gesehen. Der Stimmenanteil nimmt bspw. linear zu den Wahlkreisen mit höherer Arbeitslosigkeit ab. Auch geographisch zeigt sich ein deutliches Übergewicht der FdI Stimmenanteile im ökonomisch stärkeren Norden, wo unter anderem die LEGA-Partei ihre Hochburgen gegenüber der FdI räumen mußte. Im wirtschaftlich schwächeren Süden des Landes kann derweil die Fünf-Sterne-Bewegung ihre wichtigsten Kerngebiete halten.
Italien ist als Grenzstaat Europas bereits seit vielen Jahren von der Massenmigration über das Mittelmeer stark betroffen. Unter den Einstellungsmustern der meisten sozialen Milieus finden sich häufige migrationskritische Positionen wieder. Meloni hatte ihre Kampagne unter anderem auch auf zentrale Säulen wie rechte Identitätspolitik und Migrationskritik aufgebaut. Mit wachsenden regionalen Ausländeranteil zeigen sich schließlich die stärksten Ergebnisse für die FdI. In Italien scheint es demnach noch vitale elektorale Abwehrkräfte gegen die ethnische Wahl zu geben. Die Migrationspolitik wird demnach auch ein zentraler Indikator sein, an dem die Wähler die Centrodestra-Koalition messen werden.
Rechter europäischer Frühling?
Der Erfolg der Fartelli d´Italia reiht sich in den Start einer Erfolgsserie rechtspopulistischer Parteien in Europa, die im April mit den Achtungserfolgen von LePen in Frankreich ihren Anfang nahm und sich nun mit Regierungsbeteiligungen der Schwedendemokraten und der Fartelli d´Italia fortsetzt. Die Krisendynamik bricht festgefahrene Formationen des politischen Establishments auf und erweckt neue Impulse, die sich bereits auch in den deutschen Umfragen zur AfD widerspiegeln. Dennoch wurde insbesondere der Sieg der FdI in Italien bisher nicht mit einer überschwänglichen Euphorie aufgenommen.
Die spezifische Lage der politischen Kultur in Italien, aber auch die ernüchternden Erfahrungen rechtspopulistischer Regierungsprojekte in den USA, Österreich oder auch Italien unter Salvini haben dazu geführt, daß das rechte Lager mit einer gesunden Skepsis als auch Vorsicht auf die Frage nach rechten Machtzugriffsoptionen in westeuropäischen Parteisystemen schauen. Meloni hat es geschafft, mittels einer pragmatischen Positionierung ihrer Partei auch den „Faschismusvorwurf“ ins Leere laufen zu lassen, doch die Fallhöhe in der italienischen Politik ist groß. Matteo Salvini weiß vermutlich am besten um die Zwänge und Verlockungen von Verantwortung und Macht und wie schnell man sich in diesem politischen Spiel auch verzocken kann.
Eine Reihe von Fehlentscheidungen, mit denen er die damalige Koalition mit der Fünf-Sterne-Bewegung platzen ließ und schließlich seine Partei in die völlige strategische und inhaltliche Orientierungslosigkeit navigierte, sollten für Meloni das Lehrstück dafür sein, daß Wählervertrauen immer auch mit bestimmten Erwartungen verknüpft ist und daß weltanschaulich-ideologische Parteiidentitäten sich nicht übermäßig flexibilisieren und strapazieren lassen. Dies sind strategische Leitfragen, mit denen sich auch die AfD mittelfristig auseinandersetzen wird müssen. Nach neuester INSA-Umfrage wäre die AfD in Ostdeutschland mit 27 % aktuell die stärkste parteipolitische Kraft. Eine Tatsache, die mittelfristig noch innerhalb dieses Jahrzehnts die unweigerliche Frage aufwirft, ob und wie die AfD bereit wäre, politisch auch in administrativer Funktion zu gestalten.
Niekisch
"Folgt jetzt ein rechter europäischer Frühling?"
Meloni: "..ein verlässlicher Partner der EU bleiben.." Sie gilt außenpolitisch als prowestlich sowie als Befürworterin der NATO und betont ihre Unterstützung für die...Ukraine. Transatlantikerin ist sie auch ( RZ v. 27.9.2022 ).
Na dann, auf in den durch Frau M (usso ) eloni ausgelösten "rechten europäischen Frühling", dem zunächst ein kalter Winter vorausgehen dürfte.