Man ritzt sich

Leute, fast immer junge, fügen sich absichtlich blutende Wunden zu. Was steckt hinter diesem seltsamen Trend zum „Ritzen“?

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

In der Schul­klas­se einer mei­ner Töch­ter „rit­zen“ sich zwei Mäd­chen offen­siv. Offen­siv meint: Jeder soll es sehen. Dafür wird auch gesorgt.

Um was geht es? Man kratzt sich die Haut auf, bis es blu­tet. Mit Fin­ger­nä­geln, Mes­ser, Scher­ben etc. Man­che – die­se Klas­sen­ka­me­ra­din­nen eher nicht – stel­len dann davon Bil­der auf ihre Social-Media-Kon­ten. Das bringt Likes. Oder sie tra­gen ihre Ver­wun­dun­gen im ech­ten Leben sicht­bar vor. Ban­da­giert, ver­pflas­tert oder unver­sorgt. Das sorgt für Dis­kus­sio­nen und Besorgt­sein in der Mitwelt.

Natür­lich auch für Häme: „Oh Gott, sie zeigt uns wie­der, wie schlecht es ihr geht…“ Ande­re lei­den heim­lich. Bauch oder Ober­schen­kel eig­nen sich for­mi­da­bel für der­ar­ti­ge Eingriffe.

Wozu der Auf­wand, wenn der Auf­schrei-Effekt von außen aus­bleibt? Span­nungs­ab­bau, „sich selbst füh­len“, heißt es. Und: see­li­sche Schmer­zen durch kör­per­li­che aus­kno­cken. Man soll­te das nicht belä­cheln. Es ist durch­aus ein erns­ter Auf­schrei, auch wenn er spie­le­risch weit ent­fernt sein mag vom sui­zi­da­len “sich die Puls­adern aufschneiden.”

Mei­ne haupt­städ­ti­sche Freun­din berich­te­te mir gera­de von ihrem Sohn (17):

„Bei F. im Berufs­schul-Inter­nat gibt es meh­re­re Jugend­li­che, die sich rit­zen, und die geben damit an. Einer borg­te sich im Unter­richt eine schär­fe­re Sche­re von einem ande­ren und ver­schwand aufs Klo, F bestürzt das sehr.“

Der Ritz-Trend ist nicht ganz neu. Er war schon in mei­nen Jugend­jah­ren ver­brei­tet. Es ist vor allem (nicht nur; auch deut­lich Erwach­se­ne rit­zen sich) ein Über­gangs­syn­drom. Ein Sur­ro­gat für Initia­ti­ons­ri­ten, die heu­te und seit lan­gem feh­len. Es gibt kei­ne Mann­bar­keits­ri­ten mehr.

Was für ein schwa­cher Abklatsch ist dage­gen ein Jung­ge­sel­len­ab­schied oder der ers­te Kater. Und das „Rol­len­bild“ der erwach­se­nen Frau ist heu­te noch um eini­ges dif­fu­ser, gebläh­ter und ver­wir­ren­der als das des jun­gen Mannes.

Grund genug zur ech­ten Ver­zweif­lung für emp­find­sa­me See­len (was ich nicht her­ab­las­send mei­ne: dump­fe­re Leu­te leben ganz gut mit ihrer Fühl- und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit), Grund genug, wenigs­tens durch‘s blu­ti­ge Rum­ge­fuch­tel mit einem schar­fen Gegen­stand sich selbst oder ande­ren zu bewei­sen, daß man wenigs­tens irgend­was Kras­ses wagt.

In mei­ner Par­al­lel­klas­se gab es damals ein beein­dru­ckend „coo­les“ Mäd­chen, Julika, das sich im Gesicht ritz­te. Wenn sie wütend war, meist im Zoff mit den Eltern, fuhr sie sich mit den Fin­ger­nä­geln über die hüb­sche Stirn und Wan­gen. Hef­tig, mehr­mals, bis ihr der rote Stoff durch die Fin­ger rann.

Das war beein­dru­ckend! Vor allem, weil sie die Strie­men auf ihre wil­de, unge­zo­ge­ne Kat­ze schob und nur Ein­ge­weih­te wuß­ten, was wirk­lich los war. Das war damals: Wow. Hier mach­te eine ernst mit ihrem Zorn! Es war die Zeit, als MTV und die Musik­vi­de­os groß wur­den. Julika wäre eine Star­be­set­zung gewe­sen für die fil­mi­sche Unter­ma­lung eines melan­cho­lisch-wil­den Songs.

Unter­des­sen ist das Rit­zen zur ech­ten Volks­krank­heit gewor­den. Eine Toch­ter hat­te sogar eine jun­ge Leh­re­rin, deren (ver­jähr­te) Rit­zun­gen an den Ober­ar­men offen­kun­dig waren.

Laut wiki­pe­dia sind in Deutsch­land „bis zu 5,6 Mio. Jugend­li­che im Alter zwi­schen 15 und 24 Jah­ren“ von selbst­ver­let­zen­dem Ver­hal­ten (SVV) betrof­fen. Die Zahl nun erscheint mir all­zu spek­ta­ku­lär. Es wäre damit unge­fähr die Hälf­te der Alters­ko­hor­te, die zu kran­kem, min­des­tens unan­ge­mes­se­nem Ver­hal­ten neig­te, betrof­fen. Das wäre eine ech­te Massenneurose.

Wer weiß – wir sagen ja oft, die­se Gesell­schaft sei “krank”. Ist sie es meta­pho­risch oder wirklich?

Zum Spek­trum des SVV zählt nicht nur das Rit­zen, son­dern etwa auch das Kopf­schla­gen (gegen Gegen­stän­de), Ver­let­zun­gen her­vor­ru­fen­de Faust­schlä­ge, das Aus­rei­ßen von Haa­ren, Ziga­ret­ten­aus­drü­cken auf der eige­nen Haut oder Zer­kau­en der Wangeninnenhaut.

Im Grun­de genom­men wür­de ich – und das wür­de die Zahl der Betrof­fe­nen wie­der­um erhö­hen – auch das Spek­trum der Eßstö­run­gen zum selbst­ver­let­zen­den Ver­hal­ten zäh­len: Mager­sucht und Buli­mie. „Bin­ge-Eating“ (noto­ri­sches Über­es­sen) wür­de ich bei mei­ner Betrach­tung aus­neh­men, da es nicht in den For­men­kreis der „Selbst­be­stra­fung“ paßt.

Bei Mager­sucht und Buli­mie haben wir ein ande­res Erschei­nungs­bild als beim klas­si­schen SVV, weni­ger jäh, mehr the­ma­tisch fokus­siert und mehr auf Dau­er gestellt, aber im Kern doch auch mit Selbst­haß und „Aus­hal­ten“ als Triebfeder.

Man­ches ist banal. Vie­le Rit­ze­rei­en sind Cli­qu­en­ver­hal­ten geschul­digt. Es sind dann mehr Mut­pro­ben. Eine trau­ri­ge Mode. Auch auf tic­toc ritzt man sich. Es rit­zen sich Beeinflusserinnen.

Trends sind eben Trends und haben sel­ten mit ratio­na­lem Ver­hal­ten zu tun. Was kein spe­zi­ell zeit­ge­nös­si­sches Phä­no­men ist: Unge­sund und wider die Ver­nunft waren auch das Zuschnü­ren der Tail­le, das Stö­ckeln in über­ho­hen Schu­hen und das Fla­gel­lan­ten­tum (immer­hin mit meta­phy­si­schem Hin­ter­grund); wenigs­tens unver­nünf­tig sind auch die finan­zi­el­len Auf­wen­dun­gen zur groß­flä­chi­gen Täto­wie­rung des Kör­pers und sämt­li­che ande­ren Körpermodifikationen.

Aus mei­ner Sicht gehö­ren sol­che – teils his­to­ri­schen – Phä­no­me­ne durch­aus auch dem For­men­kreis des SSV an. Im Grun­de sind die Über­gän­ge vom „Aus­hal­ten, Schmerz ertra­gen“ bis hin zum Krank­haf­ten flie­ßend. Leis­tungs­sport­ler (aber auch ande­re Hoch­leis­ter wie Pro­fi-Musi­ker) befin­den sich in so einer Grau­zo­ne: Sich selbst gegen alle Schwach­heit, Müdig­keit, gegen den Schmerz zum Äußers­ten antrei­ben! Durch­hal­ten, wei­ter­ma­chen, und noch wei­ter, auch wenn es eigent­lich das gesun­de Maß überschreitet!

Wenn wir also davon aus­ge­hen, daß ein paar Mil­lio­nen Jugend­li­che „im bes­ten Deutsch­land, das wir je hat­ten“ (Frank Stein­mei­er, 3.Oktober 2020) sich selbst Scha­den zufü­gen – was ist da los bei uns?

In unse­rer Zeit und Gesell­schaft herr­schen zwei Pole: Der eine wird von den Ehr­gei­zi­gen bewohnt. Das sind die mit den zahl­rei­chen Fol­lo­wern, den hüb­schen Kör­pern, dem Erfolg oder mit der Leis­tungs­be­reit­schaft. Die Schö­nen und die Klugen.

Der ande­re Pol ist von den Leis­tungs­emp­fän­gern domi­niert. Unser sozia­les Netz hat eine unge­heu­re Abfe­de­rungs­stär­ke. Man kann es sich in der Hän­ge­mat­te bequem machen. Alles fließt ja; Bür­ger­geld, Wohn­geld, Kran­ken­ver­si­che­rungs­bei­trä­ge, Heiz­kos­ten­zu­schuß – kann man alles haben.

Die­ses Pola­ri­tät betrifft auch die Ritz-Jahr­gän­ge. Jede kann heu­te Abi machen. Sie kann es auch las­sen. Aber sie soll­te nicht den­ken, daß ein Abschluß als Köchin, Elek­tri­ke­rin, Kon­di­to­rin etc. für lau zu haben wäre. Solch ein Durch­kom­men gau­keln nur die not- to – belie­ve-Bericht­erstat­tun­gen im Fern­se­hen vor: Von der Schul­ab­bre­che­rin zur Tier­dres­seu­rin! Vom Abiver­sa­ger zum Kunst­tisch­ler! Ohne Haupt­schul­ab­schluß zum Influencer!

Heu­te büf­feln die meis­ten jun­gen Leu­te (nur kurz unter­bro­chen durch Bing- und Pling und die Serie, die Du sehen mußt) und ver­sa­gen oft doch.

Das muß gerächt wer­den! Sehr ein­fach geht es über ein soma­ti­sches Schuld­be­kennt­nis: Man fügt sich etwas zu. Als Zei­chen dafür, daß man schlicht nicht mehr kann. Die Gren­ze zum Nicht-mehr-kön­nen frei­lich ist individuell.

Um es – den Druck, der da las­tet – kurz auf­zu­schlüs­seln: 1950 erhiel­ten 5 % der Schul­ab­sol­ven­ten (BRD) die Hoch­schul­zu­gangs­be­rech­ti­gung. 1960 waren es 7%, 1970 11%. 1980 stieg der Pro­zent­satz dann rapi­de auf 22%, 1990 waren wir bei 31,4 %. Gesamt­deutsch waren 2012 knapp 60%  der Absol­ven­ten studierfähig.

Frü­her gin­gen die bes­ten Schü­ler auf´s Gym­na­si­um, und nur eine Eli­te stu­dier­te. (Neben­schau­platz: Ist es nicht ulkig, daß über die gigan­ti­schen Stu­di­en­ab­re­cher­zah­len fast nie berich­tet wird? Die Quo­te beträgt etwa 30%; ich glau­be, der enor­me wirt­schaft­li­che Scha­den wur­de kaum je berech­net. Was kos­te­te es den Staat, wenn eine Bau­in­ge­nieur­stu­den­tin – über 50 % Abbre­cher­quo­te – im 7. Semes­ter die Segel streicht?)

Die Intel­lek­tua­li­täts­an­for­de­rung setzt die jun­gen Leu­te enorm unter Streß: Heu­te schafft „es“ jeder; wer bin ich also, der es knapp nicht schafft? Ich streng mich doch an! Wollt ihr einen Beweis, daß ich echt an mei­ne Gren­zen gehe? Hier! Das ist mein Blut­zeug­nis. Ich habe alles gegeben!

Jun­ge Leu­te rit­zen sich unter Leis­tungs­druck. Umstrit­ten ist, ob bei sol­cher Selbst­ver­let­zung Endor­phi­ne („Glücks­hor­mo­ne“) aus­ge­schüt­tet wer­den. Der uni­ver­si­tä­re Bil­dungs­hype ist ohne­hin per­vers. Wir brau­chen nicht noch mehr Sozio­lo­gen, Kunst­his­to­ri­ke­rin­nen und Poli­tik­wis­sen­schaft­ler; wir brau­chen Kin­der­gärt­ner, Kran­ken­schwes­tern, Klemp­ner, Instal­la­teu­re und Tischlerinnen.

Rit­zen ist zudem – mei­ne The­se – ein Kriegs­er­satz. Angeb­lich – ich habe kei­ne vali­dier­ten Stu­di­en gefun­den und bezie­he mich auf soli­de wir­ken­de Netz­fun­de – sind 40% der Rit­zer männ­lich. Daß Jungs in unse­rer pazi­fi­zier­ten Gesell­schaft einen anthro­po­lo­gi­schen Leer­stand haben, soll­te klar sein. Online-Kriegs­spie­le boo­men seit Jahr­zehn­ten. Rit­zen ist im Grun­de eine fol­ge­rich­ti­ge Konsequenz.

Und die Mädels? “Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er auf´s Eis.” War das Luther? Anschei­nend machen lan­ge Frie­dens­zei­ten ner­vös und „ficke­rig“. Wann hat­te es das je gege­ben – über 75 Jah­re Kampflosigkeit?

Man/frau will sich aus­tes­ten. Gren­zen spü­ren. Schmerz erle­ben in einer all­seits abge­fe­der­ten Welt. Etwas her­aus­schrei­en, ohne laut wer­den zu müs­sen. Man will nie­man­dem Krieg wün­schen. Man will auch lie­ber „sanf­te“ Gebur­ten ohne Zeter & Mor­dio. Nie­mand wünscht sich die Zei­ten der Back­pfei­fen und Ord­nungs­schel­len zurück.

Aber irgend­et­was muß schon her, das bestan­den wer­den will, oder? So ein komi­sches, unver­nünf­ti­ges, schmerz­haf­tes, nach Grö­ße­rem suchen­des Bedürf­nis bleibt ja offenbar.

Ellen Kositza

Ellen Kositza ist Literatur-Redakteurin und Mutter von sieben Kindern.

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Kommentare (25)

quer

11. Oktober 2022 16:36

Wenn ich tief in meinen Erinnerungen wühle, erkenne ich einen grundsätzlichen Erfahrungsknick nachfolgender Generationen ab ca. der 60'er/ Anfang der 70'er Jahre. Alles was vorher (zuvor) über Jahrhunderte hin geboren wurde hat frühzeitig nicht nur von Krieg, Not und Hunger "gehört", sondern unmittelbare Bekanntschaft damit gemacht. Kurz: Man wußte immer, wovon man sprach. Immer bestand ein Nachholbedarf um gewesene Mängel auszugleichen oder zu kompensieren.

Im Nachhinein sehe ich nach dem Aufatmen über die bewältigte Kubakrise (vor genau 60 Jahren) den Beginn einer gewissen Sorglosigkeit. In jeder Beziehung. Motto: So schlimm wird es nicht wieder kommen. Diese Annahme hat sich bestätigt.

Und mit der Sorglosigkeit und dem Entschwinden entsprechender Erfahrungen setzte das Bedürfnis nach Nivellierung und Abwertung von Wissen ein.

Niekisch

11. Oktober 2022 16:38

"Man ritzt sich..."

..und schon, verehrte Frau Kositza, schießt mein Blutdruck in die Höhe, ein Tsunami von Erinnerungen holt mich ein, die Hände zittern. Soll ich weiterlesen? 

"In der Schulklasse einer meiner Töchter „ritzen“ sich zwei Mädchen offensiv..."

Sind Sie da dicht genug am Fall, um das Weitere wirklich als eigene Meinung an die Öffentlichkeit zu geben? Ist das nicht doch ein wenig zu gewagt? 

Wenn ich mich beruhigt habe, dann will ich gerne von 5 Jahren Miterleben berichten, sofern ich es denn kann.

Nichts für ungut, verehrte gnädige Frau.

 
Kositza: Ich wollte hier niemanden "triggern" und bin keineswegs "dicht am Fall".Ist es derart heikel?

kikl

11. Oktober 2022 17:42

Ritzen sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen. Das Verhalten ist regelmäßig ein Anzeichen für schwerwiegende psychische Störungen. 

deutscheridentitaerer

11. Oktober 2022 17:45

Also "Ritzen" war schon in den Nullerjahren eher out. Aber die 90er-Mode soll ja gegenwärtig ein Revival erleben.

Gracchus

11. Oktober 2022 20:08

Ich schneide mich versehentlich - Narbe habe ich noch heute - und gehe blutend die Notaufnahme (Neukölln), fragt mich die Empfangsdame, wie oft ich das tue.

Der (Büchnerpreisträger) hat sich auch geritzt: 

https://www.youtube.com/watch?v=Wn64AVFydDw

Wuwwerboezer

11. Oktober 2022 20:15

Die meisten Ritzer ahnen überhaupt nicht, daß sie eine Autoinitiation in den Satanismus als Kult durchlaufen, bitte hier mit dem Seitensucher auf "nährboden" gehen.

Bei jeder Schwarzen Messe wird das gefesselte Opfer, Säugetier oder auch Mensch, langsam-genüßlich geritzt. Bei den allermeisten Akteuren wiederum dürfte die Tatsache sehr gut bekannt sein, daß sie sich - wieder mal - nur am eigentlichen Herrn abarbeiten, wobei Wikipedia nicht auf das Gralsmysterium verweisend mit dazu sagt, daß dessen Blutstropfen die Erde komplett verwandelt (erneuert) haben. (Solche Macht wollen die Zauberlehrlinge, immer auf das Nachäffen des Christus bedacht, auch gern mal evozieren, und wenn nur auf destruktive Art.)

Eine andere Perversion dieses Urbilds ist das Schächten, und Steiners Worte sollten z. B. auch einmal ein Anlaß sein, den Berufsstand der Chirurgen mit ganz neuen Augen zu sehen.

Die Konsequenz ist, daß es mit psychotherapeutischen Mitteln keine Abhilfe gegen das Ritzen geben kann, nur mit okkulten Mitteln.

- G. G.

Wuwwerboezer

11. Oktober 2022 20:33

Nachtrag:

"... Longinus ..."

"... den Berufsstand der Chirurgen mit ganz neuen Augen zu sehen."

Die wohl weltweit führende Fachzeitschrift der materialistisch gesinnten Ärzteschaft heißt sehr tief- und feinsinnig "The Lancet".

- G. G.

Nemo Obligatur

11. Oktober 2022 20:35

Wie zuverlässig kann ein Verhalten auf eine psychische Störung hinweisen, das von „bis zu 5,6 Mio. Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren“ gezeigt wird? Vermutlich ist es bei 90% bis 99% dieser Fälle nur eine Phase, die in die Zeit des Erwachsenwerdens fällt. Irgendwas zwischen Mutprobe, Nachahmung und dem Wunsch, nach einem physischen Extremerlebnis.

Vermutlich ist es auch so, dass sich nicht einmal jede(r) ernsthaft psychisch Kranke selbst verletzt. Man kann also weder vom Ritzen auf eine seelische Krankheit schließen, noch von einer Krankheit aufs Ritzen.

Gäbe es weniger Ritzer und Ritzerinnen, wenn die Jugend lange Märsche absolvieren würde und morgens kalt duscht? Vermutlich. Einen Teil der o.g. harmlosen Fälle würde es wohl nicht geben, aber die wirklich schweren Fälle wären immer noch da. Dafür könnten wir dann hier oder anderswo von Jugendlichen lesen, die nach einer Woche Zeltlager einen Lagerkoller bekommen, sich ständig erkälten bis es chronisch wird oder gerne Abitur machen würden und es nicht dürfen.

Man kann das Spiel einfach nicht gewinnen. Die Erde ist nicht so, dass wir alle darauf jung, schön und erfolgreich sein können. Die christliche Religion weiß: Die Erde ist ein Jammertal, Erlösung ist uns erst im Paradies versprochen.

 

dojon86

11. Oktober 2022 21:22

Ich würde diesen jugendlichen Schwachsinn nicht überbewerten. Jugend leidet unter den Normvorgaben der Erwachsenen und rebelliert so sie es kann. Das war, ist und wird immer sein sofern man nicht eines Tages den jugendlichen Sturm und Drang mit möglicherweise weitaus schrecklicheren Folgen in Ritalinwolken ersticken wird. Im übrigen hat die deutsche studentische Jugend seit je her eine Art kultisches Ritzen praktiziert. 

Gracchus

11. Oktober 2022 21:53

Ich habe in der Pubertät auch ein, zweimal den Kopf gegen die Tür gestoßen; ich war wütend auf mich, aber auch neurotisch (letzteres wohl noch heute). Ich habe mal gelesen - wo, weiss ich nicht mehr -, Ernst Jünger habe immer etwas Spitzes bei sich gehabt, um sich blutig zu stechen, wenn ihm ein seelischer Schmerz widerfahren sei. Dahinter stand: den abstrakten Schmerz in etwas Konkretes zu verwandeln und sozusagen körperlich abzuleiten. 

Etwas Ähnliches könnte hinter der Ritzerei stecken. Viele, insbesondere Jugendliche, empfinden einen abstrakten Schmerz (oder den Schmerz der Abstraktheit), für den sie keine Worte haben, dem sie dadurch Ausdruck verleihen und gegen den sie sich damit zugleich abhärten.

Daher muss dies nicht zwangsläufig eine satanische Initation bedeuten. Unbewusst kann darin auch die Lust nach Passion (im doppelten Wortsinn) mitschwingen. Leiden ist immer noch der direkteste Weg, Tiefe zu erlangen. 

nom de guerre

11. Oktober 2022 22:21

Hm. Das ist für diese Seite mal ein ungewöhnliches Thema. Aber der letzte Abschnitt mit dem Esel, dem es zu wohl ist (übrigens ein von meiner Oma gerne gebrauchter Satz), leuchtet mir zumindest bei ernsten Fällen nicht ein. In meinem nahen Umfeld gibt es eine Person (aber eben auch nur diese eine, als Massenphänomen erschien mir das nie), von der mir bekannt ist, dass sie sich geritzt hat. Sie hatte einen abwesenden Vater und eine Mutter mit großen psychischen Problemen. Dass es ihr zu wohl ging, glaube ich eher nicht, zumal sie bis heute in psychotherapeutischer Behandlung ist.

anatol broder

11. Oktober 2022 22:32

«es gibt keine mannbarkeitsriten mehr.»

natürlich gibt es noch welche. wenn beispielsweise ein 17-jähriger keinen klimmzug schafft, ist er kein mann.

als erste hilfe gegen jede verstimmung empfehle ich kniebeugen.

Zauberer von Oz

11. Oktober 2022 23:53

Aus der konvexen Bolte-Zwiebel ist wohl eine konkave Zwiebel geworden. Es gibt nur noch ein oben und unten; die normalgesunde Mittelschicht entzweit sich. Eine Schein-Mittelschicht. 

RMH

12. Oktober 2022 09:48

Früher gab es die Wahrnehmung des induzierten Wahns, Folie à deux. Da war aber immer zumindest 1 Person tatsächlich psychisch krank. Vermutlich geht das heute über social media & co. vergleichbar. So verbreiten sich dann entsprechende psychische Störungen oder Handlungsstörungen eben "viral". Am letzten Wort erkennt man, dass es quasi schon den passenden Ausdruck dafür gibt.

Trennung von der kranken Person soll bei Folie à deux geholfen haben. Von daher läge die Therapie nahe. Praktisch wohl kaum umsetzbar, bei diesen Massen an Fällen.

Die Vernetzung des Wissensaustausches führt im Übrigen dazu, dass Phänomene, die nicht unbedingt neu sein müssen, auch einem großen Kreis offenbar werden. Ich möchte behaupten, zumindest im Bereich der Essstörungen hat wohl mittlerweile jede Familie zumindest im weiteren Kreis Betroffene. Ich habe es an anderer Stelle schon geschrieben: Deutschland auf die Couch? Unbedingt!

Ein Fremder aus Elea

12. Oktober 2022 11:11

Naja, wie Tatoos, nur romantischer.

Niekisch

12. Oktober 2022 12:51

"Man ritzt sich."

Trotz der zunehmenden Verbreitung sind es jeweils persönliche Einzelfälle mit jeweils besonderem Hintergrund. 

"Jeder soll es sehen. Dafür wird auch gesorgt." 

Echtes Ritzen dient der äußeren Ableitung inneren Drucks, dem nicht standgehalten wird. Das Zeigen verstärkt die Ableitung.

"ernster Aufschrei, auch wenn er spielerisch weit entfernt sein mag vom suizidalen “sich die Pulsadern aufschneiden.”" 

Oft sehr eng am Suizid, wenn - wie ich es kenne - die Rasierklinge sich der Halsschlagader nähert, die Ritzerin das Blut bei abgeschlossener Tür in die Badewanne laufen läßt.

"Es ist vor allem (nicht nur; auch deutlich Erwachsene ritzen sich) ein Übergangssyndrom. Ein Surrogat für Initiationsriten, die heute und seit langem fehlen. Es gibt keine Mannbarkeitsriten mehr."

Beleg für das "vor allem"? In dem miterlebten Fall schnürte sich das Kleinkind schon den Hals ab, schnürte die Taille, ging in der Pubertät zum Ritzen über und ist noch danach gefährdet. 

weiter II:

Niekisch

12. Oktober 2022 13:03

II.

Ein Surrogat für Initiationsriten, die heute und seit langem fehlen. Es gibt keine Mannbarkeitsriten mehr.

Was für ein schwacher Abklatsch ist dagegen ein Junggesellenabschied oder der erste Kater."

Ein Surrogat bei Mädchen, die zumeist betroffen sind? "Mannbarkeitsriten" gibt es schon noch: Autoraser, wer onaniert am weitesten z.B. Muß es denn intensiver sein? 

"Grund genug zur echten Verzweiflung für empfindsame Seelen (was ich nicht herablassend meine: dumpfere Leute leben ganz gut mit ihrer Fühl- und Orientierungslosigkeit)"

Sind nur empfindsame Seelen manchmal verzweifelt? Dieser Vergleich mit den "Stumpfen" ist schief.

"durch‘s blutige Rumgefuchtel mit einem scharfen Gegenstand sich selbst oder anderen zu beweisen, daß man wenigstens irgendwas Krasses wagt."

Das mit dem Wagnis paßt nur auf diejenigen, die durch die Diskussion um pathologische Zustände angeregt, sich ritzen. Die anderen, die echten Patienten  wollen weder sich noch anderen etwas beweisen, sondern sich Erleichterung verschaffen.

weiter III.

Niekisch

12. Oktober 2022 15:38

III.

"Selbsthaß und „Aushalten“ als Triebfeder."

Wie bereits oben gesagt, ist in den pathologischen Fällen eher "Druckableitung" Auslöser und zugleich Antrieb.

"Trends sind eben Trends und haben selten mit rationalem Verhalten zu tun.Trends sind eben Trends und haben selten mit rationalem Verhalten zu tun."

Grundlegend sind pathologische Zustände, die zunehmend massenmedial zu Trends (gemacht ) werden. Die ersteren wiederum sind im seelischen Bereich nie vernunftgeleitet.

"Im Grunde sind die Übergänge vom „Aushalten, Schmerz ertragen“ bis hin zum Krankhaften fließend." 

Beim Ritzen zumindest ist der Schmerz die Folge krankhaften Sublimierens von Druckempfinden. 

weiter IV.

Niekisch

12. Oktober 2022 16:01

IV. 

"Heute büffeln die meisten jungen Leute (nur kurz unterbrochen durch Bing- und Pling und die Serie, die Du sehen mußt) und versagen oft doch.

Das muß gerächt werden! Sehr einfach geht es über ein somatisches Schuldbekenntnis: Man fügt sich etwas zu. Als Zeichen dafür, daß man schlicht nicht mehr kann."

Rache und zugleich Schuldbekenntnis in einer Person. Wie geht denn das? Löst Versagensangst Rachegefühle aus? Gibt es dazu Untersuchungen? Im miterlebten Fall ist die Familie in Harmonie, die Patientin sehr intelligent, künstlerisch begabt , wird mitfühlend, aber ohne Helfersyndrom und Helikopterflügel erzogen, ritzt dennoch den gesamten Körper bis zum x-fachen Nähen der Wunden in der Klinik.

"Wollt ihr einen Beweis, daß ich echt an meine Grenzen gehe? Hier! Das ist mein Blutzeugnis. Ich habe alles gegeben!

Junge Leute ritzen sich unter Leistungsdruck."

Unter Druck ja, aber in den meisten oder allen Fällen? 

weiter V.

Niekisch

12. Oktober 2022 16:02

V.

"Ritzen ist zudem – meine These – ein Kriegsersatz."

Eine steile These. Ist nicht Krieg ein Massenphänomen, das Ritzen ein Individualereignis?

"... Jungs in unserer pazifizierten Gesellschaft einen anthropologischen Leerstand haben"

Wir nicht die Gesellschaft gerade militarisiert? wird das zu verringerten Zahlen führen? Was ist ein anthropologischer Leerstand? Evolutiv verankerte Ablehnung des Fremden und Territorialtrieb dürften von zeitweiliger Pazifizierung oder Militarisierung letztlich unbeeinflußt bleiben.

"Und die Mädels? “Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er auf´s Eis.”"

Das und den Schluß besser nicht kommentieren. 

Ein Fremder aus Elea

12. Oktober 2022 18:22

Niekisch,

Sie meinen also, wenn ich Sie recht verstehe, aber sicher bin ich mir da nicht, es sei alles eine Art Addams Family, Cara mia, Syndrom?

Natürlich, überall wird gejault, die ganze Musik heute ist ein einziges Gejaule, eine auf mich lächerlich wirkende Zurschaustellung der eigenen Bedrücktheit. Und ich selbst bin durchaus auch jemand, der Fremdkörper wie ein Schwamm aufsaugt. Dennoch... mein Emulationsbedürfnis hat Grenzen. Es gibt ja auch gute Musik. Soll Ihrer Bekannten einfach mal jemand Crime of the Century schenken, danach müßte sich ein normaler Mensch doch schämen, so zu tun, als ob alles Dunkelheit wäre.

RMH

12. Oktober 2022 18:47

@niekisch,

danke für ihre Berichte bzw. Anmerkungen. Dadurch merkt man, wie schwer es ist, über manche Themen allgemein zu schreiben (wie bei diesem Artikel).

Habe einen schweren Fall von Anorexie in der angeheirateten Verwandtschaft. Das kann man sich kaum vorstellen, welche Auswüchse das z.T. hatte.

Es gibt keine Patentrezepte oder Universalerklärungen. Das trifft wohl auf alle psychischen Erkrankungen zu.

anatol broder

12. Oktober 2022 20:03

@ rmh 18:47

wir können uns sicher darauf einigen, dass bevor man zum seelenarzt läuft, die deckung der körperlichen grundbedürfnisse gesichert werden muss. wer beispielsweise aufgrund von dauerlärm wochenlang keine nacht durchschläft, wird zeitweise auch irre. 

die echten kranken müssen natürlich sofort zum arzt.

Simplicius Teutsch

12. Oktober 2022 22:44

"Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat", sagte der Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und dankte allen, die daran mitwirkten. […] „Keine Pandemie kann uns daran hindern darauf stolz zu sein.“ (3.10.2020).

---

Eigene zynische Ergänzungen zu dieser Laudatio auf das herrschende Regime verkneife ich mir, weil offensichtlich mancher hier im Blog von der jugendlichen Selbstverwundungs-Thematik emotional angegriffen ist.

Im Kontrafunk wurde heute eine Studie bzw. auf Zahlen hingewiesen, die auch vom Staatsfunk, SWR aktuell, 12.10.2022, veröffentlicht wurden: „Immer mehr Kinder und Jugendliche erkranken psychisch“.

anatol broder

13. Oktober 2022 11:16

@ simplicius teutsch 22:44

ich übersetze die nachricht vom staatsfunk: immer mehr soziologen und psychologen erschliessen neue arbeitsfelder. es wird genauso verfahren wie in deren kampf gegen rechts​.

wo bleibt eigentlich professor ich-hammer-weil-ihr-nägel-imagine? ich will endlich lesen, dass die kapitalistischen scherenhersteller fürs ritzen verantwortlich sind.

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