In der Schulklasse einer meiner Töchter „ritzen“ sich zwei Mädchen offensiv. Offensiv meint: Jeder soll es sehen. Dafür wird auch gesorgt.
Um was geht es? Man kratzt sich die Haut auf, bis es blutet. Mit Fingernägeln, Messer, Scherben etc. Manche – diese Klassenkameradinnen eher nicht – stellen dann davon Bilder auf ihre Social-Media-Konten. Das bringt Likes. Oder sie tragen ihre Verwundungen im echten Leben sichtbar vor. Bandagiert, verpflastert oder unversorgt. Das sorgt für Diskussionen und Besorgtsein in der Mitwelt.
Natürlich auch für Häme: „Oh Gott, sie zeigt uns wieder, wie schlecht es ihr geht…“ Andere leiden heimlich. Bauch oder Oberschenkel eignen sich formidabel für derartige Eingriffe.
Wozu der Aufwand, wenn der Aufschrei-Effekt von außen ausbleibt? Spannungsabbau, „sich selbst fühlen“, heißt es. Und: seelische Schmerzen durch körperliche ausknocken. Man sollte das nicht belächeln. Es ist durchaus ein ernster Aufschrei, auch wenn er spielerisch weit entfernt sein mag vom suizidalen “sich die Pulsadern aufschneiden.”
Meine hauptstädtische Freundin berichtete mir gerade von ihrem Sohn (17):
„Bei F. im Berufsschul-Internat gibt es mehrere Jugendliche, die sich ritzen, und die geben damit an. Einer borgte sich im Unterricht eine schärfere Schere von einem anderen und verschwand aufs Klo, F bestürzt das sehr.“
Der Ritz-Trend ist nicht ganz neu. Er war schon in meinen Jugendjahren verbreitet. Es ist vor allem (nicht nur; auch deutlich Erwachsene ritzen sich) ein Übergangssyndrom. Ein Surrogat für Initiationsriten, die heute und seit langem fehlen. Es gibt keine Mannbarkeitsriten mehr.
Was für ein schwacher Abklatsch ist dagegen ein Junggesellenabschied oder der erste Kater. Und das „Rollenbild“ der erwachsenen Frau ist heute noch um einiges diffuser, geblähter und verwirrender als das des jungen Mannes.
Grund genug zur echten Verzweiflung für empfindsame Seelen (was ich nicht herablassend meine: dumpfere Leute leben ganz gut mit ihrer Fühl- und Orientierungslosigkeit), Grund genug, wenigstens durch‘s blutige Rumgefuchtel mit einem scharfen Gegenstand sich selbst oder anderen zu beweisen, daß man wenigstens irgendwas Krasses wagt.
In meiner Parallelklasse gab es damals ein beeindruckend „cooles“ Mädchen, Julika, das sich im Gesicht ritzte. Wenn sie wütend war, meist im Zoff mit den Eltern, fuhr sie sich mit den Fingernägeln über die hübsche Stirn und Wangen. Heftig, mehrmals, bis ihr der rote Stoff durch die Finger rann.
Das war beeindruckend! Vor allem, weil sie die Striemen auf ihre wilde, ungezogene Katze schob und nur Eingeweihte wußten, was wirklich los war. Das war damals: Wow. Hier machte eine ernst mit ihrem Zorn! Es war die Zeit, als MTV und die Musikvideos groß wurden. Julika wäre eine Starbesetzung gewesen für die filmische Untermalung eines melancholisch-wilden Songs.
Unterdessen ist das Ritzen zur echten Volkskrankheit geworden. Eine Tochter hatte sogar eine junge Lehrerin, deren (verjährte) Ritzungen an den Oberarmen offenkundig waren.
Laut wikipedia sind in Deutschland „bis zu 5,6 Mio. Jugendliche im Alter zwischen 15 und 24 Jahren“ von selbstverletzendem Verhalten (SVV) betroffen. Die Zahl nun erscheint mir allzu spektakulär. Es wäre damit ungefähr die Hälfte der Alterskohorte, die zu krankem, mindestens unangemessenem Verhalten neigte, betroffen. Das wäre eine echte Massenneurose.
Wer weiß – wir sagen ja oft, diese Gesellschaft sei “krank”. Ist sie es metaphorisch oder wirklich?
Zum Spektrum des SVV zählt nicht nur das Ritzen, sondern etwa auch das Kopfschlagen (gegen Gegenstände), Verletzungen hervorrufende Faustschläge, das Ausreißen von Haaren, Zigarettenausdrücken auf der eigenen Haut oder Zerkauen der Wangeninnenhaut.
Im Grunde genommen würde ich – und das würde die Zahl der Betroffenen wiederum erhöhen – auch das Spektrum der Eßstörungen zum selbstverletzenden Verhalten zählen: Magersucht und Bulimie. „Binge-Eating“ (notorisches Überessen) würde ich bei meiner Betrachtung ausnehmen, da es nicht in den Formenkreis der „Selbstbestrafung“ paßt.
Bei Magersucht und Bulimie haben wir ein anderes Erscheinungsbild als beim klassischen SVV, weniger jäh, mehr thematisch fokussiert und mehr auf Dauer gestellt, aber im Kern doch auch mit Selbsthaß und „Aushalten“ als Triebfeder.
Manches ist banal. Viele Ritzereien sind Cliquenverhalten geschuldigt. Es sind dann mehr Mutproben. Eine traurige Mode. Auch auf tictoc ritzt man sich. Es ritzen sich Beeinflusserinnen.
Trends sind eben Trends und haben selten mit rationalem Verhalten zu tun. Was kein speziell zeitgenössisches Phänomen ist: Ungesund und wider die Vernunft waren auch das Zuschnüren der Taille, das Stöckeln in überhohen Schuhen und das Flagellantentum (immerhin mit metaphysischem Hintergrund); wenigstens unvernünftig sind auch die finanziellen Aufwendungen zur großflächigen Tätowierung des Körpers und sämtliche anderen Körpermodifikationen.
Aus meiner Sicht gehören solche – teils historischen – Phänomene durchaus auch dem Formenkreis des SSV an. Im Grunde sind die Übergänge vom „Aushalten, Schmerz ertragen“ bis hin zum Krankhaften fließend. Leistungssportler (aber auch andere Hochleister wie Profi-Musiker) befinden sich in so einer Grauzone: Sich selbst gegen alle Schwachheit, Müdigkeit, gegen den Schmerz zum Äußersten antreiben! Durchhalten, weitermachen, und noch weiter, auch wenn es eigentlich das gesunde Maß überschreitet!
Wenn wir also davon ausgehen, daß ein paar Millionen Jugendliche „im besten Deutschland, das wir je hatten“ (Frank Steinmeier, 3.Oktober 2020) sich selbst Schaden zufügen – was ist da los bei uns?
In unserer Zeit und Gesellschaft herrschen zwei Pole: Der eine wird von den Ehrgeizigen bewohnt. Das sind die mit den zahlreichen Followern, den hübschen Körpern, dem Erfolg oder mit der Leistungsbereitschaft. Die Schönen und die Klugen.
Der andere Pol ist von den Leistungsempfängern dominiert. Unser soziales Netz hat eine ungeheure Abfederungsstärke. Man kann es sich in der Hängematte bequem machen. Alles fließt ja; Bürgergeld, Wohngeld, Krankenversicherungsbeiträge, Heizkostenzuschuß – kann man alles haben.
Dieses Polarität betrifft auch die Ritz-Jahrgänge. Jede kann heute Abi machen. Sie kann es auch lassen. Aber sie sollte nicht denken, daß ein Abschluß als Köchin, Elektrikerin, Konditorin etc. für lau zu haben wäre. Solch ein Durchkommen gaukeln nur die not- to – believe-Berichterstattungen im Fernsehen vor: Von der Schulabbrecherin zur Tierdresseurin! Vom Abiversager zum Kunsttischler! Ohne Hauptschulabschluß zum Influencer!
Heute büffeln die meisten jungen Leute (nur kurz unterbrochen durch Bing- und Pling und die Serie, die Du sehen mußt) und versagen oft doch.
Das muß gerächt werden! Sehr einfach geht es über ein somatisches Schuldbekenntnis: Man fügt sich etwas zu. Als Zeichen dafür, daß man schlicht nicht mehr kann. Die Grenze zum Nicht-mehr-können freilich ist individuell.
Um es – den Druck, der da lastet – kurz aufzuschlüsseln: 1950 erhielten 5 % der Schulabsolventen (BRD) die Hochschulzugangsberechtigung. 1960 waren es 7%, 1970 11%. 1980 stieg der Prozentsatz dann rapide auf 22%, 1990 waren wir bei 31,4 %. Gesamtdeutsch waren 2012 knapp 60% der Absolventen studierfähig.
Früher gingen die besten Schüler auf´s Gymnasium, und nur eine Elite studierte. (Nebenschauplatz: Ist es nicht ulkig, daß über die gigantischen Studienabrecherzahlen fast nie berichtet wird? Die Quote beträgt etwa 30%; ich glaube, der enorme wirtschaftliche Schaden wurde kaum je berechnet. Was kostete es den Staat, wenn eine Bauingenieurstudentin – über 50 % Abbrecherquote – im 7. Semester die Segel streicht?)
Die Intellektualitätsanforderung setzt die jungen Leute enorm unter Streß: Heute schafft „es“ jeder; wer bin ich also, der es knapp nicht schafft? Ich streng mich doch an! Wollt ihr einen Beweis, daß ich echt an meine Grenzen gehe? Hier! Das ist mein Blutzeugnis. Ich habe alles gegeben!
Junge Leute ritzen sich unter Leistungsdruck. Umstritten ist, ob bei solcher Selbstverletzung Endorphine („Glückshormone“) ausgeschüttet werden. Der universitäre Bildungshype ist ohnehin pervers. Wir brauchen nicht noch mehr Soziologen, Kunsthistorikerinnen und Politikwissenschaftler; wir brauchen Kindergärtner, Krankenschwestern, Klempner, Installateure und Tischlerinnen.
Ritzen ist zudem – meine These – ein Kriegsersatz. Angeblich – ich habe keine validierten Studien gefunden und beziehe mich auf solide wirkende Netzfunde – sind 40% der Ritzer männlich. Daß Jungs in unserer pazifizierten Gesellschaft einen anthropologischen Leerstand haben, sollte klar sein. Online-Kriegsspiele boomen seit Jahrzehnten. Ritzen ist im Grunde eine folgerichtige Konsequenz.
Und die Mädels? “Wenn es dem Esel zu wohl ist, geht er auf´s Eis.” War das Luther? Anscheinend machen lange Friedenszeiten nervös und „fickerig“. Wann hatte es das je gegeben – über 75 Jahre Kampflosigkeit?
Man/frau will sich austesten. Grenzen spüren. Schmerz erleben in einer allseits abgefederten Welt. Etwas herausschreien, ohne laut werden zu müssen. Man will niemandem Krieg wünschen. Man will auch lieber „sanfte“ Geburten ohne Zeter & Mordio. Niemand wünscht sich die Zeiten der Backpfeifen und Ordnungsschellen zurück.
Aber irgendetwas muß schon her, das bestanden werden will, oder? So ein komisches, unvernünftiges, schmerzhaftes, nach Größerem suchendes Bedürfnis bleibt ja offenbar.
quer
Wenn ich tief in meinen Erinnerungen wühle, erkenne ich einen grundsätzlichen Erfahrungsknick nachfolgender Generationen ab ca. der 60'er/ Anfang der 70'er Jahre. Alles was vorher (zuvor) über Jahrhunderte hin geboren wurde hat frühzeitig nicht nur von Krieg, Not und Hunger "gehört", sondern unmittelbare Bekanntschaft damit gemacht. Kurz: Man wußte immer, wovon man sprach. Immer bestand ein Nachholbedarf um gewesene Mängel auszugleichen oder zu kompensieren.
Im Nachhinein sehe ich nach dem Aufatmen über die bewältigte Kubakrise (vor genau 60 Jahren) den Beginn einer gewissen Sorglosigkeit. In jeder Beziehung. Motto: So schlimm wird es nicht wieder kommen. Diese Annahme hat sich bestätigt.
Und mit der Sorglosigkeit und dem Entschwinden entsprechender Erfahrungen setzte das Bedürfnis nach Nivellierung und Abwertung von Wissen ein.