»M« – das ist Benito Mussolini, und der Auftakt (vgl. Sezession 96) wurde vor allem in Italien zum massiven und preisgekrönten Publikumserfolg.
M. Der Sohn des Jahrhunderts (Stuttgart 2020) erzählt vom Entstehen des Faschismus im März 1919 bis zur Zementierung seiner Macht 1925 entlang der Erlebnisse Mussolinis und weiterer Protagonisten aus seinem Umfeld. Gegner waren und sind ebenso vertreten wie sein Mitarbeiterstab, unnachgiebige Feinde wie fanatische Anhänger.
Auch in Der Mann der Vorsehung bleibt Scurati seinem bewährten Stil treu: Vor allem Dokumente, Briefe, Parteierklärungen, Polizeivermerke und Geheimdiensteinschätzungen umrahmen die Erzählung, die kolportagehaft aufgebaut ist und sich mal wie ein politischer Thriller, mal wie ein Abenteuerroman liest. Diesmal befindet man sich in den Jahren 1925 bis Oktober 1932; der dritte Band dürfte dann die Phase bis zum Weltkriegseintritt Italiens abdecken.
Nun also der erzählerische Einstieg Mitte der Zwanziger: Der Faschismus ist seit drei Jahren hegemonial, hat aber interne Fehden, persönliche Zerwürfnisse und Richtungskämpfe zu überstehen, den Zorn der parteiintern Entmachteten, ferner muß er konstante Konflikte mit anderen Akteuren im Land austragen, darunter die mächtige katholische Kirche, die zersplitterte Linke mit ihren anarchoterroristischen Ausläufern oder auch wirtschaftliche Einflußfaktoren.
All dies wird konstant chronologisch aufbereitet, ganz im Stil des ersten Bandes. Allerdings wirkt der Roman nun schlechterdings schmutziger. Es geht (noch) stärker als im Vorgängerbuch um psychologische Verfaßtheiten der Hauptdarsteller, um Allzumenschliches, um Abgründe, um nicht zu sagen: um Trash. Wer mit wem ins Bett steigt und welche Praktiken wer betreibt – das ist bisweilen ermüdend, aber Scurati gelingt es in der Regel doch, eine explizit politische Wendung einzuweben, also: warum dieses und jenes delikate Detail nun wichtig für das weitere Geschehen der faschistischen Szenerie in ihrer konkreten Epoche gewesen sein soll.
Historisch lehrreich ist schließlich (mindestens) zweierlei: Erstens wird man von Antonio Scurati auf die libyschen Unternehmungen des italienischen Kolonialheeres mitgenommen. Jene Passagen sind literarisch die stärksten des vielseitigen Dokumentarromans; sie könnten alleine für sich einen spannenden wie verstörenden Band ergeben. Zweitens gelingt es dem Autor, die innerfaschistischen Frontstellungen plastisch nachzuzeichnen.
Die »harten« Abteilungen der faschistischen Partei um den unduldsamen und als führendes Ekelpaket der italienischen Nation gezeichneten Roberto Farinacci (1892 – 1945) sorgten beispielsweise für so manchen Wutausbruch des Duce – wie heikel und langwierig die schließlich erfolgreiche Kaltstellung jener Truppenteile verlief, kann man sich dank der Lektüre lebhaft vorstellen.
Wer thematisch am Gegenstand dranbleiben möchte, kann sich ergänzend zu den Dokumenten in diesem Buch mit Farinaccis dreibändiger Faschistischer Revolution aus dem C. H. Beck Verlag (München 1939 – 1941) beschäftigen, auch wenn die dort behandelten Phasen des Faschismus frühere waren als in vorliegendem Fall.
Und doch: Es gab eben nicht nur »M«, den Mann »des Jahrhunderts« bzw. »der Vorsehung«, wie Scurati seine Bände untertitelt, sondern auch all jene, die durch »M« wahlweise groß oder klein, salonfähig oder ausgestoßen wurden.
Scuratis Werk unterhält damit nicht nur den Leser auf beachtlichem Niveau, sondern weckt im besten Sinne eine historische Neugierde, sich neu in diese Zusammenhänge einzulesen. Mehr kann ein an geschichtlichen Fakten orientierter Roman, der freilich eine Prise Fiktion enthält, kaum leisten.
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Antonio Scurati: M. Der Mann der Vorsehung. Roman, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2021. 640 S., 28 €
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