“Das ist, geschichtlich betrachtet, eine Unwahrheit”, fährt er fort. “Die Gewalt, und vor allem die organisierte Gewalt in ihrer höchsten Potenz, dem Krieg, hat viele geschichtliche Probleme gelöst.”
Das ist eine harte Wahrheit, die auch in den heutigen sogenannten westlichen Demokratien wieder in die Mode gekommen ist. Denn der Konsens des Mainstreams ist, daß das Problem Russland-Ukraine ausschließlich mit Gewalt zu lösen sei; der bloße Gedanke an “Verhandlungen” gilt als verpönt und wird als gefährliches “Appeasement” abgekanzelt.
Essén sieht die Rolle der Gewalt allerdings auf einen “operativen Eingriff” beschränkt. Sie kann keine “Werte schaffen”, sondern nur dem “Schaffen eine neue Richtung und neue Voraussetzungen” geben. In dem “Riesenkampf” , der im Juni 1941 begonnen hat, sah er die Chance, “eine Lösung des russischen Problems zu schaffen”, und zwar eine “dauerhafte und haltbare” – also sozusagen eine “Endlösung der Russenfrage”, allerdings keine genozidale.
Sie könne etwa so funktionieren: Das “Sowjetregime und seine Träger” müsse gestürzt und die Ausdehnung des Russischen Reiches beschnitten werden, vor allem im Westen, aber auch teilweise im asiatischen Teil (insbesondere, was die Grenzziehungen zur Mongolei und zur Mandschurei angeht, die zu diesem Zeitpunkt unter japanischer Kontrolle war).
Der russische Bevölkerungszuwachs soll nach Osten, Richtung Ural und Sibirien, abgeleitet werden, ebenso wie der “unwiderstehliche und irrationale”, geradezu triebhafte Drang nach Expansion, der diesem “Volksdasein” eigen sei. Das russische Volk sei überhaupt von einem starken “Nomadenzug” gekennzeichnet, der ihm die “tiefe Verwurzelung in der Landtradition” erschwere, “die für die europäischen Kulturvölker kennzeichnend ist.”
Das Baltikum müsse komplett von der russischen Vorherrschaft befreit werden, Finnland solle “seine natürliche und strategisch gegebene Grenze vom Finnischen Meerbusen über den Ladoga und Onega zum Weißen Meer” erhalten. Die “Wohngebiete der russischen Volksgruppen” sollen durch Umsiedlung verändert werden, etwa in Karelien:
Die russische Bevölkerung, die jetzt in diesen Gegenden wohnt, ist zum größten Teil im letzten Vierteljahrhundert mit Zwangsmitteln nach dort transportiert worden und kann deshalb auch am besten im eigenen und allgemeinen Interesse zurücktransportiert werden.
Da die “russische Gleichung” nicht lösbar, sondern nur reduzierbar sei, wird Rußland jedoch als geopolitischer Faktor bestehen bleiben:
Großrußland mit bedeutend über 100, bald vielleicht 150 Millionen Einwohnern [heute sind es 144 Millionen. – ML ] , wird nach wie vor in seiner gewaltigen Ausdehnung vom Finnischen Meerbusen bis zum Stillen Ozean [Pazifik] daliegen, mit seinen fruchtbaren Ebenen, seinen Wäldern, seinen reichen Rohstoffquellen aller Art und seiner geduldigen, arbeitenden und reich begabten Bevölkerung.
Dieses Reich und dieses Volk werden nach dem engültigen Verunglücken der verfehlten europafeindlichen Eroberungspolitik zu ihrem eigenen Nutzen und Frommen darauf angewiesen sein, an der eigenen inneren Entwicklung zu arbeiten.
Freilich würde eine Niederlage der Sowjetherrschaft zunächst “eine neue Periode eines starken ausländischen Kontrolleinflusses im Dasein des russischen Volkes erzwingen”, der jedoch “nicht bis in alle Ewigkeit dauern” werde (was auch immer diese vage Angabe bedeuten soll). Das post-bolschewistische Rußland werde nach seiner Eindämmung und Befriedung einen “eigenartigen russischen Nationalismus” entwickeln, der “abendländische Einflüsse” auf “positive und aufbauende Weise geltend machen könnte.”
Ideen dieser Art wären wohl auch für antibolschewistische russische Nationalisten dieser Zeit unannehmbar gewesen. Zu phantastisch erscheint die Vorstellung einer wohlwollenden “ausländischen” Kontrollmacht, die das russische Volk in einem gewaltigen, politisch umhegten eurasischen Garten wachsen und gedeihen läßt, und sich insbesondere verkneift, sich an den noch heute äußerst gefragten “reichen Rohstoffquellen aller Art” zu vergreifen.
Zumal dieser ausländische Hegemon, der im Jahr 1941 nach Esséns Vorstellung das bolschewistische Regime stürzen und nach dem Sieg die Eindämmung Rußlands gewährleisten sollte, das Großdeutsche Reich unter nationalsozialistischer Führung war. Allein würde es dieses Kunststück jedoch nicht vollbringen können. Essén schrieb:
Die erste Voraussetzung für die europäische Sicherheit im Osten ist die Schaffung einer europäischen Einheitsorganisation.
Mit anderen Worten eine Art Europäische Union, die zu diesem Zeitpunkt natürlich aus mehr oder weniger faschistischen Staaten bestehen und in der Deutschland die vorherrschende Rolle spielen würde, vielleicht mit Italien als “Unterchef” in Süd- und Südosteuropa. Dies schreibt Essén nicht so direkt, wie ich es hier tue, aber es geht aus seiner Argumentation klar hervor, wohin die Reise gehen soll.
Weltanschaulich sieht er den Krieg so, wie er im wesentlichen auch heute noch gesehen wird, wenn auch mit unterschiedlicher Wertung: Als Kampf zwischen Bolschewismus/Kommunismus, Liberalismus/Demokratie (die als Fassade für eine faktische “Plutokratie” gewertet wird) und eben Faschismus/Nationalsozialismus, in Dugin’schen Begriffen zwischen erster, zweiter und dritter “politischer Theorie”.
Für Essén kann das “Abendland” bzw. “Europa” bzw. “die europäische Kultur und Zivilisation” in der weltpolitischen Lage des Jahres 1941 allein durch autoritäre Nationalismen verteidigt werden, die auf der Grundlage eines “gutorganisierten nationalen Wirtschaftssystems” (Korporatismus) und eines “völkischen Zusammengehörigkeitsgefühls” (Prinzip der Volksgemeinschaft, die den Klassenkampf aufhebt) beruhen.
Liberalismus und Parteiendemokratie seien dazu nicht imstande, und hätten vielmehr den Zwillingen Plutokratie und Bolschewismus das Feld geebnet:
(…) ein entnationalisierter Raubkapitalismus, für den das Wirtschaftsleben nur ein Feld der Ausbeutung darstellt, ist dagegen der nächste Vorläufer des Bolschewismus.
Essén vollzieht nicht allerdings den in der NS-Doktrin und ‑Propaganda üblichen Schritt, “Bolschewismus” und “Plutokratie” als nur scheinbar verfeindete Masken des “Weltjudentums”, das in Washington ebenso das Sagen habe wie im Kreml, zu subsumieren.
Das Vorhaben, ein geeintes faschistisches Europa bzw. eine Art europäische Föderation der faschistischen Staaten zu erschaffen, die imstande sei, sowohl dem transatlantisch-kapitalistischen als auch dem östlich-bolschewistischen Feind zu trotzen, wurde bekanntlich niemals verwirklicht und hätte unter den Bedingungen des Krieges wohl auch nicht verwirklicht werden können.
In der NS-Propaganda tauchte zwar immer wieder das Schlagwort eines vage definierten “Neuen Europa” auf, ein Ziel, das Teile der NS-immanenten Opposition und etliche “Eurofaschisten” (man denke an Drieu La Rochelle) ernsthaft anstrebten, das sich aber rasch als Deckmantel für das chauvinistisch-imperialistische Streben der deutschen Führung entpuppte.
Hans Werner Neulen schreibt in seinem Standardwerk An deutscher Seite (1985) über die internationalen Freiwilligen der Wehrmacht und Waffen-SS:
Hitler und seine Satrapen waren die besten Garanten dafür, das Vertrauen der europäischen Völker in eine supranationale Ordnung zu zerstören. Das nationalsozialistische Dogma der unterschiedlichen rassischen Wertigkeit der Völker mußte jede Einheit Europas sprengen. Die rassenbiologische Optik Berlin engte Europa auf den germanisch deklarierten Raum ein. Aber selbst die germanischten Völker konnten kaum erwarten, in Hitlers Nachkriegseuropa ihr eigenständiges und autonomes Staatsleben zu behalten. Holland, Belgien, Dänemark und Norwegen hätten im besten Fall den Status gleichgeschalteter Vasallenstaaten erhalten, wahrscheinlicher ist, daß sie Provinzen bzw. Reichsgaue des Großgermanischen Reiches geworden wären.
Noch schlechter wäre es wahrscheinlich den slawischen und baltischen Völkern ergangen:
Polen, die Tschechei, das Baltikum, die Ukraine, für sie war Platz im Neuen Europa nur als Siedlungsgebiet der germanischen Kernvölker, ihr nationales Volksleben sollte ausgelöscht werden. Betrachtete Hitler Europa mithin allein als deutschen Verfügungsraum, so konnte das Reich nie ein positives Ordnungsbild entwickeln, das bei der Mehrheit der Europäer hätte Vertrauen erwecken können.
Eine “eurofaschistische” Allianz hätte sich aus recht heterogenen Bestandteilen zusammensetzten müssen: Erstens, aus Ländern, die nicht von Deutschland besetzt waren, in denen aber ideologisch verwandte Regime herrschten (Italien, Spanien, Rumänien, Ungarn, Portugal, Bulgarien, Slowakei…);
zweitens aus militärisch besetzten Ländern, in denen die Besatzungsmacht ideologisch verwandte Regime installiert oder auf andere Weise die Kontrolle übernommen hatte (Frankreich, Norwegen, Dänemark, Belgien, Kroatien, Niederlande…);
drittens aus Ländern, die angesichts der sowjetisch-russischen Bedrohung keine andere Wahl hatten, als ein Bündnis mit Deutschland einzugehen (Finnland, die baltischen Staaten, die 1940 von der Sowjetunion besetzt, 1941 von Deutschland “befreit” wurden). Hinzu kamen besetzte Länder, aus denen praktisch nichts zu holen war, weder Verbündete noch Kriegsfreiwillige (Polen, Tschechien, Griechenland…).
Hätten der Antibolschewismus und die Furcht vor der Eroberung durch den Osten allein genügt, um eine “europäische Einheitsorganisation” zusammenzuschmieden? Mit Sicherheit nicht.
In den Ländern der zweiten Kategorie wurde die deutsche Besatzung von der Mehrheit der Menschen als unmittelbareres Joch empfunden als die nur potentielle Gefahr aus dem Osten; wer sich den Okkupanten anschloß, galt in den Augen großer Teile der Bevölkerung als Landesverräter, auch wenn er paradoxerweise aus radikalnationalistischen Motiven handelte.
Der Antibolschewismus bedeutete zudem in vielen besetzten Ländern auch eine Bürgerkriegserklärung nach innen, denn sie waren noch nicht von Kommunisten und Sozialisten “gesäubert” wie das nationalsozialistische Deutschland.
Wie sah es nun mit den Völkern der Sowjetunion aus? Essén empfahl: “Das russische Reich kann entsprechend seinen Hauptvolksstämmen zersprengt werden.” Eine Schlüsselrolle spiele hierbei die Ukraine:
Der Ukraine kann eine eigene staatliche Zukunft und eine neue Zielsetzung ihrer Entwicklung gegeben werden. (…)
Überhaupt sei die Ukraine das “erste und größte Problem” der großrussischen Staatsbildung, welche genau an dieser Schwachstelle sabotiert werden könne:
Es ist der Sowjetherrschaft, ebenso wie der Zarenherrschaft, nicht gelungen, aus den großrussischen und kleinrussischen Volksstämmen eine einheitliche Nation zu bilden. Das Verhältnis der Ukraine zu Großrußland erhielt besonders in der Sowjetzeit in steigendem Maß den Charakter einer Ausbeutung. Das selbständige Dasein der ukrainischen Nationalität auf dem sprachlichen und kulturellen Gebiet läßt sich nicht mehr bestreiten. Es liegt im allgemeinen Interesse des ukrainischen Volkes und Europas, daß die Entwicklung zu staatlicher Unabhängigkeit, die durch die bolschewistische Eroberung 1918/19 unterbrochen wurde, erneut aufgenommen wird.
Die Ukraine scheint zu diesem Zeitpunkt für so manchen Sympathisanten des Nationalsozialismus und des Deutschen Reichs eine große Anziehungskraft gehabt zu haben. Etwa zur selben Zeit wie Essén, im Juli 1941, geriet zum Beispiel der französische Faschist Jacques Benoist-Méchin in einen “Slava Ukraina”-Taumel und träumte von einer unabhängigen Ukraine, die zum Schmuckstück einer neuen europäischen Ordnung werden könne.
Im Vorwort zu seinem 1939 verfaßten, 1941 publizierten schwärmerisch-schwülstigen Pamphlet L’Ukraine des origines à Stalin (Die Ukraine von ihren Anfängen bis Stalin) schrieb er:
Die Ukraine, Land der Krieger und Dichter, der “Hetmans” und der Ackerbauern, in dem die Musik und der Heroismus ebenso zur Landschaft gehören wie die Weite der Erde und des Himmels, das Land von Stenka Rasin und Nestor Machno, das Land des bewundernswerten Gogol, des Autors der “Toten Seelen”, der uns unter diesem Titel das Porträt einiger der lebendigsten Seelen überhaupt hinterlassen hat. (…)
Wieder taucht am Horizont die begehrte Ukraine auf, deren Erntefelder wie Jasons Goldenes Vlies durch einen Vorhang aus Feuer und Blut leuchten. Und dieses Mal ist es nicht das geschlossene Getrampel der mongolischen Horden, die aus den Tiefen der asiatischen Steppe heranströmen, sondern das mächtige Dröhnen der Panzerdivisionen der Wehrmacht, die den großen Kreuzzug des Abendlandes ankündigen.
Essén sieht ebenfalls einen schicksalshaften Wendepunkt in der abendländischen Geschichte gekommen, drückt dies allerdings viel nüchterner aus. Ein befreite, staatlich unabhängige Ukraine
… wird eine bedeutende Veränderung im europäischen Dasein mit sich bringen. Die Ukraine ist ihrer ganzen Natur nach europäischer als es das bisherige russische Reich im großen und ganzen gewesen ist. Hier sind die Voraussetzungen für eine neue und positive Entwicklung von größter Bedeutung vorhanden. Aber nur Rußlands Niederlage hat diese Möglichkeit eröffnen können.
Nicht anders als Jahrzehnte später der amerikanisch-polnische Geostratege Zbigniew Brzeziński, erblickt Essén in der Ukraine den entscheidenden Riegel, mit dem Europa vor dem Zugriff Rußlands abgesichert und mit dem Rußlands imperiales Streben eingedämmt werden kann. In seinem vielzitierten Buch Die einzige Weltmacht (The Grand Chessboard) schrieb er 1997:
Allein schon die Existenz einer unabhängigen Ukraine hilft, Russland zu verändern. Ohne die Ukraine hört Russland auf, ein eurasisches Imperium zu sein. Es kann zwar immer noch imperialen Status beanspruchen, würde dann aber in Konflikte mit den zentralasiatischen Staaten verwickelt. Auch China würde sich erneuter russischer Dominanz in Zentralasien entgegenstellen. Wenn Russland aber die Kontrolle über die Ukraine zurückgewinnt, wäre es wieder eine Imperialmacht.
Fortsetzung folgt.
– – –
Bleiben Sie auf dem neuesten Stand:
Abonnieren Sie hier unseren Telegramm-Kanal.
Abonnieren Sie uns hier bei twitter.
Tragen Sie sich hier in unseren Rundbrief ein.
Adler und Drache
Spannende Lektion, auch weil man an diesem Beispiel (vor allem im Vergleich mit heute) beobachten kann, wie die drei politischen "Großideologien" (vermutlich seit 1789) immer wieder aktualisiert, vermischt, geremixt, gerelectured, neu angeordnet und neu einander zugeordnet werden, um auf der einen Seite "Identität" und auf der anderen ein Feindbild zu erzeugen. Dieses Vorgehen scheint mir zum Kern des "Zeitalters des Politischen" zu gehören, wie es sich in Europa und der europäisch dominierten Welt nach Abschaffung des Reichs und des Kaisertums darstellt. Ich nehme an, das wird auch so weitergehen, und es würde auch "unter rechts" so weitergehen, mit all den Schwierigkeiten und prinzipiell unlösbaren politischen Problemen (zumindest solange diese Tradition des politischen Bewusstseins nicht ebenso abgebrochen wird wie das Bewusstsein, welches die Reichsidee hervorbrachte und durch die Jahrhunderte trug).
Nebenfrage @ Lichtmesz: Ich las mal irgendwo, das der Nationalsozialismus keineswegs durchgehend rassenideologisch geprägt gewesen wäre, dass es auch scharf kritische Stimmen gegeben hätte. Wissen Sie Näheres dazu?
ML: Es gab jedenfalls interne kritische Stimmen zur Ostpolitik (etwa von Dwinger, Werner Best). Die Rassendoktrin bleibt halt bis zuletzt unscharf ohne einheitliche dogmatische Fassung, kann man nachlesen in meinem Ethnopluralismus-Buch. L. F. Clauss stufe ich als "Ethnopluralist" unter den Rassekundlern ein.