Corona, Struktur und Psyche

von Lorenz Bien

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/ Dezember 2021

Es »läßt sich offen­bar nur so erklä­ren, daß jedes Zeit­al­ter sich sei­ne Krank­hei­ten macht, die eben­so zu sei­ner Phy­sio­gno­mie gehö­ren wie alles ande­re, was es her­vor­bringt: sie sind gera­de so gut sei­ne spe­zi­fi­schen Erzeug­nis­se wie sei­ne Kunst, sei­ne Stra­te­gie, sei­ne Reli­gi­on, sei­ne Phy­sik, sei­ne Wirt­schaft, sei­ne Ero­tik und sämt­li­che übri­gen Lebens­äu­ße­run­gen […]«, bemerk­te der öster­rei­chisch-jüdi­sche Jour­na­list und Schrift­stel­ler Egon ­Frie­dell in sei­ner Kul­tur­ge­schich­te der Neu­zeit. Tat­säch­lich scheint das Coro­na­vi­rus in vie­ler­lei Hin­sicht eine Krank­heit unse­rer Zeit zu sein.

Das beginnt damit, daß vie­le der Ent­wick­lun­gen, die sich seit Beginn der Kri­se beob­ach­ten lie­ßen, ledig­lich bereits vor­han­de­ne Ten­den­zen ver­stärkt haben. Sei es die Ver­schär­fung öko­no­mi­scher Ungleich­heit, die Mono­pol­stel­lung ame­ri­ka­ni­scher Big-Tech-Fir­men oder, wie Michel Hou­el­le­becq es in der Radio­sen­dung »France Inter« ver­le­sen ließ, die Redu­zie­rung phy­si­scher zwi­schen­mensch­li­cher Kon­tak­te – Coro­na bringt nur wenig her­vor, was nicht auch zuvor bereits da war.

Die Kri­se hat zudem einen gewis­ser­ma­ßen »post­mo­der­nen« Cha­rak­ter, eine Art von Unwirk­lich­keit. Wer nicht gera­de im kli­ni­schen Bereich arbei­tet, wird in sei­nem All­tag weder mit hus­ten­den Men­schen noch mit Todes­fäl­len kon­fron­tiert. Was wir direkt wahr­neh­men, sind ledig­lich Nach­rich­ten über Todes­fäl­le, Inzi­denz­zah­len, unmit­tel­bar in unse­ren All­tag ein­grei­fen­de Maß­nah­men und, dar­an anschlie­ßend, Dis­kus­sio­nen. Wer ver­traut wem? Wer infor­miert sich über wel­che Quel­le? Im All­tag begeg­net uns »Coro­na« somit in ers­ter Linie als dis­kur­si­ves und nicht als medi­zi­ni­sches Phänomen.

Damit sei nun kei­nes­falls die Dis­kus­si­on um Sinn oder Unsinn der Maß­nah­men oder die Rich­tig­keit der Zah­len auf­ge­grif­fen; fest­ge­hal­ten soll wer­den, daß, gera­de weil sich das Virus im All­tag der Wahr­neh­mung völ­lig ent­zieht, die Gesell­schaft nicht in ers­ter Linie über den Krank­heits­er­re­ger, son­dern über sich selbst debat­tiert und dabei zuneh­mend unfä­hig gewor­den zu sein scheint, zu einer gemein­sa­men Wahr­neh­mung zu fin­den. Die Rea­li­täts­per­zep­ti­on wird dabei zum Unter­schei­dungs­merk­mal zwi­schen ver­schie­de­nen Lagern. Daß sich alle hand­fes­ten Bezü­ge, selbst die zur Rea­li­tät, in unse­rer Kul­tur auf­lö­sen, ist kei­ne neue Erkenntnis.

Bereits 1956 beschrieb Arnold ­Geh­len in sei­nem Werk Urmensch und Spät­kul­tur, wie die Auf­lö­sung tra­di­tio­nel­ler Insti­tu­tio­nen mit einer Sub­jek­ti­vie­rung der mensch­li­chen Wahr­neh­mung ein­her­geht. Hier mag man nun an die Insti­tu­ti­on der Main­stream-Medi­en den­ken, die in den letz­ten Jah­ren kaum etwas unver­sucht gelas­sen hat, um ihren Bedeu­tungs­ver­lust her­bei- und damit Men­schen zu alter­na­ti­ven Infor­ma­ti­ons­ka­nä­len hinzuführen.

Aller­dings sind Geh­lens Aus­füh­run­gen weni­ger des­we­gen inter­es­sant, weil sie die gesell­schaft­li­che Wahr­neh­mungs­spal­tung direkt vor­aus­sa­gen, son­dern indem sie eine Pro­ble­ma­tik beschrei­ben, die in unse­rer Zeit weit ver­brei­tet ist und ahnen läßt, wie­so eine aus ihr bestehen­de Gesell­schaft auf eine bestimm­te Wei­se auf das Coro­na­vi­rus reagiert.

Geh­len stellt dar, daß ein Ver­schwin­den der Ste­reo­ty­pi­sie­rung und der Nor­mie­rung von Ideen, Begrif­fen und Hand­lun­gen, die durch eine Insti­tu­ti­on erfol­gen, den Men­schen nicht bloß stär­ker in einer »psy­chi­schen Rea­li­tät« leben las­se, son­dern ihn auch abhän­gi­ger von »sub­jek­ti­ver Moti­va­ti­on« mache und ihn zudem zu »dau­ern­der Impro­vi­sa­ti­on« zwin­ge. Die Frei­heit, die sich durch die Ver­flüs­si­gung ergibt, steht dem­nach in bestän­di­ger Gefahr, in eine Star­re zu ver­fal­len. Denn nur durch Nor­mie­rung bestimm­ter Bewußt­seins­in­hal­te kön­nen zugleich »zu- und abflie­ßen­de« Inhal­te orga­ni­siert werden.

Man kann sich dies bei­spiels­wei­se in Form eines Gesprächs den­ken: Zwei mit­ein­an­der kom­mu­ni­zie­ren­de Men­schen kön­nen nur dann in einen Gesprächs­fluß gelan­gen, wenn sie über fest nor­mier­te Begrif­fe und Wor­te ver­fü­gen. Andern­falls ver­sagt die Kom­mu­ni­ka­ti­on, das Gespräch ver­liert sich im luft­lee­ren Raum oder versiegt.

Knapp ein hal­bes Jahr­hun­dert nach Geh­len beschrieb der bri­ti­sche Kul­tur­wis­sen­schaft­ler und Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor Mark Fisher eine Ten­denz, die er bei sei­nen eige­nen Stu­den­ten wahr­nahm und die an Geh­lens Bemer­kung über Insti­tu­tio­nen als »Ent­las­tungs­funk­ti­on gegen­über sub­jek­ti­ver Moti­va­ti­on« den­ken läßt: »Vie­le der jugend­li­chen Stu­den­ten, denen ich begeg­ne­te, schie­nen sich in einem Zustand zu befin­den, den ich als depres­si­ve Hedo­nie bezeich­nen wür­de. Depres­si­on wird nor­ma­ler­wei­se als ein Zustand der Anhe­do­nie cha­rak­te­ri­siert, aber der Zustand, auf den ich mich bezie­he, wird nicht durch die Unfä­hig­keit kon­sti­tu­iert, Freu­de zu emp­fin­den, son­dern durch die Unfä­hig­keit, irgend etwas ande­res zu tun, als dem Gefühl der Freu­de oder des Genus­ses nach­zu­ja­gen. Die Stu­den­ten haben das Emp­fin­den, daß ›etwas fehlt‹ – aber erken­nen nicht, daß die­ser mys­te­riö­se, feh­len­de Genuß nur jen­seits des Lust­prin­zips zugäng­lich ist.«

Die beschrie­be­nen Stu­den­ten in Fishers Hör­saal las­sen in der Tat erken­nen, wel­che Dyna­mi­ken in einer Welt auf­ge­lös­ter Struk­tu­ren die Ober­hand gewin­nen. Die Psy­che wird inso­fern »offe­ner« oder »flüs­si­ger«, als sie aus der Form­ge­bung der Insti­tu­ti­on aus­bre­chen kann, zugleich ist sie damit jedoch viel grund­le­gen­de­ren Fes­seln aus­ge­setzt: der eige­nen Sti­mu­la­ti­on. Der »Genuß« wird zum ein­zig ver­blei­ben­den »Gra­vi­ta­ti­ons­zen­trum, Weg­wei­ser […] Koor­di­na­tor« (Geh­len) in einer ansons­ten ent­struk­tu­ra­li­sier­ten Welt. Die­ser Pro­zeß wirkt zudem selbst­ver­stär­kend: Eine Gene­ra­ti­on, die ihre gesam­te Umge­bung per­ma­nent nach Lust und Anreiz scannt, schafft ihrer­seits eine form­lo­se Lebens­welt, die kei­nen ande­ren Mecha­nis­men mehr folgt.

Die Ver­bin­dung zum Genuß steht dabei nicht bloß im Zen­trum, sie ent­wi­ckelt eine bei­na­he reli­giö­se Dyna­mik: »Ich frag­te ein­mal einen Schü­ler her­aus­for­dernd, war­um er im Unter­richt immer Kopf­hö­rer tra­ge. Er ant­wor­te­te, daß es egal sei, da er dabei gar kei­ne Musik abspie­le. In einer ande­ren Unter­richts­stun­de spiel­te er Musik mit sehr gerin­ger Laut­stär­ke über sei­ne Kopf­hö­rer, ohne sie zu tra­gen. Als ich ihn bat, sie aus­zu­schal­ten, ant­wor­te­te er, daß doch selbst er die Musik nicht hören könne.

War­um soll­te man Kopf­hö­rer tra­gen, ohne Musik abzu­spie­len, oder Musik abspie­len, ohne dabei sei­ne Kopf­hö­rer zu tra­gen? Weil die Anwe­sen­heit der Kopf­hö­rer an den Ohren oder das Wis­sen, daß Musik abge­spielt wird (auch wenn der Schü­ler selbst sie nicht hört), eine Bestä­ti­gung dafür ist, daß die Matrix sich immer noch in Reich­wei­te befin­det. […] Solan­ge die Musik noch läuft, kann sie, auch wenn er selbst sie nicht hören kann, immer­hin das Abspiel­ge­rät an sei­ner Stel­le genie­ßen.« (Fisher)

Bizar­rer­wei­se erhebt sich die depres­si­ve Hedo­nie damit selbst zu einer Form der »Insti­tu­ti­on«. Mit Geh­len gespro­chen, wird der Genuß vom Daseins­wert zum Selbst­wert: Er wird nicht mehr bloß um sei­ner Genieß­bar­keit wil­len ver­folgt, son­dern um »sei­ner selbst« und somit zum Weg­wei­ser. Wor­in liegt nun die depres­si­ve Qua­li­tät die­ser Hedonie?

Vor allem steht sie der Ent­wick­lung einer sta­bi­len Per­sön­lich­keit im Wege, die nicht ledig­lich durch posi­ti­ve Emo­tio­nen, son­dern durch gesun­de Ver­bin­dun­gen zu Mit­men­schen und dem Gefühl der Sinn­haf­tig­keit des eige­nen Lebens bestimmt wird. Die depres­si­ve Hedo­nie zwingt den Men­schen hin­ge­gen in eine Schlei­fe, da jeder Reiz, dem er nach­jagt, ihn ledig­lich auf die eige­nen Sin­nes­wahr­neh­mun­gen zurück­fal­len läßt. Auch wenn das Abspiel­ge­rät an der Stel­le des Stu­den­ten genießt, führt die­se Tran­szen­die­rung des Genus­ses ihn nir­gend­wo hin, außer zu einem poten­ti­el­len, sich in Reich­wei­te befin­den­den Genu­ßes. Was auf ihn war­tet, kit­zelt ledig­lich die eige­nen Sin­ne und ver­weist wie­der auf ihn selbst.

In einer Gegen­wart, in wel­cher Insti­tu­tio­nen wie die Fami­lie, die Kir­che, regio­na­le Kul­tur und so wei­ter nach und nach ero­diert sind, ist der von Fisher beschrie­be­ne Typus mitt­ler­wei­le zum Bestim­men­den gewor­den. Dabei han­delt es sich kei­nes­falls um eine rein medi­zi­ni­sche Pro­ble­ma­tik. ADHS ist zwar eine rea­le neu­ro­lo­gi­sche Stö­rung, zugleich weist das bei­na­he epi­de­mi­sche Aus­maß, in wel­chem die­se seit dem Beginn der 1990er Jah­re dia­gnos­ti­ziert wur­de, auf ein tie­fer lie­gen­des Pro­blem hin.

Dabei fällt auf, daß sich die Außen- und die Innen­welt in die­ser ent­struk­tu­ra­li­sier­ten Welt auf eine merk­wür­di­ge Art und Wei­se spie­geln: Bei­de gehen radi­kal vom Indi­vi­du­um aus und ver­ste­hen alle wich­ti­gen Lebens­ent­schei­dun­gen als eine Fra­ge der Ver­brau­cher- und Kon­su­men­ten­wahl. Die Gesell­schaft, ähn­lich wie die depres­si­ve Hedo­nie, hält den ein­zel­nen in einer Art Schlei­fe gefan­gen, in wel­cher er immer wie­der auf das eige­ne Ich und die eige­ne Moti­va­ti­on zurück­ver­wie­sen wird, ohne sich irgend­wo anbin­den zu kön­nen. Wel­che Art von Struk­tur kann in einer sol­chen Gesell­schaft auf den Plan treten?

Da wäre etwa der Kult der Diver­si­tät, der »Viel­falt« und der dis­kri­mi­nier­ten Iden­ti­tä­ten. Er ist inner­halb der west­li­chen Welt mitt­ler­wei­le durch­aus zu einer Art »Ord­nungs­struk­tur« avan­ciert – er bean­sprucht Ver­bind­lich­keit, hat Ritua­le und Fes­te und wird bereits den Jüngs­ten als ver­meint­li­che Grund­la­ge unse­rer Gesell­schaft ver­mit­telt. Der Ver­bind­lich­keits­an­spruch ist dabei im größt­mög­li­chen For­mat gedacht. Wer aus­schert, ver­stößt nicht bloß gegen die Regeln, er macht sich zum »Men­schen­feind« schlechthin.

Obwohl die­se Ideo­lo­gie mitt­ler­wei­le als Ord­nungs­struk­tur auf­tritt, bezieht sie ihre Legi­ti­ma­ti­on erklär­ter­ma­ßen durch die Auf­lö­sung aller vor­he­ri­gen Ord­nun­gen. Geschlech­ter, Eth­ni­en und Kul­tu­ren sol­len aus den »Fes­seln« fest umris­se­ner Gren­zen und Pola­ri­tä­ten befreit wer­den. 2015 erklär­te etwa der kana­di­sche Pre­mier­mi­nis­ter Jus­tin Tru­deau: »Kana­da hat kei­ne Kern­iden­ti­tät und kei­nen Main­stream. Es gibt geteil­te Wer­te – Offen­heit, Respekt, Mit­ge­fühl, der Wil­le, hart zu arbei­ten und für­ein­an­der da zu sein.« Das ist ein abs­trak­ter Mini­mal­kon­sens, der typisch ist für den Anspruch an Struk­tur, den die Diver­si­täts­ideo­lo­gie erhebt.

Somit ist die Diver­si­täts­ideo­lo­gie gewis­ser­ma­ßen ein Gegen­pol zur depres­si­ven Hedo­nie, da sie über ein rein indi­vi­du­el­les Erle­ben hin­aus den Anspruch erhebt, gesell­schaft­li­ches Zusam­men­le­ben struk­tu­rie­ren zu wol­len. Zugleich hat die von ihr ange­streb­te »Struk­tur« ledig­lich die Negie­rung von Struk­tur zum Inhalt – ähn­lich wie die depres­si­ve Hedo­nie zwar das Innen­le­ben des ein­zel­nen »formt«, aber der qua­si­re­li­gi­ös kon­no­tier­te Genuß die ein­zi­ge Form ist, die er anstre­ben kann.

Ver­mut­lich ist die all­mäh­li­che Wand­lung der Diver­si­täts­ideo­lo­gie in die soge­nann­te Cri­ti­cal Race Theo­ry (CRT) auf die­sem Weg erklär­bar. Wo der Diver­si­täts­ge­dan­ke noch die Vor­stel­lung eines fried­li­chen Zusam­men- oder Neben­ein­an­der­le­bens zur Uto­pie mach­te, teilt die soge­nann­te CRT wie­der sehr genau in Eth­nie und Geschlecht ein, benennt zudem kla­re Hier­ar­chien und Feinde.

Die CRT for­dert kei­nen abs­trak­ten Mini­mal­kon­sens, son­dern eine Umge­stal­tung der Gesell­schaft nach »ras­si­schen« Merk­ma­len. Um einer ange­pran­ger­ten »wei­ßen Vor­herr­schaft« ent­ge­gen­zu­wir­ken, sol­len Arbeits­plät­ze, Woh­nun­gen und gesell­schaft­li­che Aner­ken­nung nach eth­ni­schen Kri­te­ri­en ver­teilt wer­den. Zudem macht die »Kri­ti­sche Ras­sen­theo­rie« damit eine gro­ße Erzäh­lung auf, in der jahr­hun­der­te­lang zurück­rei­chen­de Unge­rech­tig­kei­ten durch eine gemein­sa­me Anstren­gung und gegen einen klar mar­kier­ten Feind gerächt wer­den. Ein Feind, der für alle »PoC« an der Haut­far­be des ande­ren erkenn­bar ist, für die Wei­ßen selbst jedoch zu einem »inne­ren« Feind wird, der durch qua­sis­pi­ri­tu­el­le Geis­tes­übun­gen in Schach gehal­ten wer­den soll.

Ähn­lich wie Coro­na sind auch die Diver­si­täts- und Iden­ti­täts­dis­kur­se Debat­ten über unein­heit­li­che Wahr­neh­mun­gen und Struk­tur­be­dürf­nis­se. Aus dem luft­lee­ren Raum der depres­si­ven Hedo­nie her­aus kann sich der ein­zel­ne wie­der ver­or­ten. Die Per­zep­ti­on steht auf dem Prüf­stand: Wer übt Macht über wen aus, wer hat unge­recht­fer­tig­te Vor­tei­le und wer wird von wem ausgenutzt?

Und eben­so wie im Fal­le von Coro­na läßt sich beob­ach­ten, daß der Ton­fall gegen­sei­tig aggres­si­ver wird, je offen­sicht­li­cher sich der Wahr­neh­mungs­spalt nicht mehr kit­ten läßt. Daß die »flüs­si­ge« Struk­tur der Diver­si­tät schließ­lich in die »har­te« Struk­tur der CRT führt, folgt somit ledig­lich dem Befund Arnold Geh­lens: Wo kei­ne gemein­sa­men Begrif­fe mehr da sind, muß das Gespräch erstar­ren. Der Diver­si­täts­ge­dan­ke war offen­bar unfä­hig, »zu- und abflie­ßen­de Inhal­te« zu orga­ni­sie­ren, und stieß den ein­zel­nen ledig­lich auf sei­ne Ein­zel­per­son und sei­ne Selbst­mo­ti­va­ti­on zurück.

Nach einer jahr­zehn­te­lan­gen vor­he­ri­gen Ent­struk­tu­ra­li­sie­rung tritt nun auch mit den Coro­na-Maß­nah­men eine »har­te« Struk­tur auf den Plan. Wur­de der per­sön­li­che Umgang zuvor ledig­lich als eine Fra­ge der Ver­brau­cher­wahl ver­stan­den, ist er nun strengs­ter staat­li­cher Kon­trol­le unter­wor­fen. Soll­ten zuvor abs­trak­te Wer­te als gesell­schaft­li­ches Gerüst aus­rei­chen, ste­hen an ihrer Stel­le nun kon­kre­te Hand­lungs­an­wei­sun­gen und ‑ver­bo­te, bis in den intims­ten Bereich hin­ein. Es wird die gemein­sa­me Auf­ga­be betont, vor der sich die Gesell­schaft gestellt sehen soll und derent­we­gen der Ein­zel­ne nun Ver­zicht und Dis­zi­plin zu üben habe.

Zeit­wei­se drängt sich dabei der Ein­druck auf, daß nicht weni­ge Men­schen die­se Struk­tur bei­na­he erleich­tert anneh­men. Sie bie­tet einen Aus­weg aus der ledig­lich selbst­zen­trier­ten depres­si­ven Hedo­nie, hin zu der Fra­ge, wel­che Gren­zen man sich selbst auf­er­le­gen kann, um der Gemein­schaft zu die­nen. Es han­delt sich dem­nach auch um die Wie­der­kehr der »gro­ßen Erzäh­lung«, und die Wucht, mit der die­se ein­schlägt, läßt unge­fähr erah­nen, wie unwohl sich nicht weni­ge Men­schen im vor­he­ri­gen Nie­mands­land gefühlt haben müssen.

Weder Erzäh­lung noch Struk­tur wach­sen jedoch aus orga­ni­schen Ver­bin­dun­gen. Die in ein­zel­ne Wahr­neh­mungs­tei­le zer­fal­le­ne Gesell­schaft läßt sich zwar über­ra­schend gut, aber doch nur teil­wei­se zu einer Ein­heit for­mie­ren. Wie ein Kleis­ter soll die Coro­na-Erzäh­lung die ato­mi­sier­ten Puzzle­stücke zusam­men­set­zen und als Insti­tu­ti­on wir­ken. Daher auch die von Kri­ti­kern oft beklag­ten schein­ba­ren Sinn­lo­sig­kei­ten man­cher Maßnahmen.

Geh­len spricht in die­sem Zusam­men­hang von einer Eigen­wert­sät­ti­gung der Insti­tu­ti­on: Die Insti­tu­ti­on, die vom Men­schen geschaf­fen wur­de, erreicht einen der­art hohen Grad an Selbst­zweck­haf­tig­keit, daß sie den ein­zel­nen legi­ti­miert, nicht umge­kehrt. Gera­de dadurch kön­nen sich aller­dings ande­re Dyna­mi­ken inner­halb der Insti­tu­ti­on ent­fal­ten. Je selbst­zweck­haf­ter etwa die Regeln einer Sport­art sind, des­to eher kön­nen in ihr »Bewe­gungs­freu­de, Kampf­lust […], Gesel­lig­keit« auf­tre­ten. Oder im Fal­le Coro­nas: Je mehr die Maß­nah­men (schein­bar oder real) um der Maß­nah­men wil­len voll­zo­gen wer­den, des­to mehr kön­nen sich die Men­schen an das Nar­ra­tiv anbinden.

Jedoch: Wäh­rend die Ste­reo­ty­pi­sie­rung und die Nor­mie­rung von Ideen und Begrif­fen gelin­gen, bin­den sie das Indi­vi­du­um schlu­ßend­lich nicht in ein grö­ße­res Mus­ter ein. Insti­tu­tio­nen wie die Fami­lie, eine Reli­gi­on, ein Volk, eine Ehe usw. ver­bin­den den ein­zel­nen mit sei­nen Mit­men­schen oder etwas über das Mensch­li­che Hin­aus­ge­hen­dem. Er ist ein­ge­bun­den in eine grö­ße­re Ket­te, die ihn auf den Wert des Lebens ein­schwört – etwa durch die Insti­tu­tio­na­li­sie­rung von Fort­pflan­zung und Zusam­men­le­ben (Fami­lie) oder die Aus­rich­tung auf einen reli­giö­sen Inhalt, den »Selbst­wert im abso­lu­ten Sin­ne« (Geh­len), der selbst durch kei­ne Ver­bin­dung legi­ti­miert wer­den muß.

Die depres­si­ve Hedo­nie, wir erin­nern uns, ist schlu­ßend­lich der Zustand, in dem jeg­li­che Ver­bin­dung auf etwas über den ein­zel­nen Hin­aus­ge­hen­des unmög­lich scheint, in dem der ein­zel­ne stets nur von Reiz zu Reiz has­tet, um sich in die­sem kurz­zei­tig »spü­ren« zu können.

Die »Ord­nung« der Coro­na-Erzäh­lung hebt die­sen Zustand ledig­lich im Kampf gegen einen Feind auf, und nur gegen die­sen wer­den die ver­spreng­ten Tei­le der Gesell­schaft for­miert. Der fort­ge­schrit­te­nen Ato­mi­sie­rung sei Dank, gelingt dies auch nur mit Tei­len. Infol­ge des­sen ent­wi­ckelt sich der »Kampf gegen das Virus« zuneh­mend in einen Kampf gegen jene mit ande­ren Wahr­neh­mungs­mus­tern. Ein mensch­li­ches Gegen­über ist leich­ter zu ver­ach­ten als ein unsicht­ba­rer Kleinstorganismus.

Die »ledig­lich im nega­ti­ven Moment har­mo­ni­sier­te« (Bene­dikt Kai­ser) Gemein­schaft wird auch lang­fris­tig neue Feind­bil­der benö­ti­gen, die von der depres­si­ven Hedo­nie ablen­ken, sie aber nicht auf­fan­gen oder trans­for­mie­ren können.

 

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