Es »läßt sich offenbar nur so erklären, daß jedes Zeitalter sich seine Krankheiten macht, die ebenso zu seiner Physiognomie gehören wie alles andere, was es hervorbringt: sie sind gerade so gut seine spezifischen Erzeugnisse wie seine Kunst, seine Strategie, seine Religion, seine Physik, seine Wirtschaft, seine Erotik und sämtliche übrigen Lebensäußerungen […]«, bemerkte der österreichisch-jüdische Journalist und Schriftsteller Egon Friedell in seiner Kulturgeschichte der Neuzeit. Tatsächlich scheint das Coronavirus in vielerlei Hinsicht eine Krankheit unserer Zeit zu sein.
Das beginnt damit, daß viele der Entwicklungen, die sich seit Beginn der Krise beobachten ließen, lediglich bereits vorhandene Tendenzen verstärkt haben. Sei es die Verschärfung ökonomischer Ungleichheit, die Monopolstellung amerikanischer Big-Tech-Firmen oder, wie Michel Houellebecq es in der Radiosendung »France Inter« verlesen ließ, die Reduzierung physischer zwischenmenschlicher Kontakte – Corona bringt nur wenig hervor, was nicht auch zuvor bereits da war.
Die Krise hat zudem einen gewissermaßen »postmodernen« Charakter, eine Art von Unwirklichkeit. Wer nicht gerade im klinischen Bereich arbeitet, wird in seinem Alltag weder mit hustenden Menschen noch mit Todesfällen konfrontiert. Was wir direkt wahrnehmen, sind lediglich Nachrichten über Todesfälle, Inzidenzzahlen, unmittelbar in unseren Alltag eingreifende Maßnahmen und, daran anschließend, Diskussionen. Wer vertraut wem? Wer informiert sich über welche Quelle? Im Alltag begegnet uns »Corona« somit in erster Linie als diskursives und nicht als medizinisches Phänomen.
Damit sei nun keinesfalls die Diskussion um Sinn oder Unsinn der Maßnahmen oder die Richtigkeit der Zahlen aufgegriffen; festgehalten soll werden, daß, gerade weil sich das Virus im Alltag der Wahrnehmung völlig entzieht, die Gesellschaft nicht in erster Linie über den Krankheitserreger, sondern über sich selbst debattiert und dabei zunehmend unfähig geworden zu sein scheint, zu einer gemeinsamen Wahrnehmung zu finden. Die Realitätsperzeption wird dabei zum Unterscheidungsmerkmal zwischen verschiedenen Lagern. Daß sich alle handfesten Bezüge, selbst die zur Realität, in unserer Kultur auflösen, ist keine neue Erkenntnis.
Bereits 1956 beschrieb Arnold Gehlen in seinem Werk Urmensch und Spätkultur, wie die Auflösung traditioneller Institutionen mit einer Subjektivierung der menschlichen Wahrnehmung einhergeht. Hier mag man nun an die Institution der Mainstream-Medien denken, die in den letzten Jahren kaum etwas unversucht gelassen hat, um ihren Bedeutungsverlust herbei- und damit Menschen zu alternativen Informationskanälen hinzuführen.
Allerdings sind Gehlens Ausführungen weniger deswegen interessant, weil sie die gesellschaftliche Wahrnehmungsspaltung direkt voraussagen, sondern indem sie eine Problematik beschreiben, die in unserer Zeit weit verbreitet ist und ahnen läßt, wieso eine aus ihr bestehende Gesellschaft auf eine bestimmte Weise auf das Coronavirus reagiert.
Gehlen stellt dar, daß ein Verschwinden der Stereotypisierung und der Normierung von Ideen, Begriffen und Handlungen, die durch eine Institution erfolgen, den Menschen nicht bloß stärker in einer »psychischen Realität« leben lasse, sondern ihn auch abhängiger von »subjektiver Motivation« mache und ihn zudem zu »dauernder Improvisation« zwinge. Die Freiheit, die sich durch die Verflüssigung ergibt, steht demnach in beständiger Gefahr, in eine Starre zu verfallen. Denn nur durch Normierung bestimmter Bewußtseinsinhalte können zugleich »zu- und abfließende« Inhalte organisiert werden.
Man kann sich dies beispielsweise in Form eines Gesprächs denken: Zwei miteinander kommunizierende Menschen können nur dann in einen Gesprächsfluß gelangen, wenn sie über fest normierte Begriffe und Worte verfügen. Andernfalls versagt die Kommunikation, das Gespräch verliert sich im luftleeren Raum oder versiegt.
Knapp ein halbes Jahrhundert nach Gehlen beschrieb der britische Kulturwissenschaftler und Universitätsprofessor Mark Fisher eine Tendenz, die er bei seinen eigenen Studenten wahrnahm und die an Gehlens Bemerkung über Institutionen als »Entlastungsfunktion gegenüber subjektiver Motivation« denken läßt: »Viele der jugendlichen Studenten, denen ich begegnete, schienen sich in einem Zustand zu befinden, den ich als depressive Hedonie bezeichnen würde. Depression wird normalerweise als ein Zustand der Anhedonie charakterisiert, aber der Zustand, auf den ich mich beziehe, wird nicht durch die Unfähigkeit konstituiert, Freude zu empfinden, sondern durch die Unfähigkeit, irgend etwas anderes zu tun, als dem Gefühl der Freude oder des Genusses nachzujagen. Die Studenten haben das Empfinden, daß ›etwas fehlt‹ – aber erkennen nicht, daß dieser mysteriöse, fehlende Genuß nur jenseits des Lustprinzips zugänglich ist.«
Die beschriebenen Studenten in Fishers Hörsaal lassen in der Tat erkennen, welche Dynamiken in einer Welt aufgelöster Strukturen die Oberhand gewinnen. Die Psyche wird insofern »offener« oder »flüssiger«, als sie aus der Formgebung der Institution ausbrechen kann, zugleich ist sie damit jedoch viel grundlegenderen Fesseln ausgesetzt: der eigenen Stimulation. Der »Genuß« wird zum einzig verbleibenden »Gravitationszentrum, Wegweiser […] Koordinator« (Gehlen) in einer ansonsten entstrukturalisierten Welt. Dieser Prozeß wirkt zudem selbstverstärkend: Eine Generation, die ihre gesamte Umgebung permanent nach Lust und Anreiz scannt, schafft ihrerseits eine formlose Lebenswelt, die keinen anderen Mechanismen mehr folgt.
Die Verbindung zum Genuß steht dabei nicht bloß im Zentrum, sie entwickelt eine beinahe religiöse Dynamik: »Ich fragte einmal einen Schüler herausfordernd, warum er im Unterricht immer Kopfhörer trage. Er antwortete, daß es egal sei, da er dabei gar keine Musik abspiele. In einer anderen Unterrichtsstunde spielte er Musik mit sehr geringer Lautstärke über seine Kopfhörer, ohne sie zu tragen. Als ich ihn bat, sie auszuschalten, antwortete er, daß doch selbst er die Musik nicht hören könne.
Warum sollte man Kopfhörer tragen, ohne Musik abzuspielen, oder Musik abspielen, ohne dabei seine Kopfhörer zu tragen? Weil die Anwesenheit der Kopfhörer an den Ohren oder das Wissen, daß Musik abgespielt wird (auch wenn der Schüler selbst sie nicht hört), eine Bestätigung dafür ist, daß die Matrix sich immer noch in Reichweite befindet. […] Solange die Musik noch läuft, kann sie, auch wenn er selbst sie nicht hören kann, immerhin das Abspielgerät an seiner Stelle genießen.« (Fisher)
Bizarrerweise erhebt sich die depressive Hedonie damit selbst zu einer Form der »Institution«. Mit Gehlen gesprochen, wird der Genuß vom Daseinswert zum Selbstwert: Er wird nicht mehr bloß um seiner Genießbarkeit willen verfolgt, sondern um »seiner selbst« und somit zum Wegweiser. Worin liegt nun die depressive Qualität dieser Hedonie?
Vor allem steht sie der Entwicklung einer stabilen Persönlichkeit im Wege, die nicht lediglich durch positive Emotionen, sondern durch gesunde Verbindungen zu Mitmenschen und dem Gefühl der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens bestimmt wird. Die depressive Hedonie zwingt den Menschen hingegen in eine Schleife, da jeder Reiz, dem er nachjagt, ihn lediglich auf die eigenen Sinneswahrnehmungen zurückfallen läßt. Auch wenn das Abspielgerät an der Stelle des Studenten genießt, führt diese Transzendierung des Genusses ihn nirgendwo hin, außer zu einem potentiellen, sich in Reichweite befindenden Genußes. Was auf ihn wartet, kitzelt lediglich die eigenen Sinne und verweist wieder auf ihn selbst.
In einer Gegenwart, in welcher Institutionen wie die Familie, die Kirche, regionale Kultur und so weiter nach und nach erodiert sind, ist der von Fisher beschriebene Typus mittlerweile zum Bestimmenden geworden. Dabei handelt es sich keinesfalls um eine rein medizinische Problematik. ADHS ist zwar eine reale neurologische Störung, zugleich weist das beinahe epidemische Ausmaß, in welchem diese seit dem Beginn der 1990er Jahre diagnostiziert wurde, auf ein tiefer liegendes Problem hin.
Dabei fällt auf, daß sich die Außen- und die Innenwelt in dieser entstrukturalisierten Welt auf eine merkwürdige Art und Weise spiegeln: Beide gehen radikal vom Individuum aus und verstehen alle wichtigen Lebensentscheidungen als eine Frage der Verbraucher- und Konsumentenwahl. Die Gesellschaft, ähnlich wie die depressive Hedonie, hält den einzelnen in einer Art Schleife gefangen, in welcher er immer wieder auf das eigene Ich und die eigene Motivation zurückverwiesen wird, ohne sich irgendwo anbinden zu können. Welche Art von Struktur kann in einer solchen Gesellschaft auf den Plan treten?
Da wäre etwa der Kult der Diversität, der »Vielfalt« und der diskriminierten Identitäten. Er ist innerhalb der westlichen Welt mittlerweile durchaus zu einer Art »Ordnungsstruktur« avanciert – er beansprucht Verbindlichkeit, hat Rituale und Feste und wird bereits den Jüngsten als vermeintliche Grundlage unserer Gesellschaft vermittelt. Der Verbindlichkeitsanspruch ist dabei im größtmöglichen Format gedacht. Wer ausschert, verstößt nicht bloß gegen die Regeln, er macht sich zum »Menschenfeind« schlechthin.
Obwohl diese Ideologie mittlerweile als Ordnungsstruktur auftritt, bezieht sie ihre Legitimation erklärtermaßen durch die Auflösung aller vorherigen Ordnungen. Geschlechter, Ethnien und Kulturen sollen aus den »Fesseln« fest umrissener Grenzen und Polaritäten befreit werden. 2015 erklärte etwa der kanadische Premierminister Justin Trudeau: »Kanada hat keine Kernidentität und keinen Mainstream. Es gibt geteilte Werte – Offenheit, Respekt, Mitgefühl, der Wille, hart zu arbeiten und füreinander da zu sein.« Das ist ein abstrakter Minimalkonsens, der typisch ist für den Anspruch an Struktur, den die Diversitätsideologie erhebt.
Somit ist die Diversitätsideologie gewissermaßen ein Gegenpol zur depressiven Hedonie, da sie über ein rein individuelles Erleben hinaus den Anspruch erhebt, gesellschaftliches Zusammenleben strukturieren zu wollen. Zugleich hat die von ihr angestrebte »Struktur« lediglich die Negierung von Struktur zum Inhalt – ähnlich wie die depressive Hedonie zwar das Innenleben des einzelnen »formt«, aber der quasireligiös konnotierte Genuß die einzige Form ist, die er anstreben kann.
Vermutlich ist die allmähliche Wandlung der Diversitätsideologie in die sogenannte Critical Race Theory (CRT) auf diesem Weg erklärbar. Wo der Diversitätsgedanke noch die Vorstellung eines friedlichen Zusammen- oder Nebeneinanderlebens zur Utopie machte, teilt die sogenannte CRT wieder sehr genau in Ethnie und Geschlecht ein, benennt zudem klare Hierarchien und Feinde.
Die CRT fordert keinen abstrakten Minimalkonsens, sondern eine Umgestaltung der Gesellschaft nach »rassischen« Merkmalen. Um einer angeprangerten »weißen Vorherrschaft« entgegenzuwirken, sollen Arbeitsplätze, Wohnungen und gesellschaftliche Anerkennung nach ethnischen Kriterien verteilt werden. Zudem macht die »Kritische Rassentheorie« damit eine große Erzählung auf, in der jahrhundertelang zurückreichende Ungerechtigkeiten durch eine gemeinsame Anstrengung und gegen einen klar markierten Feind gerächt werden. Ein Feind, der für alle »PoC« an der Hautfarbe des anderen erkennbar ist, für die Weißen selbst jedoch zu einem »inneren« Feind wird, der durch quasispirituelle Geistesübungen in Schach gehalten werden soll.
Ähnlich wie Corona sind auch die Diversitäts- und Identitätsdiskurse Debatten über uneinheitliche Wahrnehmungen und Strukturbedürfnisse. Aus dem luftleeren Raum der depressiven Hedonie heraus kann sich der einzelne wieder verorten. Die Perzeption steht auf dem Prüfstand: Wer übt Macht über wen aus, wer hat ungerechtfertigte Vorteile und wer wird von wem ausgenutzt?
Und ebenso wie im Falle von Corona läßt sich beobachten, daß der Tonfall gegenseitig aggressiver wird, je offensichtlicher sich der Wahrnehmungsspalt nicht mehr kitten läßt. Daß die »flüssige« Struktur der Diversität schließlich in die »harte« Struktur der CRT führt, folgt somit lediglich dem Befund Arnold Gehlens: Wo keine gemeinsamen Begriffe mehr da sind, muß das Gespräch erstarren. Der Diversitätsgedanke war offenbar unfähig, »zu- und abfließende Inhalte« zu organisieren, und stieß den einzelnen lediglich auf seine Einzelperson und seine Selbstmotivation zurück.
Nach einer jahrzehntelangen vorherigen Entstrukturalisierung tritt nun auch mit den Corona-Maßnahmen eine »harte« Struktur auf den Plan. Wurde der persönliche Umgang zuvor lediglich als eine Frage der Verbraucherwahl verstanden, ist er nun strengster staatlicher Kontrolle unterworfen. Sollten zuvor abstrakte Werte als gesellschaftliches Gerüst ausreichen, stehen an ihrer Stelle nun konkrete Handlungsanweisungen und ‑verbote, bis in den intimsten Bereich hinein. Es wird die gemeinsame Aufgabe betont, vor der sich die Gesellschaft gestellt sehen soll und derentwegen der Einzelne nun Verzicht und Disziplin zu üben habe.
Zeitweise drängt sich dabei der Eindruck auf, daß nicht wenige Menschen diese Struktur beinahe erleichtert annehmen. Sie bietet einen Ausweg aus der lediglich selbstzentrierten depressiven Hedonie, hin zu der Frage, welche Grenzen man sich selbst auferlegen kann, um der Gemeinschaft zu dienen. Es handelt sich demnach auch um die Wiederkehr der »großen Erzählung«, und die Wucht, mit der diese einschlägt, läßt ungefähr erahnen, wie unwohl sich nicht wenige Menschen im vorherigen Niemandsland gefühlt haben müssen.
Weder Erzählung noch Struktur wachsen jedoch aus organischen Verbindungen. Die in einzelne Wahrnehmungsteile zerfallene Gesellschaft läßt sich zwar überraschend gut, aber doch nur teilweise zu einer Einheit formieren. Wie ein Kleister soll die Corona-Erzählung die atomisierten Puzzlestücke zusammensetzen und als Institution wirken. Daher auch die von Kritikern oft beklagten scheinbaren Sinnlosigkeiten mancher Maßnahmen.
Gehlen spricht in diesem Zusammenhang von einer Eigenwertsättigung der Institution: Die Institution, die vom Menschen geschaffen wurde, erreicht einen derart hohen Grad an Selbstzweckhaftigkeit, daß sie den einzelnen legitimiert, nicht umgekehrt. Gerade dadurch können sich allerdings andere Dynamiken innerhalb der Institution entfalten. Je selbstzweckhafter etwa die Regeln einer Sportart sind, desto eher können in ihr »Bewegungsfreude, Kampflust […], Geselligkeit« auftreten. Oder im Falle Coronas: Je mehr die Maßnahmen (scheinbar oder real) um der Maßnahmen willen vollzogen werden, desto mehr können sich die Menschen an das Narrativ anbinden.
Jedoch: Während die Stereotypisierung und die Normierung von Ideen und Begriffen gelingen, binden sie das Individuum schlußendlich nicht in ein größeres Muster ein. Institutionen wie die Familie, eine Religion, ein Volk, eine Ehe usw. verbinden den einzelnen mit seinen Mitmenschen oder etwas über das Menschliche Hinausgehendem. Er ist eingebunden in eine größere Kette, die ihn auf den Wert des Lebens einschwört – etwa durch die Institutionalisierung von Fortpflanzung und Zusammenleben (Familie) oder die Ausrichtung auf einen religiösen Inhalt, den »Selbstwert im absoluten Sinne« (Gehlen), der selbst durch keine Verbindung legitimiert werden muß.
Die depressive Hedonie, wir erinnern uns, ist schlußendlich der Zustand, in dem jegliche Verbindung auf etwas über den einzelnen Hinausgehendes unmöglich scheint, in dem der einzelne stets nur von Reiz zu Reiz hastet, um sich in diesem kurzzeitig »spüren« zu können.
Die »Ordnung« der Corona-Erzählung hebt diesen Zustand lediglich im Kampf gegen einen Feind auf, und nur gegen diesen werden die versprengten Teile der Gesellschaft formiert. Der fortgeschrittenen Atomisierung sei Dank, gelingt dies auch nur mit Teilen. Infolge dessen entwickelt sich der »Kampf gegen das Virus« zunehmend in einen Kampf gegen jene mit anderen Wahrnehmungsmustern. Ein menschliches Gegenüber ist leichter zu verachten als ein unsichtbarer Kleinstorganismus.
Die »lediglich im negativen Moment harmonisierte« (Benedikt Kaiser) Gemeinschaft wird auch langfristig neue Feindbilder benötigen, die von der depressiven Hedonie ablenken, sie aber nicht auffangen oder transformieren können.