»Der Waldgang führt hart an den Tod heran, ja wenn es sein muß, durch ihn hindurch«, schreibt Ernst Jünger in seiner legendären, die Schrecken des Totalitarismus reflektierenden Typusbeschreibung und Verhaltenslehre gleichen Namens.
Von kollektiven Mächten umstellt, die ihre Ansprüche und Forderungen an ihn herantragen, nimmt der Waldgänger, als einzelner und in scheinbar aussichtsloser Lage, den Kampf für die Freiheit auf. Im Angesicht der namenlosen Gewalten, die nach ihm greifen, schlägt er sich ins Unwegsame, ins Hinterland der universell verfügenden und ubiquitär tönenden Macht. Dort setzt er kleine Zeichen des Widerstandes gegen eine übermächtige, geschlossene Maschinerie; er streut Sand ins Getriebe jener unbarmherzigen Apparaturen und Registraturen, die sich selbst eine überlegene, Konformität erheischende Moralität und Wissenschaftlichkeit zusprechen.
Der Waldgänger weiß, daß er damit sein Leben aufs Spiel setzt, daß er bereit sein muß, den größtmöglichen Preis zu bezahlen; er sieht sich dazu imstande, weil für ihn die Todesangst ihren absoluten Schrecken verloren hat, insofern er um die Unzerstörbarkeit seines innersten Wesens weiß; der Waldgänger spürt, daß der Mensch mehr ist als die flüchtige, den Gesetzen der Zeitlichkeit und der Kausalität unterworfene Erscheinung; er hält Verbindung zu den überzeitlichen Quellen des Willens, fühlt sich durchströmt von der unvergänglichen, ewigen Ursubstanz des Seins. So hält er, allen Anfechtungen zum Trotz, jene Bastionen besetzt, die sich nicht dynamisch auflösen lassen, auf denen der Mensch von den zeitlichen Mächten unangreifbar bleibt.
Wie Jünger herausstreicht, sind die mitleidlosen Apparate und despotischen Maschinerien nachhaltig nur zu erschüttern, wenn sich Menschen finden, die das ultimative, existentielle Opfer bringen. Ohne die maßgebenden einzelnen, die den Preis ihres Lebens bezahlen, sind die großen Freiheitsdurchbrüche nicht zu vollbringen, wie auch die friedliche Revolution von 1989 / 90 ohne Jan Palach, Matthias Domaschk, Jerzy Popiełuszko und viele andere unvorstellbar bleibt.
Der auf sich genommene Opfer- und Todesgang bringt die gewaltigen, unbesiegbar scheinenden Mächte der Welt zum Einsturz und wirkt zugleich als der Geburtshelfer einer neuen, Freiheit revitalisierenden Ordnung: »Das wird vor allem deutlich, wenn Lehre und Beispiel sich vereinen – wenn der Bezwinger der Furcht das Todesreich betritt«, schreibt Jünger mit Blick auf den Kreuz- und Leidensweg Christi. »Das Weizenkorn, indem es starb, hat nicht nur tausendfältig, es hat unendlich Frucht gebracht.«
In gewisser Weise hängt die vollständige Beherrschung des öffentlichen Raumes und des politischen Diskurses durch die 68er und ihre identitätspolitischen Nachfolgebewegungen, neben vielen anderen Dingen, auch mit dieser Problematik zusammen. In der Tat sind die 68er die letzte politische Bewegung im engeren Kernbereich der modernen transatlantischen Zivilisation (»im Westen«) gewesen, welche Menschen vorzuweisen hat, die für eine genuin politische Sache gestorben sind.
In Deutschland sind an prominenter Stelle zu nennen: Benno Ohnesorg, Pazifist und Mitglied einer evangelischen Studentengemeinde, der am 2. Juni 1967 während einer Demonstration gegen den Besuch des Schahs von Persien von einem Berliner Polizisten erschossen wird; Rudi Dutschke, der christlich inspirierte, »Jesus gegen die Logik des Wahnsinns« reklamierende Studentenführer, der an Heiligabend 1979 durch die Spätfolgen jenes Attentates zu Tode kommt, das ein junger Hilfsarbeiter am 11. April 1968 vor dem SDS-Büro am Kurfürstendamm auf ihn verübt hatte; und Holger Meins, der angehende Filmemacher und RAF-Terrorist der ersten Stunde, der am 9. November 1974 nach 58 Tagen Hungerstreik in der Justizvollzugsanstalt Wittlich stirbt.
Das Foto des auf dem Totenbett liegenden, bärtigen, ausgemergelten Knochenmannes Meins, das auf linken Demonstrationen wie eine Monstranz vorangetragen wurde, evoziert ikonographisch die Urgestalt der Selbstaufopferung Christi. Auch wenn die Protagonisten von 1968 ihre Todesgänge nicht im Sinne jener überzeitlichen, transzendenten Freiheit des Menschen unternommen haben, von der Jünger spricht, sind ihre dezidiert christlichen Bezüge ein durchaus bemerkenswerter Umstand.
In jedem Falle starben sie, den Blick auf jene Mächte der Realtranszendenz gerichtet, welche über Gegenwart und Zeitlichkeit säkularreligiös hinausragen, indem sie die ursprüngliche, kosmisch-jenseitige Erlösungshoffnung in die diesseitige Sphäre transferieren. »Holger, der Kampf geht weiter«, rief Dutschke, die Faust zum letzten Gruß geballt, am Grab von Holger Meins.
Von den damaligen Opfergängen, den existentiellen Erfahrungen jener Generation, geht bis heute ein Kraftstrom aus, der den öffentlichen Raum der westlichen Gesellschaften durchzieht, die universalistische (kulturrevolutionäre) Linke moralisch rechtfertigt und politisch trägt. Dieser Strom wird erst gebrochen werden, wenn die globalistische Eine-Welt-Agenda ihrerseits auf widerständige Potenzen trifft, die bereit sind, »bis hart an den Tod heran oder notfalls durch ihn hindurch« zu gehen; die willens und entschlossen sind, das ultimative Opfer zu bringen.
Nun lassen sich Situationen dieser Art durchaus nicht künstlich herbeiführen. Nichts könnte unter den gegebenen Verhältnissen kontraproduktiver sein als der Versuch, die herrschende, zum Transmissionsriemen einer »Weltregierung in spe« (Martin Lichtmesz) verpanzerte Ordnung akzelerationistisch (mit Gewalt) zu maßlosen Repressionshandlungen zu provozieren; auch der dramatisch inszenierte Selbstmord Dominique Venners am 21. Mai 2013 in der Kathedrale Notre-Dame de Paris, mit dem Ziel, »die Bewußtlosen aufzuwecken«, trifft nicht den eigentlichen Kern der Sache.
Was sich abzeichnet, ist vielmehr, daß das herrschende System von Globohomo und Weltklimarat, Impfallianz und Critical Whiteness Studies die Menschen immer existentieller bedrängt und umstellt; seine universellen Ansprüche und planetarischen Forderungen dringen in die Wohnungen und Häuser, verschaffen sich Zugang in die Köpfe, usurpieren die Sprache, intervenieren in die unmittelbare physische Existenz; so greift das herrschende System auf eine Weise nach dem Innersten des Menschen, die eines Tages dazu führen wird, daß es auf die großen Dulder trifft.
Die Totalität seines Zugriffs bedingt, daß auch der Widerstand gegen das universelle Regime der Bewirtschaftung und der Formatierung von Menschen immer unbedingtere Formen annimmt: Die großen Dulder werden entschlossen sein, sich seinen Verfügungsforderungen bis zu einem Punkt zu entziehen, der nur um den Preis des Lebens zu erreichen ist. Schon kündigen sich die ersten Anzeichen eines Widerstandes an, der das existentielle, ultimative Opfer bringt; schon erkennen wir die Umrisse jener künftigen Bändiger des Todes, auch wenn die große Schwelle noch nicht überschritten ist.
Die Opfergänge der großen Dulder wird man sich durchaus nicht als Fanale vorzustellen haben, die tags darauf die Massen auf die Barrikaden treiben; sie werden vielmehr langsam, allmählich und peu à peu jene Kabel durchtrennen, die das herrschende System der universellen Verneinung und Auflösung gelegt hat, und einen neuen, gegenläufigen, positiven Kraftstrom auslösen, der am Anfang nur ein winziges, kaum erkennbares Rinnsal bilden wird.
Das Beispiel der großen Dulder, die hart an den Tod heran und notfalls durch ihn hindurchgehen, unterspült gefühlsmäßig-subkutan die Fundamente der Loyalität zur herrschenden Allgewalt des Falschen. »Wenn der Mensch richtig antwortet, verlieren die Apparate ihren Glanz. Es ist kein Zweifel, daß der Mensch auch diesmal die Zeit besiegt, das Nichts in seine Höhle verweisen wird«, heißt es hierzu schon bei Jünger.
Anders als die 68er, anders als der Waldgänger werden die großen Dulder, die Durchschreiter des Todes heute nicht im eigentlichen Sinne aktiv; doch besitzen sie jene unbedingte Entschlossenheit, die erforderlich ist, um nicht aus- oder zurückzuweichen, wenn die Welle der Dunkelheit auf sie zurollt; so bringen sie die falschen Mächte und Heilslehren der Zeit, ihre Zwingburgen und Beschallungstürme zum Einsturz – und setzen zugleich einen neuen, eigenen Wärmestrom in Gang, der eines Tages neue äußere Ordnungen und geistige Reiche hervorbringen wird, die die verschüttete Freiheit neu zur Geltung bringen: »Dann wird mit einer winzigen Minderheit die Erlegung des Kolosses möglich sein.
Auch das ist ein Bild, das immer in der Geschichte wiederkehrt und in dem sie ihre mythischen Grundfesten gewinnt. Darauf erheben sich dann Gebäude für lange Zeit.«