Denn dem Verlierer dieses blutigen Krieges wurde die Schuld daran zugeschoben, was die Frage provoziert, ob es diesen Krieg ohne das Kaiserreich überhaupt gegeben hätte.
Der Würzburger Historiker Rainer F. Schmidt (*1955) macht aus dieser Not eine Tugend und versucht, die Kausalität von Kaiserreich und Krieg aufzulösen. Er will damit nicht nur beiden gerecht werden, sondern auch die verhängnisvolle Fortschreibung dieses Zusammenhangs aufbrechen: Das Kaiserreich wurde »als Vorläufer des Dritten Reiches abgestempelt, woraus sich sachlogisch der Folgeschluß einer nachträglichen Bestätigung des Versailler Verdikts von der Kriegslüsternheit der Deutschen im 20. Jahrhundert ergab«.
Die Degradierung des Kaiserreichs zur Vorgeschichte des Nationalsozialismus läßt das Geschehen alternativlos erscheinen, wohingegen Schmidt Wert auf die Momente legt, an denen die Weichen gestellt wurden.
Hier rückt der Kriegsausbruch in den Fokus, den Schmidt trotz der Berge an Literatur als ein ungelöstes Problem ansieht. Er unterscheidet zwei Grundthesen über den deutschen Anteil am Kriegsausbruch. Fritz Fischer und seine Anhänger sind bis heute davon überzeugt, daß das Kaiserreich den Krieg planvoll herbeigeführt hat, weil die herrschenden Eliten dadurch ihr Weltmachtstreben erfüllen wollten. Schmidt weist diese These zurück, weil sie sowohl dem Verhalten als auch der Planung der deutschen Führung nicht entspricht und die Pläne der anderen Mächte völlig ausblendet.
Für ähnlich unplausibel hält er die These, der »Blankoscheck« des Beistands für Österreich sei eine Flucht in den Krieg gewesen, weil sich das Kaiserreich vor der Modernisierung gefürchtet habe und die Machtverhältnisse im Innern auf diese Weise zu stabilisieren gedachte. Es handelt sich bei dieser These um eine psychologisch naheliegende Interpretation, weil unserer Zeit das Kaiserreich so fremd geworden ist, daß ihm jede Untat zugetraut wird.
Schmidt sieht das ganz anders und räumt daher der Schilderung der sozialen und der innenpolitischen Verhältnisse des Kaiserreichs in seinem Buch großen Raum ein. Dabei wird klar, daß die negative Beurteilung des Kaiserreichs der Gegenwart nichts mit der Wirklichkeit zu tun hat. Mißt man das Kaiserreich an dem Maßstab der »Leistungsfähigkeit eines Gemeinwesens« und der »Aufgabe eines Staates, seinen Bürgern Sicherheit und Ordnung zu geben, Wohlstand und Freizügigkeit« zu verschaffen, »fällt die Bilanz ganz anders aus«. Schmidt bemerkt nebenbei, daß das dualistisch konstruierte politische System mit seinem Antagonismus zwischen Regierung und Parlament ein 1933 niemals zugelassen hätte.
Wie lautet Schmidts These über die deutsche Verantwortung am Kriegsausbruch? Er sieht sie vor allem darin, daß Berlin um die Jahrhundertwende den Gesprächsfaden nach London abreißen ließ, weil man der Meinung gewesen sei, nicht auf England angewiesen zu sein. In den folgenden Jahren revolutionierte England »durch seine auftrumpfende aggressive Politik die Mächtebeziehungen«. Es war England, so Schmidt, dem »die imperiale Sicherheit mehr wert« gewesen sei »als die kontinentale Stabilität«.
Das unglückliche Agieren Deutschlands hatte seinen Gegnern die Einkreisung, die Schmidt nicht für ein Hirngespinst deutscher Politiker hält, leichtgemacht. Die deutschen Bemühungen in den Jahren vor dem Weltkrieg, die eigene Friedfertigkeit unter Beweis und in den Dienst europäischen Ausgleichs zu stellen, wurden von den Briten nicht gewürdigt. Kurz vor dem Attentat von Sarajevo gab es keinen Ausweg mehr: England »war nun auch dabei, das Einvernehmen mit Rußland durch eine Marinekonvention auf den Status einer vollen militärischen Allianz zu bringen und damit, ganz wie [der französische Präsident] Poincaré dies wünschte, den Einkreisungsring um das Reich zu schließen.« Durch einen Spion in der russischen Botschaft in London waren die Deutschen davon unterrichtet.
Der Entschluß zum Krieg war »eine bewußte Entscheidung«, weshalb Schmidt alle Metaphern des »Hineinschlitterns« oder »Schlafwandelns« für verfehlt hält. Niemand hatte 1914 noch einen unbedingten Friedenswillen. Der Kaiser war im Grunde der einzige, der versuchte zu deeskalieren, indem er die serbische Antwort auf das österreichische Ultimatum als ausreichend ansah. Daß daraus keine »Sternstunde« wurde, lag an dem Agieren der Reichsleitung, die viel zu spät darauf kam, daß man sich in eine ausweglose Situation gebracht hatte. Aber selbst wenn das Reich den Blankoscheck für Österreich widerrufen hätte, wären dadurch die Kriegsursachen nicht aus der Welt gewesen.
Die Kriegsauslöser sieht Schmidt daher in Berlin, die Entfesselung bzw. Verursachung des Krieges erfolgte jedoch in Paris, wo sich die eigenen Revanchegelüste für 1871 mit dem russischen Anspruch auf die Meerengen und Englands Willen, Deutschland als Konkurrenten auszuschalten, verbunden hatten. Einmal entfesselt, wurde der Krieg geführt, um die alliierten Kriegsziele zu erreichen, die wirtschaftliche und die politische Ausschaltung Deutschlands.
Die Verantwortung für alles, was dem folgte, liegt bei den Alliierten – anders kann man das nach der Lektüre Schmidts nicht mehr sehen.
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Rainer F. Schmidt: Kaiserdämmerung. Berlin, London, Paris, St. Petersburg und der Weg
in den Untergang, Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2021. 878 S., 38 €
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