Rainer F. Schmidt: Kaiserdämmerung

Wer immer sich dem Kaiserreich nähern möchte, dem steht der Erste Weltkrieg im Weg.

Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

Denn dem Ver­lie­rer die­ses blu­ti­gen Krie­ges wur­de die Schuld dar­an zuge­scho­ben, was die Fra­ge pro­vo­ziert, ob es die­sen Krieg ohne das Kai­ser­reich über­haupt gege­ben hätte.

Der Würz­bur­ger His­to­ri­ker Rai­ner F. Schmidt (*1955) macht aus die­ser Not eine Tugend und ver­sucht, die Kau­sa­li­tät von Kai­ser­reich und Krieg auf­zu­lö­sen. Er will damit nicht nur bei­den gerecht wer­den, son­dern auch die ver­häng­nis­vol­le Fort­schrei­bung die­ses Zusam­men­hangs auf­bre­chen: Das Kai­ser­reich wur­de »als Vor­läu­fer des Drit­ten Rei­ches abge­stem­pelt, wor­aus sich sach­lo­gisch der Folge­schluß einer nach­träg­li­chen Bestä­ti­gung des Ver­sailler Ver­dikts von der Kriegs­lüs­tern­heit der Deut­schen im 20. Jahr­hun­dert ergab«.

Die Degra­die­rung des Kai­ser­reichs zur Vor­ge­schich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus läßt das Gesche­hen alter­nativlos erschei­nen, wohin­ge­gen Schmidt Wert auf die Momen­te legt, an denen die Wei­chen gestellt wurden.

Hier rückt der Kriegs­aus­bruch in den Fokus, den Schmidt trotz der Ber­ge an Lite­ra­tur als ein unge­lös­tes Pro­blem ansieht. Er unter­schei­det zwei Grund­the­sen über den deut­schen Anteil am Kriegs­aus­bruch. Fritz Fischer und sei­ne Anhän­ger sind bis heu­te davon über­zeugt, daß das Kai­ser­reich den Krieg plan­voll her­bei­ge­führt hat, weil die herr­schen­den Eli­ten dadurch ihr Welt­macht­stre­ben erfül­len woll­ten. Schmidt weist die­se The­se zurück, weil sie sowohl dem Ver­hal­ten als auch der Pla­nung der deut­schen Füh­rung nicht ent­spricht und die Plä­ne der ande­ren Mäch­te völ­lig ausblendet.

Für ähn­lich unplau­si­bel hält er die The­se, der »Blan­ko­scheck« des Bei­stands für Öster­reich sei eine Flucht in den Krieg gewe­sen, weil sich das Kai­ser­reich vor der Moder­ni­sie­rung gefürch­tet habe und die Macht­ver­hält­nis­se im Innern auf die­se Wei­se zu sta­bi­li­sie­ren gedach­te. Es han­delt sich bei die­ser The­se um eine psy­cho­lo­gisch nahe­lie­gen­de Inter­pre­ta­ti­on, weil unse­rer Zeit das Kai­ser­reich so fremd gewor­den ist, daß ihm jede Untat zuge­traut wird.

Schmidt sieht das ganz anders und räumt daher der Schil­de­rung der sozia­len und der innen­politischen Ver­hält­nis­se des Kai­ser­reichs in sei­nem Buch gro­ßen Raum ein. Dabei wird klar, daß die nega­ti­ve Beur­tei­lung des Kai­ser­reichs der Gegen­wart nichts mit der Wirk­lich­keit zu tun hat. Mißt man das Kai­ser­reich an dem Maß­stab der »Leis­tungs­fä­hig­keit eines Gemein­we­sens« und der »Auf­ga­be eines Staa­tes, sei­nen Bür­gern Sicher­heit und Ord­nung zu geben, Wohl­stand und Frei­zü­gig­keit« zu ver­schaf­fen, »fällt die Bilanz ganz anders aus«. Schmidt bemerkt neben­bei, daß das dua­lis­tisch kon­stru­ier­te poli­ti­sche Sys­tem mit sei­nem Ant­ago­nis­mus zwi­schen Regie­rung und Par­la­ment ein 1933 nie­mals zuge­las­sen hätte.

Wie lau­tet Schmidts The­se über die deut­sche Ver­ant­wor­tung am Kriegs­aus­bruch? Er sieht sie vor allem dar­in, daß Ber­lin um die Jahr­hun­dert­wen­de den Gesprächs­fa­den nach Lon­don abrei­ßen ließ, weil man der Mei­nung gewe­sen sei, nicht auf Eng­land ange­wie­sen zu sein. In den fol­gen­den Jah­ren revo­lu­tio­nier­te Eng­land »durch sei­ne auf­trump­fen­de aggres­si­ve Poli­tik die Mäch­te­be­zie­hun­gen«. Es war Eng­land, so Schmidt, dem »die impe­ria­le Sicher­heit mehr wert« gewe­sen sei »als die kon­ti­nen­ta­le Stabilität«.

Das unglück­li­che Agie­ren Deutsch­lands hat­te sei­nen Geg­nern die Ein­krei­sung, die Schmidt nicht für ein Hirn­ge­spinst deut­scher Poli­ti­ker hält, leicht­ge­macht. Die deut­schen Bemü­hun­gen in den Jah­ren vor dem Welt­krieg, die eige­ne Fried­fer­tig­keit unter Beweis und in den Dienst euro­päi­schen Aus­gleichs zu stel­len, wur­den von den Bri­ten nicht gewür­digt. Kurz vor dem Atten­tat von Sara­je­vo gab es kei­nen Aus­weg mehr: Eng­land »war nun auch dabei, das Ein­ver­neh­men mit Ruß­land durch eine Mari­ne­kon­ven­ti­on auf den Sta­tus einer vol­len mili­tä­ri­schen Alli­anz zu brin­gen und damit, ganz wie [der fran­zö­si­sche Prä­si­dent] Poin­ca­ré dies wünsch­te, den Ein­krei­sungs­ring um das Reich zu schlie­ßen.« Durch einen Spi­on in der rus­si­schen Bot­schaft in Lon­don waren die Deut­schen davon unterrichtet.

Der Ent­schluß zum Krieg war »eine bewuß­te Ent­schei­dung«, wes­halb Schmidt alle Meta­phern des »Hin­ein­schlit­terns« oder »Schlaf­wan­delns« für ver­fehlt hält. Nie­mand hat­te 1914 noch einen unbe­ding­ten Frie­dens­wil­len. Der Kai­ser war im Grun­de der ein­zi­ge, der ver­such­te zu dees­ka­lie­ren, indem er die ser­bi­sche Ant­wort auf das öster­rei­chi­sche Ulti­ma­tum als aus­rei­chend ansah. Daß dar­aus kei­ne »Stern­stun­de« wur­de, lag an dem Agie­ren der Reichs­lei­tung, die viel zu spät dar­auf kam, daß man sich in eine aus­weg­lo­se Situa­ti­on gebracht hat­te. Aber selbst wenn das Reich den Blan­ko­scheck für Öster­reich wider­ru­fen hät­te, wären dadurch die Kriegs­ur­sa­chen nicht aus der Welt gewesen.

Die Kriegs­aus­lö­ser sieht Schmidt daher in Ber­lin, die Ent­fes­se­lung bzw. Ver­ur­sa­chung des Krie­ges erfolg­te jedoch in Paris, wo sich die eige­nen Revan­che­ge­lüs­te für 1871 mit dem rus­si­schen Anspruch auf die Meer­engen und Eng­lands Wil­len, Deutsch­land als Kon­kur­ren­ten aus­zu­schal­ten, ver­bun­den hat­ten. Ein­mal ent­fes­selt, wur­de der Krieg geführt, um die alli­ier­ten Kriegs­zie­le zu errei­chen, die wirt­schaft­li­che und die poli­ti­sche Aus­schal­tung Deutschlands.

Die Ver­ant­wor­tung für alles, was dem folg­te, liegt bei den Alli­ier­ten – anders kann man das nach der Lek­tü­re Schmidts nicht mehr sehen.

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Rai­ner F. Schmidt: Kai­ser­däm­me­rung. Ber­lin, Lon­don, Paris, St. Peters­burg und der Weg
in den Unter­gang,
Stutt­gart: Klett-Cot­ta Ver­lag 2021. 878 S., 38 €

 

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Erik Lehnert

Erik Lehnert ist promovierter Philosoph.

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