Wir haben es mit einem dieser »Nicht weglegen können«-Bücher zu tun. Dazu muß man nicht einmal ausgewiesener Benn-Aficionado sein – es ist das zeitgeschichtliche Kolorit, das unbedingt besticht. Als ein Jahr nach Benns Tod eine erste Sammlung von 57 Ausgewählten Briefen erschien, war darunter bereits ein knappes Drittel an die öffentlich kaum bekannte Dr. Zenzes gerichtet. Erst 2006 hat ein entfernter Erbe der gebürtigen Hirschbergerin das gesamte Konvolut samt ergänzenden Unterlagen an das Deutsche Literaturarchiv in Marbach übergeben.
Kaum ein Dreivierteljahr währte das erotische Verhältnis zwischen dem Militärarzt und Dichter Gottfried Benn (1886 – 1956) und Gertrud Zenzes, geborene Cassel (1894 – 1970). Die eigensinnige Dame, wiewohl aus nichtakademischen Verhältnissen entstammend, war eine der ersten, die in Deutschland promovierten. Sie fungiert in zahlreichen Briefen als Benns »Schnuckchen«, seine »Petit«, sein »lieber Kleiner« [sic], sein »Trudchen« oder »kleiner Schussel«.
Trotz aller Turteleien sieht Benn aber nicht davon ab, den Briefstil seiner Geliebten immer wieder zu schurigeln. Cassel gebraucht Wendungen, die Benn aufs äußerste mißfallen, zum Beispiel »Die Weite der Welt« – das sei »unanschaulich u. nicht fühlbar u. eine abstrakte Vorstellung. Bist du böse? Du bist so intelligent, Du mußt das alles trotz Kuchenbacken und Zeitunglesen u Schuhputzen nebenbei auch noch können.«
Zenzes, damals noch Cassel, schickt dem Geliebten eine wissenschaftliche Arbeit aus ihrer Feder. Er kommentiert gegenüber der Tochter aus jüdischer Familie: »Wie gescheit Du bist, trotz Deiner niedrigen Stirn.« Mit einer schnöde-galanten Mitteilung Benns zu Silvester 1921 endet die Affäre, umstandslos wird zum »Sie« gewechselt. »Mich sehen werden Sie auch vorläufig weiter nicht. Sie werden das verstehen.«
Frau Cassel nimmt es hin (heute möchte man sagen »cool«; sie bleibt auch zeitlebens bewußt kinderlos) und sieht keinen Anlaß, die Brieffreundschaft seinzulassen. Ihre Briefe jedoch finden wir mit Ausnahme zweier voriger Sendungen jedoch erst nach Kriegsende wieder. Hier erhöht sich die Schlagzahl, und Frau Zenzes (sie ist nun in dramatischer und wechselvoller Ehe verheiratet mit dem deutschen Fliegeraß Alexanders Zenzes) kümmert sich in einer äußerst rührenden Weise aus ihrem Exil in zunächst San Francisco, dann New York um den alten Freund, der sich selbst ja schon mit 40 Jahren an seinem Lebensende sieht: »So bin ich nun hier [Belle-Alliance-Straße, heute Mehringdamm in Kreuzberg; EK] gelandet, in meinem Altersheim, Greisenasyl, vorbei der Prunk der wohlhabenden Jahre, still in den Hafen der Greis.«
Auch einer von Benns berüchtigten Briefen, in dem er 1933 Hitler als »grossen Staatsmann« verteidigt, ein »Judenproblem« benennt und sich über »Rassenmischmasch« beklagt, war an Zenzes gerichtet. Zenzes selbst war, wenn auch klar gegen den Nationalsozialismus (der ihr mit seiner Vernichtungspolitik die behinderte Schwester nahm), so doch deutschnational eingestellt und schrieb noch Jahrzehnte nach ihrem Gang in die USA (wo sie längere Zeit eine deutsche Buchhandlung führte) von ihrem furchtbaren Heimweh nach Deutschland: »Alles beleidigt mich: der Laerm, die Grobheit der Leute, die Neger in den Autobussen […] die Frechheit der Kinder, die Unordentlichkeit bei allem […] das Geldprinzip als Lebensmotiv.«
Über die Jahre liest Zenzes, wie Benn drei seiner Hauptfrauen beerdigt, zwei davon durch Selbstmord geendet. Nach dem Krieg schickt sie ihm aus den USA unermüdlich dutzende Versorgungspakete, die teils über zwei Monate unterwegs sind. Endlich Schnürsenkel für Dr. Benn! Und Zigarren! Und »Toil. cleaning paper«! Benn freut sich kolossal. Bald wird auch Benns dritte Ehefrau Ilse in den Briefverkehr und die Warenlieferungen eingebunden, es gibt Röcke mit Umarbeitungsvorschlägen, beschädigte Schuhe (»malen Sie doch den Umriss von Ihrem Fuss mal auf ein Stueck Papier«), »Praeservativs« und einen »Playsuit« für Ilse.
Nicht nur wegen der erbärmlichen Versorgungslage im ruinierten Berlin spricht aus den Bennschen Briefen der ersten Nachkriegsjahre tiefe Depression – der Dichter ist wegen seines kurzzeitigen Eintretens für die Nationalsozialisten mit Veröffentlichungsverbot belegt. Im November 1946 schreibt er: »Warum ist mir unerfindlich. […] Nun, […] ich tue nichts, um mich beliebt zu machen. Es sind gute Bücher, die ich schrieb u. eines Tages werden sie bekannt sein, –wenn ich tot bin.«
Hier, in diesem Briefwechsel, offenbaren sich einfach sämtliche Abgründe und Höhen, die das 20. Jahrhundert geistig zu bieten hatte. Dies alles, ergänzt um Zenzes Briefwechsel mit dem Benn-Freund und Verleger Max Niedermayer (Zenzes bittet, die Anrede »Trudchen« sowie »irgend welche nachteiligen Saetze gegen George Grosz« zu tilgen), ist eine wahre Fundgrube. Selbst in den »Apparat« (editorische Hinweise und Kommentare) mag man sich über Stunden vergraben. Die Herausgeber sind Benn-Spezialisten ersten Ranges, daher bleibt kaum eine Andeutung, kaum ein Name oder eine Chiffre unerschlossen.
Hinterher, also nach der Lektüre, weiß man nicht genau zu unterscheiden, ob man am Schüsselloch tätig oder geisteswissenschaftlich unterwegs war. In jedem Fall war es ein großes Vergnügen.
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Gottfried Benn, Gertrud Zenzes: Briefwechsel 1921 – 1956. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag 2021. 482 S., 34 €
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