Einige Gedanken zu Dostojewski

von Jekaterina Iwanowa

PDF der Druckfassung aus Sezession 105/ Dezember 2021

Man­che Künst­ler sind mehr als nur Künst­ler. So bedeu­tet Homer für die alten Grie­chen etwas ande­res als nur schö­ne Poe­sie – sei­ne Epen sind gewis­ser­ma­ßen die Quint­essenz des hel­le­ni­schen Lebens, ein Kompaß inner­halb ihrer Kul­tur. Goe­thes Wert­her beein­flußt die Schick­sa­le gan­zer Gene­ra­tio­nen und reicht bis in den Mode­ge­schmack hin­ein. Und die Musik eines Richard Wag­ner nimmt im Pari­ser Musée d’Orsay die Gestalt von Möbeln und Wohn­stil an, gerinnt gleich­sam zu Umge­bung, in der man sei­nen All­tag verbringt.

In Ruß­land exis­tiert seit jeher eine For­de­rung an die Kunst, über sich selbst hin­aus­zu­wei­sen, einen Platz im Leben ein­zu­neh­men. Musik, Male­rei und Lite­ra­tur wer­den nicht als abs­trak­te Phä­no­me­ne, son­dern als rea­le oder gar mythisch über­stei­ger­te Ereig­nis­se wahr­ge­nom­men, die jeden Men­schen per­sön­lich betreffen.

So ist St. Peters­burg nicht nur voll von berühm­ten Pusch­kin-Orten, son­dern auch von doch eigent­lich fik­ti­ven Schau­plät­zen sei­ner Wer­ke: Das Haus der Pique Dame, die Newa-Pro­me­na­de One­g­ins und so wei­ter. Und in Mos­kau wird Tou­ris­ten noch heu­te die Stel­le an den Patri­ar­chen-Tei­chen gezeigt, wo der Teu­fel in Volands Gestalt den Schrift­stel­lern Ber­li­oz und Bes­dom­ny begegnete.

Die bil­den­den Künst­ler der Avant­gar­de drin­gen mit ihrer Kera­mik- und Tex­til­ge­stal­tung in die gesell­schaft­li­chen Pro­zes­se ein und stre­ben nach einer »Revo­lu­ti­on des Geis­tes«, die nicht nur Men­schen, son­dern auch Gegen­stän­de aus ihrer Ver­skla­vung durch den Kon­sum befrei­en soll. Und Kom­po­nis­ten wie Alex­an­der Skrja­bin sehen in ihren Ton­dich­tun­gen weit mehr als nur eli­tä­ren ästhe­ti­schen Genuß – näm­lich eine Umwäl­zung des gesam­ten Kos­mos, eine Ver­geis­ti­gung allen Seins.

Auch Fjo­dor Dos­to­jew­ski ist mehr als ein Schrift­stel­ler. Mit sei­nen Wer­ken ist er eine Pha­se im Leben eines jeden Rus­sen – eine Pha­se der Ent­wick­lung und des Mensch­wer­dens. Und das nicht nur indi­vi­du­ell, son­dern auch kol­lek­tiv, auf das gan­ze Volk bezo­gen. Was er mit sei­ner Lite­ra­tur lie­fert, ist somit ech­te Phi­lo­so­phie, Phi­lo­so­phie nicht im aka­de­mi­schen, lehr­stuhl­mä­ßi­gen, son­dern eher im vor­so­kra­ti­schen und pla­to­ni­schen Sin­ne: ein tie­fer, alle Berei­che des Seins erfas­sen­der Pro­zeß, der durch Läu­te­rung und Prü­fung zur Wand­lung, ja, zur Ver­got­tung führt. Inner­halb der rus­si­schen Phi­lo­so­phie gilt Dos­to­jew­ski auch seit jeher als Phi­lo­soph, denn die­se ist nicht aka­de­misch lehr­stuhl­mä­ßig, son­dern tra­di­tio­nell publi­zis­tisch und lite­ra­risch (man den­ke an die Abge­fal­le­nen Blät­ter Was­si­li Ros­anows oder Wla­di­mir Solo­wjews Kur­ze Erzäh­lung vom Anti­christ).

Nie­mand, der Dos­to­jew­skis Roma­ne in sei­nen jun­gen Jah­ren gele­sen hat, wird das selt­sa­me Fie­ber ver­ges­sen, das ihn näch­te­lang wach­hielt und von einer Sze­ne in die nächs­te jag­te. Nie­mand wird die nerv­li­che Anspan­nung aus dem Gedächt­nis ver­trei­ben, die ganz lang­sam aus dem groß­an­ge­leg­ten Cha­os von ero­ti­schen, finan­zi­el­len und gedank­li­chen Ver­stri­ckun­gen her­aus­wächst und sich in einem bestimm­ten Augen­blick qua­si epi­lep­tisch ent­lädt. Nie­mand wird die­se bei­na­he schon dan­te­ar­tig ver­schlun­ge­nen Pfa­de durch die Peters­bur­ger Höl­len und Pur­ga­to­ri­en ver­drän­gen, die ein­zel­ne Gestal­ten durch­wan­dern müs­sen, um schließ­lich in einem stil­len Para­dies zu landen.

Und das ist ver­mut­lich auch die wich­tigs­te Leh­re aus ­Dos­to­jew­skis Büchern: Daß der Mensch wirk­lich alles wer­den kann. Daß es kei­ne Zustän­de gibt, die sei­nem Wesen fremd wären.

In der rus­si­schen Volks­re­li­gio­si­tät lebt bis heu­te noch die Vor­stel­lung von zwei arche­ty­pi­schen Hei­li­gen – vom hei­li­gen Kas­si­an und vom hei­li­gen Niko­laus dem Wun­der­tä­ter. Kas­si­an wird auf dem Weg zur Kir­che von einem Bau­ern gebe­ten, ihm den Wagen aus dem Schlamm her­aus­zie­hen zu hel­fen. Da er sich für den Got­tes­dienst fein­ge­macht hat, ver­wei­gert die­ser jedoch die Bit­te. Aber Niko­laus ist sich dafür nicht zu scha­de, denn er betrach­tet den Ein­satz für sei­ne Nächs­ten, den Dienst am ande­ren, als den eigent­li­chen Gottesdienst.

Dos­to­jew­ski folgt ein­deu­tig dem Arche­typ des Hei­li­gen Niko­laus. Er hat kei­ne Angst davor, sich die Fin­ger schmut­zig zu machen. Ja, mehr noch, der Weg durch den tiefs­ten Morast ist für sei­ne Hel­den etwas gera­de­zu Essen­ti­el­les. Gemäß dem bibli­schen Gleich­nis von der Per­le auf dem Acker wird die wah­re mensch­li­che Natur, laut Dos­to­jew­ski, nicht durch äuße­re Befle­ckung ver­derbt. Sie hat immer die Mög­lich­keit, jede erdenk­li­che Erfah­rung zu machen. Sie kennt kei­ne Tabus und kei­ne Regeln. Sie kann unend­lich tief sin­ken, was sie nicht dar­an hin­dert, nach dem Moment der ­Kathar­sis unend­lich hoch aufzusteigen.

Dos­to­jew­skis Roma­ne rei­ßen den Leser aus sei­nen gewohn­ten Bah­nen her­aus. Sie sind – und das nicht allein für den Neu­ling – oft­mals ein Sprung ins kal­te Was­ser. Jeder fes­te Halt wird da ver­wor­fen, jeder Gedan­ke, auch einer, den man für gewöhn­lich nicht an sich her­an­läßt, kon­se­quent zu Ende gedacht.

Gera­de in unse­rer Zeit wer­den ja die Men­schen, ins­be­son­de­re die jun­gen, immer stär­ker in ein Geflecht aus Vor­stel­lun­gen hin­ein­ge­zwängt, die als ein­zig zuläs­sig gel­ten, wäh­rend ande­re zur glei­chen Zeit aus­ge­blen­det oder dämo­ni­siert wer­den. Denn wo die Zen­sur von Taten und Wor­ten auf Hand­lan­ger ange­wie­sen ist, kommt die aner­zo­ge­ne Gedan­ken­zen­sur von innen, und von einem gewis­sen Moment an bedarf es kei­nes Zugriffs von außen mehr. An so einem Punkt kann eine Begeg­nung mit bedin­gungs­lo­ser, unein­ge­schränk­ter Gedan­ken­frei­heit, die sich alles her­aus­nimmt, sogar das »Ver­bo­te­ne«, eine Schock­wir­kung aus­lö­sen und im güns­tigs­ten Fall zu einer Art Initia­ti­on führen.

Ent­schei­dend ist, daß Dos­to­jew­ski dem Indi­vi­du­um nicht nur jeg­li­che Art der Ver­ir­rung gestat­tet, son­dern auch bereit ist, jeden Ver­irr­ten, unab­hän­gig von der Tie­fe sei­nes Falls, den­noch als Men­schen anzu­neh­men – ­allein schon des­halb, weil jener als Mensch einen Wider­schein Got­tes in sich trägt. (Und es ist eben­die­ser Wider­schein Got­tes und nicht etwa das blo­ße Anders­sein, wel­ches das Indi­vi­du­um zum Indi­vi­du­um macht.) Eine christ­li­che­re Hal­tung ist wohl kaum denk­bar. Sie legt die Axt nicht nur an die Grund­fes­ten der all­ge­mei­nen gesell­schaft­li­chen Ord­nung, son­dern auch an das, was sich gemein­hin als »Kul­tur­chris­ten­tum« bezeich­net – an die uns heu­te nur zu gut ver­trau­te Vor­stel­lung vom »christ­li­chen Abend­land«, in dem eine wohl­mei­nen­de Gemein­schaft mit den­sel­ben Wer­ten und Geset­zen lebt.

Was Dos­to­jew­ski ver­mut­lich beson­ders auf­sto­ßen wür­de, wäre der Gedan­ke dar­an, daß sich die Men­schen dort »ein­ge­rich­tet« hät­ten, in einer geis­ti­gen Kom­fort­zo­ne leb­ten. Auf sei­ner Ska­la wäre das »geis­ti­ges Spie­ßer­tum« und als höchst ver­werf­lich zu beur­tei­len, noch ver­werf­li­cher als das mate­ri­el­le Spie­ßer­tum. Wie der Men­schen­sohn des Evan­ge­li­ums soll­te auch der Mensch kei­nen Ort haben, an dem er sein Haupt nie­der­le­gen, an dem er es sich bequem machen könnte.

Der Gedan­ke dar­an, daß ein Mensch sich in ein bestehen­des Ras­ter ein­fü­gen soll, ist für Dos­to­jew­ski schier uner­träg­lich. Mit Dos­to­jew­ski ist hier frei­lich das Werk gemeint und nicht die Per­son des Schrift­stel­lers. Er, der 1821 Gebo­re­ne, tritt in sei­nen jun­gen Jah­ren nach den ers­ten erfolg­rei­chen Publi­ka­tio­nen einer revo­lu­tio­nä­ren Unter­grund­zel­le bei, wird ver­haf­tet und 1849 zum Tode ver­ur­teilt. Das Urteil wird in letz­ter Sekun­de auf­ge­ho­ben und durch mehr­jäh­ri­ge Ver­ban­nung ersetzt.

In sei­ner zwei­ten Lebens­pha­se ist er wie­der­um ein durch­aus kon­ser­va­ti­ver Zeit­ge­nos­se mit durch­aus gefes­tig­ten poli­ti­schen, reli­giö­sen und gesell­schaft­li­chen Mei­nun­gen und tut die­se in sei­ner Publi­zis­tik kund. Doch in sei­nen Roma­nen wäre er bloß ein Sta­tist – nur einer unter vie­len. Schließ­lich herrscht dort allent­hal­ben eine gera­de­zu baby­lo­ni­sche Sprach­ver­wir­rung, bestehend aus den wider­sprüch­lichs­ten Ansich­ten und Hal­tun­gen. Denn sei­ner tiefs­ten Über­zeu­gung nach besitzt jeder Mensch eine »Idee«. Damit ist mehr gemeint als nur ein Geis­tes­blitz, eher so etwas, wie ein lei­ten­der Lebens­im­puls, etwas, wovon der Mensch beses­sen ist, was er nicht los­las­sen kann. Erst das Zusam­men­spiel die­ser unter­schied­li­chen, oft sogar kon­trä­ren Impul­se ergibt eine mensch­li­che Gemeinschaft.

Dos­to­jew­ski geht aber noch wei­ter. Denn im Prin­zip besitzt auch jeder ein­zel­ne Mensch in sich selbst eine sol­che Farb­pa­let­te der wider­sprüch­lichs­ten, wider­spens­tigs­ten »Ideen« und kann sich jeder­zeit, ohne Rück­sicht auf Ver­lus­te und qua­si will­kür­lich, für ein Extrem ent­schei­den. Es ist gera­de die­ser Zug sei­ner Hel­den, der uns beim Lesen so weh tut: Mit anse­hen zu müs­sen, wie Fürst Mysch­kin oder der Haus­leh­rer Ale­xej bar jeder Ver­nunft und zum eige­nen Scha­den einen nicht wie­der­gut­zu­ma­chen­den Schritt tun und sich mit die­sem alle Zukunft auslöschen.

Und doch ist das cha­rak­te­ris­tisch für einen Men­schen, eben weil er ein Mensch ist. Solan­ge der Mensch sei­ner »Idee« folgt, aus tiefs­tem Antrieb her­aus han­delt, bleibt er sei­nem Mensch­sein treu, ganz gleich, ob er »Gutes« oder »Böses« tut. Viel ver­ächt­li­cher ist Dos­to­jew­ski gegen­über den Fei­gen, den Lau­war­men, die, laut Dan­te, selbst die Höl­le aus­speit. Sie sind für ihn die eigent­li­chen »Spie­ßer des Geis­tes«, die sich mit aller Kraft an den Sta­tus quo klam­mern, der doch voll­kom­men illu­so­risch ist.

Das obers­te Kenn­zei­chen des Men­schen ist und bleibt sei­ne per­sön­li­che, mög­li­cher­wei­se sogar zer­stö­re­ri­sche Frei­heit. Damit wider­spricht Dos­to­jew­ski im Kern jener Leh­re, die uns in West­eu­ro­pa, ins­be­son­de­re in Deutsch­land, seit eini­gen Jah­ren ein­ge­trich­tert wird und mitt­ler­wei­le offen­bar bei links wie rechts zum Kon­sens gewor­den ist: Die per­sön­li­che Frei­heit ende genau dort, wo das Straf­recht ein­set­ze, ende dort, wo die Frei­heit des ande­ren begin­ne. Eben­so wie auch die freie Meinungsäußerung.

Dos­to­jew­skis Frei­heits­be­griff, wie er aus sei­nen Wer­ken her­aus­tritt, wür­de voll­kom­men anders lau­ten: Die Frei­heit des Men­schen ist unein­ge­schränkt, sie endet nir­gends, sie beginnt nir­gends, sie macht vor kei­ner Gren­ze halt, ganz gleich, ob straf­recht­lich rele­vant oder nicht. Oder, in den Wor­ten von Her­mann Hes­ses Demi­an aus­ge­drückt: »Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt. Wer gebo­ren wer­den will, muß eine Welt zer­stö­ren«. Sehr wohl aber muß der Mensch, der eine Gren­ze über­schrei­tet, bereit sein, die Kon­se­quen­zen dafür zu tragen.

Ob Chris­tus, der sich als Sohn Got­tes bezeich­net, oder der isla­mi­sche Sufi-Hei­li­ge Al-Hal­ladsch, der öffent­lich ver­kün­det, er sei die gött­li­che Wahr­heit – bei­de bre­chen, um die inne­re Erkennt­nis zu offen­ba­ren, das gel­ten­de äuße­re Gesetz, wofür sie, der Got­tes­läs­te­rung ange­klagt, bewußt die Kreu­zi­gung in Kauf neh­men. Bei Dos­to­jew­ski muß Chris­tus noch nicht ein­mal etwas sagen: In der Groß­in­qui­si­tor-Legen­de reicht bereits sei­ne Mani­fes­ta­ti­on, sei­ne blo­ße Anwe­sen­heit aus, um die bestehen­de Ord­nung zu bedro­hen, wes­halb er erneut ange­klagt wird.

Dos­to­jew­skis Chris­ten­tum ist auch nur im Sin­ne einer sol­chen bedin­gungs­lo­sen Frei­heit zu ver­ste­hen. Die­se Vor­stel­lung ist ihrem Wesen nach mys­tisch und zählt zum »ver­bor­ge­nen« Kern der Ortho­do­xie, dem Starzen­tum. Sta­rez ist die rus­si­sche Bezeich­nung für das, was im Deut­schen »Alt­va­ter« genannt wird – ein Mönch mit gro­ßer geis­ti­ger Auto­ri­tät jen­seits kir­chen­amt­li­cher Hier­ar­chien. Die Star­zen sind also auf der einen Sei­te Teil der »Kir­che«, auf der ande­ren Sei­te aber nicht. Oft leben sie inner­halb der Klos­ter­mau­er, doch sind sie nicht an die Klos­ter­re­geln gebun­den, son­dern gehor­chen einem unbe­stech­li­chen, aus unmit­tel­ba­rer Got­tes­er­fah­rung geschöpf­ten Gesetz.

Aus die­ser geis­ti­gen Frei­heit her­aus, die selbst vor den kirch­li­chen Geset­zen nicht halt­macht, erge­ben sich zwar immer wie­der Kon­flik­te, wie am Bei­spiel Sossi­mas in den Brü­dern Kara­ma­sow gezeigt, und doch ist sie in der Lage, jeg­li­chen Streit zu über­win­den, und erweist sich als das eigent­lich Ver­bin­den­de. In sei­ner berühm­ten Pusch­kin-Rede erhebt Dos­to­jew­ski die Fähig­keit des Men­schen, alle Gegen­sät­ze in sich selbst nicht nur zu erken­nen und aus­zu­lo­ten, son­dern auch mit­ein­an­der zu ver­söh­nen, zur aller­höchs­ten geis­ti­gen Leistung.

Sym­bo­lisch zeigt sie sich in der Gestalt des »All­men­schen« oder des »rus­si­schen Men­schen«. Also nicht das ver­bis­se­ne Behar­ren auf der eige­nen Posi­ti­on (wie etwa dem Sla­wo­phi­len- oder dem West­ler­tum), son­dern die inne­re Fle­xi­bi­li­tät, jeden erdenk­li­chen mensch­li­chen Aus­druck als etwas Mensch­li­ches anzu­neh­men. Denn das Behar­ren auf der eige­nen Posi­ti­on bleibt immer Teil, nie­mals das Ganze.

Es ist das Sosein, der Sta­tus quo, was die mensch­li­che Frei­heit ein­zu­schrän­ken ver­sucht. Am aller­meis­ten aber knech­tet den Men­schen von außen das Geld. Aus die­sem Grund ist Dos­to­jew­ski mög­li­cher­wei­se der größt­denk­ba­re Kri­ti­ker des Kapi­ta­lis­mus. Geld – als rein mate­ri­el­ler Besitz – ist inso­fern stets eine Her­aus­for­de­rung. Wie der Haus­leh­rer Ale­xej im Spie­ler ver­kün­det, will er mit sei­ner »wil­den Tata­ren­see­le« unter gar kei­nen Umstän­den ein Expo­nent von Roth­schild und Kon­sor­ten sein, son­dern lie­ber das Geld zum Fens­ter hin­aus­wer­fen und tun und las­sen, was ihm gefällt. Zwar hän­gen vom Geld die Geschi­cke der Men­schen ab, die Zukunft gan­zer Fami­li­en ist dar­auf gebaut, und doch ist gera­de die­se Tat­sa­che das Ent­wür­di­gends­te, was dem Men­schen wider­fah­ren könn­te, denn es ent­wer­tet ihn und macht ihn zu einem Spiel­ball äuße­rer Kräfte.

Die ver­zwei­fel­te Zer­reiß­pro­be zwi­schen Haben und Sein zieht sich wie ein roter Faden durch Dos­to­jew­skis Leben und Werk. Doch gera­de in Augen­blicken wie am Rou­lette­tisch offen­bart sich vor sei­nem inne­ren Auge die gan­ze meta­phy­si­sche Nich­tig­keit des Gel­des. Es ist gleich­sam nicht exis­tent. Wie win­zi­ge mole­ku­la­re Teil­chen, wie Mücken­schwär­me, wie Kon­fet­ti­wol­ken schwir­ren rie­si­ge Sum­men an ihm vor­bei, lan­den kurz bei ihm und ent­schwin­den wie­der. Es sind Zah­len­rei­hen ohne jeden Bestand, etwas, das in Wel­len kommt und geht. Das Gefühl, die­se im wahrs­ten Sin­ne des Wor­tes Unsum­men durch sei­ne eige­nen Hän­de zu jagen, ver­wan­delt sich in jähe Lebens­lust, als wür­de man mit­ten im Auge eines Orkans ste­hen, und nimmt offen sexu­el­le Züge an.

Will man aus allem oben Gesag­ten eine poli­ti­sche Leh­re zie­hen? Poli­ti­sche Leit­sät­ze beru­hen nun mal auf Schnitt­men­gen und Abgren­zun­gen. Vor die­sem Hin­ter­grund muß Dos­to­jew­ski in jedem Lager eine Fehl­far­be sein. Im ideo­lo­gi­schen Gepäck von Par­tei­en stellt er immer einen Risi­ko­fak­tor dar. Wer sich ihn auf die Fah­ne schreibt, muß mit der Mög­lich­keit rech­nen, daß die »alten Schläu­che an dem jun­gen Wein zer­rei­ßen«. Denn die Schläu­che sind »alt« in dem Sin­ne, daß sie Auf­fang­be­häl­ter sind und etwas um jeden Preis bewah­ren wol­len. Der Wein aber ist »jung«, weil er bro­delt und gärt und die Trin­ken­den in einen Rausch versetzt.

Hin­zu kommt die uner­bitt­li­che Tat­sa­che, daß dies groß­an­ge­leg­te »Blei­ben ist nir­gends« nicht allein für die Gegen­wart gilt. Uto­pien sind Dos­to­jew­ski ver­haßt. Die Ret­tung der gan­zen Welt ver­wirft er, so lesen wir es in den Brü­dern Kara­ma­sow, soll­te die­se um den Preis auch nur einer ein­zi­gen Kin­der­trä­ne erfolgen.

 

Nichts schreibt sich
von allein!

Das Blog der Zeitschrift Sezession ist die wichtigste rechtsintellektuelle Stimme im Netz. Es lebt vom Fleiß, von der Lesewut und von der Sprachkraft seiner Autoren. Wenn Sie diesen Federn Zeit und Ruhe verschaffen möchten, können Sie das mit einem Betrag Ihrer Wahl tun.

Sezession
DE58 8005 3762 1894 1405 98
NOLADE21HAL

Kommentare (0)