Insofern liest sich der Titel des neuesten Buchs von Rüdiger Safranski (*1945) wie eine Anleitung, das Beste aus Kontaktverboten und Abstandsgeboten zu machen. Allerdings erwähnt Safranski die aktuellen Gegebenheiten mit keinem Wort, was nicht nur sympathisch zeitlos wirkt, sondern nebenbei auch demonstriert, daß die erzwungene Vereinzelung nichts mit dem zu tun hat, worum es Safranski geht.
Es sind die großen Geister seit der Renaissance, die Safranski auf seinem Weg durch die Geistesgeschichte befragt, den er im Existentialismus der 1950er Jahren enden läßt. Es ist bemerkenswert, daß es Jüngers Waldgang ist, mit dem Safranski sein Buch beendet und in der dort zu findenden Frage, ob jemand »sein So-Sein höher als sein Da-Sein schätzt«, den Schlüssel dazu findet, worum es »eigentlich geht beim Versuch, ein Einzelner zu sein«.
Das führt zurück zu einem zentralen Motiv, das sich durch die abendländische Geistesgeschichte zieht, seit der spätmittelalterliche Nominalismus zu behaupten wagte, daß die Wahrheit in den Einzelheiten steckt. In der Nachfolge Jüngers hat dessen Schüler Armin Mohler daraus die Entscheidungsfrage der Weltanschauungen gemacht und gegen den Universalismus die »nominalistische Wende« ausgerufen.
Leider vergeblich, weshalb man Safranski gern dabei folgt, wenn er die Höhepunkte dieser Geisteshaltung noch einmal aufblättert. Neben Luthers »Hier stehe ich« treten so die beiden Antipoden der Aufklärung, Rousseau und Diderot, die sich auch in ihrem Verhältnis zu den »Anderen« grundsätzlich unterscheiden. Während Rousseau ständig auf der Flucht war und daher nicht ohne Grund die »Anderen« fürchtete, brauchte der Menschenmengen meidende Diderot sie, um das gesellschaftliche Rollenspiel zu entschlüsseln, was ihn zu einem gerngesehenen Gast in jedem Salon machte.
Stendhal steht dagegen eher für den problematischen Zug der Vereinzelung, den man auch als Egozentrik bezeichnen könnte, wenn Safranski ihn mit folgenden, auf Napoleon gemünzten Worten zitiert: »Das Gute an dieser [egozentrischen] Denkweise ist, daß ein Rückzug aus Rußland nicht mehr Bedeutung hat als ein Zug aus einem Glas Limonade.«
Hervorragend sind Safranski die Schilderungen der großen einzelnen des 19. Jahrhunderts, Kierkegaard, Stirner und Thoreau, gelungen, weil sie die ganze Bandbreite an selbst erkämpfter Vereinzelung darstellen, bevor die Massengesellschaft, die bei Safranski natürlich auch vorkommt, zur Geltung gelangt und den Menschen, zumal in der digitalisierten Steigerung, ganz anders in Beschlag nimmt als jemals zu vor: »Die eigene Lebenswelt, aus der man einst Maßstäbe und Orientierung bezog, ist aufgesprengt […].« Jetzt sind nicht nur die wenigen »Anderen« das Problem, sondern die ganze Welt tritt einem zu nahe.
Auch wenn es Safranski nicht ausspricht, ist dieses kulturpessimistische Resümee sicher ein Hinweis darauf, daß uns nur eine neue Renaissance aus diesem »Schleier […] aus Glauben, Kinderbefangenheit und Wahn« (J. Burckhardt) herausführen kann. Der einzelne ist gefragt.
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Rüdiger Safranski: Einzeln sein. Eine philosophische Herausforderung, München: Carl Hanser Verlag 2021. 285 S., 26 €
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