Die politische Kriminalisierung des Instituts für Staatspolitik (IfS) als »gesichert rechtsextreme Gruppierung« begründet das Landesamt für Verfassungsschutz von Sachsen-Anhalt unter anderem damit, daß das IfS sich bemühe, den »Raum des Sagbaren« auszudehnen.
Daran ist mindestens zweierlei bemerkenswert: Ein Inlandsgeheimdienst erhebt in der Manier eines Heiligen Offiziums den Anspruch, verbindlich festzulegen, was öffentlich thematisier- und diskutierbar ist und was nicht. Und er agiert dabei als verlängerter Arm eines politisch-medialen Komplexes, der sich nur sicher fühlt, solange der öffentliche Raum durch geheimdienstliche Observation eingehegt und von Furcht und Konformismus durchsetzt ist.
Der Verfassungsschutz (VS) von Bund und Ländern ist eine bundesdeutsche Exklusivität. Er wurde auf Geheiß der Alliierten errichtet, die über die Staatsgründung der Bundesrepublik 1949 hinaus eine politisch-ideologische Vormundschaft beibehalten wollten. Bei der »Interpretation des Rechtsradikalismus-Problems« agierten sie von Anfang an »als der sichtbare Dritte in diesem von Exekutive und Judikative dominierten Geschehen«, schreibt der Zeitgeschichtler Norbert Frei.
Ein britischer Geheimbericht von 1953 gab zu, daß von rechten Gruppierungen keine Gefahr für den Bestand des Grundgesetzes ausging. Gefürchtet wurde vielmehr, daß ihr Erfolg die Bevölkerung mit einem »kompromißlosen Nationalismus infizieren« würde. So könnten »rücksichtslose Realisten« bereit sein, errungene politische Macht »gegen das gesamte Konzept der europäischen Einheit und westlichen Verteidigung einzusetzen, sollten sie der Ansicht sein, daß das in ihrem Interesse liegt«.
Die Streitfrage lautete damals, ob einer auf rasche Wiedervereinigung oder einer auf Westbindung gerichteten Politik der Vorzug zu geben sei. Für beide Standpunkte gab es gewichtige Argumente. Das Absonderliche lag darin, daß äußere Mächte unmittelbar in einen innenpolitischen Diskurs eingriffen und sich dazu eines innerstaatlichen Organs bedienten, das sie vorsorglich implementiert hatten. Die Bundesrepublik sollte sich nicht primär als Statthalterin eines künftigen deutschen Einheitsstaates, sondern als selbstverwaltete Provinz einer »westlichen Wertegemeinschaft« definieren.
Die langfristigen Folgen waren tiefgreifend. »Provinzialismus: Ein struktureller Befund«, überschrieb 1990 der kürzlich verstorbene Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer eine seiner galligen Glossen über die politische, geistige und kulturelle Mediokrität, welche die Bundesrepublik in die Wiedervereinigung einbrachte.
Der politisch-mediale Komplex war geschockt von der Aussicht, sich fortan eigenständig, ohne fremde Vorbehaltsrechte in der Welt zurechtfinden zu sollen, und ersehnte die Auflösung des Landes in postnationalen Strukturen. Dieser Wunsch einte Kommunisten, Grüne, Sozialdemokraten, Liberale und Unionschristen und bietet die Erklärung, weshalb die SED-Nachfolger sehr schnell zum demokratischen Lager gezählt wurden, während jene, die für Volkssouveränität und den Beibehalt des demokratischen Nationalstaates eintreten, wie jetzt im VS-Bericht von Sachsen-Anhalt mit Drohformeln wie »rassistische und biologistische Sichtweisen« oder »völkische[r] Kollektivismus« belegt, als heimliche Wiedergänger des NS-Regimes gebrandmarkt und faktisch vogelfrei gestellt werden.
Der »Kampf gegen rechts«, zu dessen Hauptakteuren der VS zählt, ist ein Kampf gegen das kollektive Selbst, ein Akt der Autodestruktion. Er verfährt nach der Logik vom objektiven Gegner, dessen Verbrechen nicht in seinen Taten, sondern in den vermeintlich bösen Absichten liegt, die man ihm unterstellt und die in Wahrheit die Projektionen der eigenen, verqueren Ideologie sind. Wo die Rassenfrage zur Staatsdoktrin erhoben wird, ist der Gegner eben der Jude.
Im neototalitären Antifaschismus werden die Verfechter des Antitotalitarismus als die neuen Faschisten stigmatisiert. Und wenn eine Nation verschwinden will – beziehungsweise ihre Eliten ihr Verschwinden anstreben –, dann werden die Sprecher des nationalen Selbstinteresses wenigstens in den sozialen Kältetod geschickt. Noch das klügste Gegenargument verhallt, weil es auf einen entschlossenen Vernichtungswillen trifft.
Dieses Verfahren hat E. T. A. Hoffmann in seinem Märchen Meister Floh (1820) modellhaft beschrieben. Hoffmann war damals Kammergerichtsrat in Berlin. Die Ermordung des Schriftstellers August von Kotzebue durch den Studenten Karl Ludwig Sand 1819 hatte ihn zwar in der Meinung bestärkt, »daß dem hirngespenstischen Treiben einiger junger Strudelköpfe Schranken gesetzt werden mußten«, nur sollte das rechtsstaatlich und nach objektiven Kriterien erfolgen. Mit dieser Auffassung geriet er in Gegensatz zum damaligen Polizeidirektor Kamptz, der im Buch »Knarrpanti« heißt.
Für Knarrpanti sind Studenten naturgesetzliche Verbrecher. »Auf die Erinnerung, daß doch eine Tat begangen sein müsse, wenn es einen Täter geben solle, meinte Knarrpanti, daß, sei erst der Täter ausgemittelt, sich das begangene Verbrechen von selbst finde.« Nur ein »oberflächlicher Richter« sei nicht imstande, »dies und das hineinzuinquirieren, welches dem Angeklagten doch irgendeinen Makel« anhänge. Als er im Tagebuch eines Verhafteten den Satz findet: »Heute war ich leider mordsfaul«, folgert er daraus, »ob wohl jemand verbrecherischere Gesinnung an den Tag legen könne, als wenn er bedauere, heute keinen Mord verübt zu haben«! Knarrpanti ist die personifizierte Paranoia. Innerhalb seines Denkgebäudes ist ihm nicht beizukommen, denn jeder Widerspruch bestätigt nur seine Sicht auf den objektiven Feind.
Auf die innere Beschaffenheit dieses Gedankenpolizisten und Zensors ist Hoffmann nicht weiter eingegangen. Doch in der Titelfigur des Romans Tallhover von Hans Joachim Schädlich hat Knarrpanti seine Wiederauferstehung und Transformation erlebt. Tallhovers Lebensweg beginnt 1819 und endet um 1955. Er ist der Prototyp des ewigen Spitzels, ein reduzierter Charakter, ein Klassenpetzer. Er sieht seiner Mutter heimlich bei der Notdurft zu – der Zusammenhang von kindlicher Analphase, Ödipuskomplex, Voyeurismus und Zwangsneurose erschließt sich bei der Lektüre Sigmund Freuds.
Er hat keine Freunde und ist ein fanatischer Puzzlespieler. Beflissen, autoritär und ängstlich, fehlt ihm der Mut zum eigenständigen Leben. Gemäß der Dialektik von Ohnmachts- und Allmachtsgefühlen zieht er seinen kargen Genuß daraus, das Leben anderer zu observieren, sie durch seine Allwissenheit einzuschüchtern und zu manipulieren.
Gerade erwachsen geworden, sucht Tallhover um »eine fruchtbare Tätigkeit bei der Kriminalpolizei« nach. Die Spur seines Wirkens zieht sich vom Kölner Kommunistenprozeß 1852 über die Gestapo bis zur Stasi. Nach dem Ostberliner Arbeiteraufstand vom 17. Juni 1953 sieht er sich an der Unmöglichkeit gescheitert, an der jeder Spitzel bisher noch Schiffbruch erlitt: Er kann seinen Mitmenschen eben doch nicht in Herz und Hirn schauen und wird daher vom Gang der Geschichte immer wieder überrascht. In einem Verfahren, das an Kafka und an die Moskauer Schauprozesse von 1936 bis 1938 erinnert, verlangt er für sich das Todesurteil. Seinen Tod will er als Opfer zur Perfektionierung des Systems verstanden wissen.
Schädlich war 1977 aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen. Als das Buch 1986 erschien, lag es nahe, den Romanschluß als das antizipierte Endes des Stasi-Staates zu interpretieren. Heute wissen wir, daß der systemübergreifende Knarrpanti / Tallhover-Typ auch in Demokratien gefragt ist. Denn das Spitzeln, Kontrollieren und Denunzieren ist eine Konstante, die Macht generiert.
Es liegt in der Natur von Arkan-Behörden, daß Menschen mit entsprechender Disposition sich manisch von ihnen angezogen fühlen. Der Vorzug des Rechtsstaats und der Demokratie besteht in der Theorie darin, daß sie ausdrücklich mit den menschlichen Unzulänglichkeiten rechnen und sie durch »ungeheuer komplizierte Abläufe und Passungen« und einen »grandiosen und empfindlichen Organismus des Miteinander« so weit herunterdimmen, daß »die Menschen bei all ihrer Schlechtigkeit au fond so schwerelos aneinander vorbeikommen«, wie Botho Strauß im »Anschwellenden Bocksgesang« formulierte.
Doch die Tallhover- und Knarrpanti-Typen haben die Institutionen und die Prozeduren, die ihre Schlechtigkeit bändigen sollten, erobert und überschrieben. Kaum daß die geistige Käseglocke, die der Jahrzehnte währende Kalte Krieg und die deutsche Teilung über das Land gelegt hatten, angehoben war, ging der moralinsaure Provinzialismus, der darunter schimmelte, in eine gärige Nationalneurose über, die sämtliche Bereiche der Gesellschaft transzendiert und den von Hoffmann und Schädlich beschriebenen Zwangsneurotikern ein weites Betätigungsfeld bietet.
Von einem neurotisierten Gemeinwesen darf man wohl sprechen, wenn die Unterscheidung, wer dazugehört und wer nicht, ja schon die Erörterung der Frage, zum verfassungsfeindlichen Vergehen erklärt wird. Eine Gesellschaft, die den Unterschied von innen und außen nicht mehr wahrhaben will, stellt ihre Existenz in Frage. Wo der »Organismus des Miteinanders« auf Selbstauflösung programmiert ist, herrscht ein kollektiver Wahn und verlieren Begriffe wie Demokratie, Moral, Wahrheit ihren Sinn.
Arkan- und öffentliche Institutionen gehen längst ineinander über. Das Kontrollieren, das Denunzieren und die Vernichtung sozialer Existenzen sind öffentliche Angelegenheiten, die als zivilgesellschaftliches Engagement gefördert und prämiert werden. Journalisten und Extremismus-Experten bedienen sich bei der Aufdeckung vermeintlicher rechter Umtriebe häufig derselben Sprach- und Argumentationsmuster, die man in den Berichten inoffizieller Stasi-Informanten vorfindet. Diese waren allerdings geheim, was dafür spricht, daß die Stasi mit einer weithin intakten Moral der Allgemeinheit rechnen mußte, die der staatlichen Indoktrination trotzte.
Soviel Rücksichtnahme ist offenbar nicht mehr nötig. Wenn jetzt das Institut in Schnellroda mit einer pompösen öffentlichen Feindmarkierung versehen wird – gegen wen und was spricht das wohl?
Dieser Text erschien zuerst in der Wochenzeitung Junge Freiheit, Ausgabe 42 vom 15. Oktober 2021.
Der Nachdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung.