Ein Abonnent fragte per Mail: »Geben Sie den Lesern der Sezession eine Einschätzung der Regierung? Baerbock sorgt sich um das Diplomatische Corps, Habeck ist jetzt Klima- und Wirtschaftsminister sowie Vizekanzler. Es drohen finstere Tage.«
Ist das so? Gibt es so etwas wie finsterer als finster? Oder war es die letzten vier Jahre noch etwas heller? Stehen wir erst jetzt am Abgrund, wurde in der Ära Merkel noch einiges, manches, immerhin etwas richtig gemacht? Ist die Christdemokratie mindestens nur das kleinere Übel oder sogar, mit Blick auf die finsteren Tage, die nun drohen, gar keines, und gewinnt Maas plötzlich an Größe, wenn man ihn neben Baerbock stellt?
Man kann solche Fragen ernsthaft zu beantworten versuchen oder sie abtun mit einem Verweis darauf, daß man auf den Beginn der großen Rettungserzählung aus dem Munde der Union keinesfalls hereinfallen dürfe. Es sind Politiker wie Söder, Merz und Spahn, die nun von der aufhaltenden, der besonneneren Kraft ihrer Partei zu erzählen beginnen und die darauf bauen können, daß etlichen beim Zuhören aus dem Gedächtnis rutscht, wer regierte, als in der Banken‑, der Flüchtlings‑, der Klima- und der Coronakrise generationenübergreifende, irreversible Weichenstellungen vorgenommen worden sind.
Es geht eben immer irgendwie weiter in einem so reichen und noch immer so gut organisierten Land wie dem unseren. Stabilisieren, mitmachen oder Sand ins Getriebe, wo es nur geht? Selbst unser doch recht übersichtliches Lager kommt an solchen Punkten zu diametral zueinander stehenden Beurteilungen und Forderungen. Jüngstes Beispiel?
In einem Beitrag für die Junge Freiheit vom 26. November vermerkt Karlheinz Weißmann, der Mitbegründer unserer Zeitschrift, daß die »Freiheit, die wir genießen, weder Himmelsgabe noch Selbstverständlichkeit ist. Sie beruht auf Bedingungen, vor allem dem Vorhandensein staatlicher Ordnung. Das Wesen solcher Ordnung ist, daß sie die Freiheit des Individuums reguliert und einschränkt. Auch wenn das unter normalen Umständen kaum spürbar ist, fügt sie den Menschen ein und zwingt ihn notfalls zum Fügen.
Man mag die Regeln in Frage stellen und kann trefflich darüber streiten, wie das Einfügen konkret vonstatten zu gehen hat und darüber, ob ein Notfall besteht oder nicht. Aber an dem Zusammenhang selbst dürfte kein Zweifel bestehen. Auch daran nicht, daß er für einen modernen Staat mit einer Massenbevölkerung eine besondere wichtige Bedeutung hat.«
Bis hierher: Staatsbürgerkunde aus der Feder eines Ordnungsdenkers. Bloß war das nur der Anlauf: Weißmann verhandelt in seinem Text die Frage nach der Impfpflicht und plädiert für sie. Sofort bekommen seine Ausführungen einen ganz anderen Schwung, und wir ahnen das Ziel der Argumentation: »Der Staats- und Verwaltungsrechtler Ernst Forsthoff (1902 – 1974) sprach davon, daß der heutige Staat nicht nur wie jeder Staat zuvor seine eigene Dauer sichere, sondern auch ›Daseinsvorsorge‹ zu leisten habe. Zu den wesentlichen Bereichen solcher ›Daseinsvorsorge‹ gehört die Volksgesundheit. Ist sie gefährdet, muß der Staat eingreifen. Ist die Impfpflicht das Mittel der Wahl, um sie zu schützen, dann hat der Staat sie durchzusetzen und darf über die Vorbehalte, die Uneinsichtigkeit oder den Unwillen einzelner hinweggehen, um das Gemeinwohl zu schützen. Also: Ärmel hoch!«
Das (selbst die fade Doppeldeutigkeit am Schluß) schreibt einer der wirklich klugen Köpfe, die hinter der Sezession steckten. Und nun? Man will ja sofort Fragen stellen, beispielsweise eine nach der »Volksgesundheit« (welches Volk eigentlich?), die Weißmann in Gefahr sieht, obwohl er es statistisch nicht unterfüttern kann. Ist für ihn der Lockdown nur ein Lockdown, nicht auch ein Testlauf? Wieviel von der »Volksgesundheit« ist dadurch ruiniert worden, daß man die Leute seit bald zwei Jahren im Zustand der Angst halten will? Fragen, Fragen …
Es ist wohl am besten, dieses Plädoyer als das eines Staatsdieners zu begreifen, der Staat, Institutionen, Ordnung, Gehorsam und die Bereitschaft zur Unterordnung auch dann geschützt und gefördert sehen will, wenn sich all das gegen das Volk gekehrt hat. Wer sein Leben lang Lehrer war, Beamter mit Leib und Seele, und nun eine Pension bezieht, der kann Gretchenfragen wohl nicht anders beantworten – es sei denn, er wäre bereit, die Konsequenzen zu tragen.