Eberhard Straub: Europa. Ein ungesicherter Begriff

von Erik Lommatzsch -

Das alte Europa, das Zerbrechen dieser Welt mit dem Jahr 1914 und die Frage nach dem heutigen Europa, das beständig mit der EU »verwechselt wird«

– das sind die gro­ßen The­men, die Eber­hard Straub in sei­nem Essay­band beschäf­ti­gen. Die acht zwi­schen 1994 und 2020 an ver­schie­de­nen Orten publi­zier­ten Tex­te, denen hier ein ein­füh­ren­des Vor­wort bei­gefügt ist, haben nichts an Aktua­li­tät ver­lo­ren. Ein »unge­si­cher­ter Begriff« bleibt Euro­pa auch nach der Lek­tü­re, den Ver­lust des einst Dage­we­se­nen und die heu­ti­ge Inhalts­lee­re emp­fin­det man um so schmerzlicher.

Wie­der­holt ver­weist Straub auf Hugo von Hof­manns­thal, der 1921 »erschüt­tert« frag­te, »ob Euro­pa, das Wort als geis­ti­ger Begriff genom­men, zu exis­tie­ren auf­ge­hört habe?« Eine Ant­wort fällt heu­te noch leich­ter als damals. Der Band schließt mit der wohl opti­mis­tisch gemein­ten For­de­rung, eine »Euro­päi­sie­rung im Euro­pa der eigen­wil­li­gen Völ­ker tut not, damit ein sub­stan­ti­el­ler Begriff Euro­pas end­lich wie­der gewon­nen wer­den kann.«

Aber allein die zuvor von Straub erstell­te »Män­gel­lis­te« läßt es nahe­zu aus­ge­schlos­sen erschei­nen, daß heu­te noch »in Euro­pa eine Ver­hei­ßung, gar eine sitt­li­che Idee« gefun­den wer­den könn­te, zumal er selbst betont, »Brüs­sel-Euro­pa« wider­spre­che »sämt­li­chen euro­päi­schen Über­lie­fe­run­gen prak­ti­scher Weltklugheit«.

Im alten Euro­pa haben die Gemein­sam­kei­ten nicht gesucht wer­den müs­sen, sie sei­en selbst­ver­ständ­lich gewe­sen. Fra­gen des Geschmacks ver­ban­den, prä­gend sei­en Lat­in­i­tät und Christen­tum gewe­sen, »die bei­de gen­tes und natio­nes ken­nen, aber sie über­wöl­ben, zusam­men­fas­sen«. Hin­zu­ge­kom­men sei ein »Adel, der über den Kon­ti­nent hin­weg unter­ein­an­der sich ver­misch­te«, ein »supra­na­tio­na­ler Stil« habe sich »selbst­ver­ständ­lich« durch­ge­setzt. Die Her­ren der gro­ßen Rei­che stre­ben nach Einig­keit, nicht nach Ein­heit – ein erheb­li­cher Unter­schied. Ein »Plu­ri­ver­sum par­ti­ku­la­rer Auto­no­mien« habe bestan­den. Euro­pa habe auch spä­ter, im »Zeit­al­ter der Natio­nen«, nicht »unun­ter­bro­chen beschwo­ren wer­den müssen.«

Wie Hof­mannst­hals Fra­ge, so ist auch die The­se von José Orte­ga y Gas­set mehr als ein­mal ein­ge­floch­ten, wonach Euro­pa der ein­zi­ge Kon­ti­nent sei, der »einen Inhalt« habe (so die nur sinn­ge­mäß mög­li­che Über­set­zung Straubs, im Ori­gi­nal: »Euro­pa es el uni­co con­ti­nen­te, que tiene un con­teni­do«). Der Aus­spruch stammt aus einer Zeit, als das alte Euro­pa schon nicht mehr bestand.

Zu bekla­gen war da bereits der Ver­lust der »Errun­gen­schaf­ten des West­fä­li­schen Frie­dens von 1648«, die »jede spä­te­ren Strei­te­rei­en über Kriegs­schuld und mög­li­che Ver­ge­hen wäh­rend der Krie­ge unter­sag­ten, um den Frie­den nicht zu belas­ten«. Die »west­li­chen Men­schen­freun­de« bestimm­ten, wer »als Unmensch ver­ach­tet wer­den muß­te«. Aus­ge­schlos­sen aus der »gesit­te­ten Mensch­heit« wur­den die »reak­tio­nä­ren, katho­li­schen Dun­kel­män­ner in Öster­reich« sowie die »mili­ta­ris­ti­schen Preußen«.

Die »Ver­west­li­chung« des­sen, was heu­te als Euro­pa gilt, setz­te sich fort, mit Unter­bre­chun­gen. Ruß­land wur­de abge­drängt, des­sen Zuge­hö­rig­keit zu Euro­pa schwin­det immer mehr aus dem Bewußt­sein. Von »Men­schen in Euro­pa« wer­de gespro­chen, nicht mehr von »Euro­pä­ern«. Straub macht dar­auf auf­merk­sam, daß sich nach dem Ers­ten Welt­krieg kein Schrift­stel­ler, Phi­lo­soph oder Künst­ler fin­den läßt, den die Euro­pä­er als »unum­strit­te­nen Reprä­sen­tan­ten ihrer kul­tu­rel­len Ein­heit« akzep­tiert hätten.

In der EU, die allein »Wirt­schafts­raum« ist, berüh­ren der­ar­ti­ge Sor­gen die »Euro­pay­er« kaum. Der wie­der­hol­te Gebrauch die­ses Kalau­ers sei Straub ob des ins­ge­samt anre­gen­den Buches verziehen.

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Eber­hard Straub: Euro­pa. Ein unge­si­cher­ter Begriff, Dres­den: edi­ti­on buch­haus losch­witz 2021. 104 S., 17 €

 

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