Dieses Stück, »Der Neue Midcult«, sorgte im Qualitätsfeuilleton für Wirbel. Thema: Was macht es mit der Gegenwartsliteratur, was sagt es aus über den Stand der zeitgenössischen Ästhetik, wenn (Schreib)Kunst heute durch »niedrigqualifizierte Meinungsblasen« öffentlich bewertet wird? Was bedeutet und wohin führt es, wenn Literaturprofessorinnen sich nun weigern, bestimmte »kanonische« Bücher zu lesen, weil deren Autor ein »problematisches Verhältnis zu Frauen« hatte? Sprich, wie genau nennen wir den Hund, auf den Literatur und ihre Kritik heute gekommen sind?
Es ging darum, wie bestimmte Gattungen »gedisst« [!] würden, weil sie zur eigenen »politisch-weltanschaulichen Stilgemeinschaft« nicht paßten. Baßlers (er war über Jahre Assistent von Helmut Lethen) essayistischer Einwurf war witzig und klug, seine Formulierungen sprühten vor neugieriger Intelligenz. Nun das ganze Paket also, Gegenwartsästhetik, kein Untertitel, gemeinsam verfaßt mit Heinz Drügh.
Man liest es mal kopfschüttelnd, mal begeistert, oft erstaunt, selten gelangweilt, häufig verärgert. Falls mal wieder ein plombiertes Päckchen mit einem Dutzend Zeitzeugnissen ins Weltall befördert werden sollte, um die Nachwelt über den Zustand der Geisteswissenschaften anno 2021 zu informieren, sollte dieses Buch dabeisein.
Im ersten Teil wird dreierlei verhandelt: das gegenwartsästhetische Urteil, das gegenwartsästhetische Objekt sowie die »Gegenwart«, in einem Kapitel gar bis hin zur »Extremgegenwart«. Der zweite Teil nimmt sich jener Marken an, die die Folie einer rezenten Ästhetik ausmachen: Demokratisierung, Anthropozän, Digitalisierung. Es ist unklar, welcher der Autoren hier für welche Passagen verantwortlich zeichnet, zumal sie unisono sprechen.
Das ist interessant, weil es ein durchaus spezieller Duktus und ein Jargon sind, derer sich hier befleißigt wird. Bereits die ellenlange Einleitung, in der die (offenkundig weltbewegende) Hundefutterdosenszene (Fraß mit »Rat Flavor«) aus Tarantinos Once Upon a Time in … Hollywood rauf- und runterdekliniert wird und mit ästhetischen Befunden bei Aristoteles, Kant, Marquard und Sontag abgeglichen wird, gibt einen Vorgeschmack.
Baßler und Drügh sind Professoren für Neuere Deutsche Literatur; sie gehören den Geburtsjahrgängen 1962 und 1965 an. Nur ein Grobian würde zu dem banalen Schluß kommen, daß hier zwei bejahrte Herren hart gegen ihr Alter ankämpfen, indem sie hier Jugendsprache performen, »als wenn es gar nichts wär’«. Die Sachbestände werden hier als »leider geil«, als »deep«, »cute« und »edgy« qualifiziert. Bei diesen trendigen Adjektiven (auch: »freakish« und »clammy«) handele es sich nicht um Schwundstufen des Ästhetischen, sondern um Nuancen einer Wahrnehmungsavantgarde – so geht die allseits selbstbewußte, wenn nicht ‑verliebte Behauptung.
Dies alles ist ein schmaler Grat. Handelt es sich bei den Autoren um intellektuelle Modeopfer oder um solche, die das ästhetische Spektakel durchschauen und »den Tiger reiten«? Eher: ersteres. Dabei machen sie durchaus gute Punkte. Allein der Rückgriff auf Gottfried Sempers und, ja, Adolf Loos’ Vorstellungen von Kunst und Handwerk ist die Lektüre wert! Immer wieder wird es hingegen auch peinlich: Dann, wenn die Leserin endlich nach etlichen Hinweisen verstanden hat, daß der Autor knallharter Black-Flag-Fan ist, aber Martin Mosebach (als Fabrikateur einer ästhetisch verirrten »Lügenstruktur«) verabscheut. In diesem Buch genügt es, behauptet zu werden.
Die Dominanz der Geschmacksfrage, also die Ästhetisierung ethischer wie auch ganz und gar alltäglicher Fragen (Steak essen oder Rucola; Prius fahren oder SUV), so ein Fazit der Autoren, beherrsche die Ästhetik der Stunde. Um ein Beispiel zu geben und es in den habituell verschrobenen Worten dieser Gelehrten zu fassen: »So richtig virulent wird es erst in dem Moment, in dem die virtuelle Sphäre des Paradigmatischen in einer augmentierten Realität metonymisch-weltförmig wird.«
Bis dahin wedelt der Schwanz weiter mit dem Hund, möchte man ergänzen. Schlagt Schaum, ihr Denker, solange es noch geht!
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Moritz Baßler, Heinz Drügh: Gegenwartsästhetik, Konstanz: Konstanz University Press 2021. 307 S., 28 €
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