Damit beschließt der Autor sein Projekt einer Kulturgeschichte der Deutschen zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert mit einem Band, der in vielem unserer Gegenwart bereits so nahe kommt, daß sich in den gewohnt kurzweiligen Plauderton die ein oder andere Härte einschleicht. Dabei folgt das Buch dem Muster seiner Vorgänger, wenn Preisendörfer mit Blick auf den Alltag der Menschen wie nebenbei die politischen und weltanschaulichen Grundfragen der damaligen Zeit behandelt.
Und wie immer weiß er den Leser mit manch unbekanntem Detail, manch treffendem Zitat und erhellendem Vergleich zu überraschen. Der Wert dieser Bücher für die kulturgeschichtliche Bildung der Gegenwartsdeutschen kann gar nicht hoch genug geschätzt werden. Wer diese Bücher gelesen hat, weiß nicht nur mehr über die Vergangenheit seines Volkes, sondern auch über seine Vorfahren. Es fällt ihm dann eventuell leichter, in ihnen nicht vordemokratische Ungeheuer zu erblicken, sondern seinesgleichen.
Es ist klar, daß diese Herangehensweise schwieriger beizubehalten ist, je näher man der Gegenwart kommt. Insofern ist es zu begrüßen, daß Preisendörfer kein weiteres Buch unter dem Titel »Als Deutschland vom Rassenwahn befallen war. Eine Reise in die Hitlerzeit« angekündigt hat. Denn schon bei seiner Reise in die Bismarckzeit stehen Dinge im Mittelpunkt, die uns heute als problematisch erscheinen: die soziale Ungleichheit, der machtlose Parlamentarismus, die Frauen- und die Judenfrage. Zweifellos waren diese Dinge damals virulent.
Aber sie bleiben schwer einzuordnen, wenn man nicht weiß, wie es damals in anderen Ländern aussah. Neben die von Preisendörfer oft explizit angeführte Perspektive unserer Gegenwart (wenn er etwa erwähnt, daß ein Arbeiter damals für ein Brot eine Stunde arbeiten mußte, was heute selbst bei Mindestlohn nur wenige Minuten in Anspruch nimmt) tritt nur selten diejenige des damaligen Auslands in Erscheinung (vorwiegend der Franzose Victor Tissot, aber beispielsweise nie Mark Twain).
Wenn man mit jemandem auf Reisen geht, muß man ihm vertrauen. Das ist um so wichtiger, je selbstverständlicher die Reiseroute von ihm bestimmt ist. Manchmal geben dann Kleinigkeiten Anlaß zu Mißtrauen; etwa wenn Preisendörfer Burschenschaftler statt Burschenschafter schreibt, oder wenn er behauptet, der Historiker Treitschke hätte seinen Aufsatz »Unsere Aussichten« (1879) mit dem oft zitierten Satz »Die Juden sind unser Unglück« beendet.
Dieser Satz steht zwar im hinteren Teil des Textes, der letzte Satz lautet aber ganz anders: »Gebe Gott, daß wir aus der Gärung und dem Unmut dieser ruhelosen Jahre eine strengere Auffassung vom Staate und seinen Pflichten, ein gekräftigtes Nationalgefühl davontragen.« Diese Kleinigkeiten wachsen sich dann zu einem Problem aus, wenn Preisendörfer die »großen Männer« behandelt. Bei Bismarck, dessen Verehrung ihm unangemessen vorkommt, wünscht er sich mehr »Kammerdienerverstand« der Zeitgenossen, um bei Karl Marx auf jede Legende hereinzufallen, die Marxisten in den letzten 150 Jahren in die Welt gesetzt haben.
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Bruno Preisendörfer: Als Deutschland erstmals einig wurde. Reise in die Bismarckzeit, Berlin: Galiani 2021. 447 S., 25 €
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