Solches Denken wendet sich völlig zu Recht gegen Open-borders-Hypermoralismus in der Migrationspolitik, gegen Klima- und Genderwahn, gegen eine »bunte Truppe« als Armee und gegen einen – typisch deutschen – wohlfeilen Pazifismus in geo- und außenpolitischen Belangen.
Wie ist es möglich, daß jemand die argumentativen Grundlagen für diese systemkritischen Positionen rezipiert hat, gleichzeitig aber die katholische Amtskirche seit dem Zweiten Vatikanum für »karitativ, demokratiefördernd und in der Unterstützung von Friedensprozessen tätig« betrachtet, ebenso die NATO für friedenssichernd hält, Henry Kissinger und Papst Franziskus »globale moralische Autorität« zuspricht, weil letzterer gemeinsam mit dem UN-Generalsekretär im »Kampf gegen Armut, dem Einsatz für Frieden und Freiheit und dem Engagement für einen offenen Dialog zwischen den Religionen und Kulturen« unterwegs sei?
Es geht noch weiter: Christoph Rohde glaubt, die deutsche Staatsräson sei »Nie wieder Auschwitz« und der 8. Mai der »Tag der Befreiung«. Er hält »Antidiskriminierungsregelungen« für richtig, meint, »Corona« sei ein Ereignis, das »die Notwendigkeit von Krisenprävention in jeder Hinsicht aufzeigt«, und bewundert den Ostern 2020 einsam am Petersplatz betenden Papst. Er formuliert, Rußland leide unter dem »Putin-Regime« wie weiland Jugoslawien unter Milošević; er glaubt, die Rassenunruhen in den USA seien wegen »Tötung schwarzer Bürger« entstanden, hält die Globalisierung für »eine große Chance« und 9 / 11 für den Terroranschlag eines »einzelnen Bösewichts«.
Offensichtlich denkt und schreibt hier ein Liberalkonservativer, der wesentliche linksglobalistische Narrative geschluckt hat. Bestimmte Einzelheiten hinterfragt der Politikwissenschaftler, beispielsweise die Steuerung der deutschen Friedensbewegung durch die DDR, die Hintergründe der Befreiungstheologie (wobei er sich zur Ehrenrettung des amtierenden Papstes nicht sicher sein will, ob Franziskus dieser anhängt) oder die Gefahren des social engineering, insbesondere des nudging.
Rohde befindet sich, bildlich ausgedrückt, kurz hinter dem Eingang des Kaninchenbaus – liefe er weiter, gäbe es noch allerhand zu sehen, das sein Vertrauen in viele große Friedensstifter und die über sie verbreiteten Narrative irritieren dürfte. Dabei ist sein theologischer Ansatz, an Augustinus’ Zwei-Reiche-Lehre (vermittelt über Luther und den protestantischen amerikanischen Theologen Reinhold Niebuhr, über den Rohde bereits publiziert hat) Maß zu nehmen, außerordentlich fruchtbar.
Mit Augustinus läßt sich erkennen, wie der einzelne Christ, aber auch wie Staaten und Armeen in der »verfallenen Welt« richtig handeln können: »Die biblische Anthropologie, auf die Augustinus seine politische Theologie gründete, vermeidet die Illusionen eines zu einseitigen Idealismus einerseits und die zynischen Kalkulationen eines Macht zum Selbstzweck erklärenden Zynismus andererseits, weil sie die Muster der korrumpierten menschlichen Freiheit offenlegt, ohne sie damit moralisch zu akzeptieren.« Seine Ausführungen zu »friedensethisch« wirkenden kirchlichen Institutionen im Wandel der Zeit bleiben eher lexikalisch.
Hervorhebenswert ist das Schlußkapitel, in dem Rohde den militärischen Einsatz von Drohnen vom Standpunkt seiner (nichtutilitaristischen, das ist hier entscheidend: Todesopferzahlen gegenrechnen ist unchristlich!) Ethik aus beurteilt.
Fazit: Die menschliche Freiheit ist noch viel, viel korrumpierter, als der Autor zu glauben bereit ist. Ich würde mir dasselbe Buch geschrieben wünschen von jemandem mit mehr Wissen um Hintergrundstrukturen und ‑mächte – dann wäre es wirklich »realistisch«.
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Christoph Rohde: Das Kreuz und der Krieg. Prämissen einer realistischen katholischen
Friedensethik, Rückersdorf: Lepanto Verlag 2021. 368 S., 18,50 €
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