die in der nahen Zukunft spielen, genauer gesagt: im Jahr 2027. Beide erzählen, was die Zukunft bringen könnte, und diese Zukunft ist von heute an gerechnet nur fünf Jahre entfernt. Dies muß ein Zeitraum sein, den die Autoren für ausreichend plausibel vorhersehbar halten. In der Tat: Das Faszinierende an Every (2020) und nun an Vernichten ist, daß das, was diese Romane schildern, bereits spürbar ist, bereits sein Gewicht aufbaut.
Beide Prognosen gehen davon aus, daß wir in den kommenden Jahren keine Entwicklungssprünge erleben und keine Kulturschwellen überschreiten werden. Die achtziger und neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts waren aufgrund der politischen Wende und der digitalen Revolution fundamental voneinander geschieden. In den frühen 2020ern ist aber schon alles angelegt, was am Ende dieses Jahrzehnts zur Normalität gehören wird.
Vernichten: Houellebecqs bisher umfangreichster Roman erzählt drei Handlungsstränge. Zum einen wird Europa von Anschlägen heimgesucht, für die eine digital ebenso wie militärisch hochprofessionelle Gruppierung verantwortlich zeichnet. Man steht vor dem Rätsel, warum der Reihe nach ein Containerschiff, eine dänische Samenspenderbank, ein Flüchtlingsdampfer und ein irisches Labor zur Erforschung transhumaner Technik zerstört werden.
Einen übergeordneten, wissenden Erzähler gibt es in diesem Roman nicht, und so erfährt man Ermittlungsergebnisse und deprimierende Stagnation nur so, wie es auf der Leitungsebene von Ministerium und Geheimdienst zusammengetragen wird. Historiker und Nerds steuern die Vermutung bei, man habe es mit späten Schülern des Unabombers Ted Kaczynski zu tun – das sind so die Körnchen, die Houellebecq ausstreut, um den radikalen Entsagungsanarchismus dieses US-amerikanischen Terroristen neben den heraufziehenden, postdemokratischen »Ökofaschismus« des grünen Kapitalismus zu stellen.
Zweiter Strang: In Frankreich stehen Präsidentschaftswahlen an. Der Amtsinhaber (unverkennbar Macron) darf nicht ein drittes Mal antreten, und so schickt er einen Kandidaten ins Rennen, der zwar gewinnen, aber nicht zu beliebt werden soll. Denn nach dessen Amtszeit will er selbst wieder Präsident werden. Kontrahent ist der Kandidat des Blocks um Marine Le Pen.
Es ist selbstverständlich, daß es Regionen gibt, in denen sie die Mehrheit der Wähler hinter sich weiß, und daß sie von einer Entwicklung profitiert, die heute schon absehbar ist und im Roman als verfestigt beschrieben wird: das Verschwinden der Mittelschicht, die Aufteilung der Gesellschaft in Reichere und sehr viele, die ihren Standard kaum halten können oder schon abgerutscht sind. (Interessant ist, daß Houellebecqs Skandalszenario aus seinem Roman Unterwerfung keine Rolle mehr spielt: Frankreich droht in Vernichten nicht mehr von einem linkskompatiblen, gemäßigt-islamischen Präsidenten zu einem Ableger Katars gemacht zu werden.)
Houellebecqs Hauptfigur Paul Raison ist Finanzinspektor im Wirtschaftsministerium und begleitet als Berater und als Freund die beiden Handlungsstränge, während er selbst den dritten beisteuert: Er und seine Frau Prudence haben sich auseinandergelebt. Sie ist selbst hohe Staatsbeamtin, man teilt die Wohnung, lebt aber nicht mehr gemeinsam. Dies wird sich im Verlauf des Romans ändern, verbessern, es wird sogar wieder ganz und gar gut sein, und dies ist ein für Houellebecq seltsamer Vorgang: daß er Institutionen, Verbindlichkeiten, Grundsätzen und abendländischen Wertvorstellungen zu Ansehen verhilft und sie als den Restkitt begreift, der die abrutschende Gesellschaft zu halten vermag.
Houellebecq bietet diesmal wenig Sex auf, fast nur ehelichen, dafür spürt er den Institutionen in einer erodierenden Gesellschaft nach: Prudence suchte Halt in naturreligiösen Gruppen. Sie sucht, was Pauls Schwester Cécile nicht suchen muß, weil sie einfach der katholischen Tradition Frankreichs folgt. Paul selbst verzieht sich, während er gegen seine letztlich tödliche Krebserkrankung ankämpft, im Wortsinn in die Welt der Literatur. Gemeinsam mit seinen Geschwistern ringt er um die Würde seines Vaters, der nach einem Schlaganfall als Wachkomapatient seine letzten Monate in einem Sterbeheim verbringen soll und dort verfällt.
Ist das langweilig, sozusagen zu wenig ätzend und quirlig? Teile des Feuilletons – mutmaßen wir: diejenigen, die sich über alles Überkommene lustig machen – finden den neuen Houellebecq in der Tat lähmend und gewollt. Houellebecq sah diesen Spott voraus. Er schrieb wohl so, weil er genau diese Reaktion in diesem Teil seiner Leser hervorrufen wollte.
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Michel Houellebecq: Vernichten. Roman, Köln: DuMont 2022. 620 S., 28 €
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