Michel Houellebecq: Vernichten

Es ist interessant, daß die beiden Schriftsteller Dave Eggers und Michel Houellebecq mit Every und Vernichten zuletzt Romane vorgelegt haben,...

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

die in der nahen Zukunft spie­len, genau­er gesagt: im Jahr 2027. Bei­de erzäh­len, was die Zukunft brin­gen könn­te, und die­se Zukunft ist von heu­te an gerech­net nur fünf Jah­re ent­fernt. Dies muß ein Zeit­raum sein, den die Autoren für aus­rei­chend plau­si­bel vor­her­seh­bar hal­ten. In der Tat: Das Fas­zi­nie­ren­de an Every (2020) und nun an Ver­nich­ten ist, daß das, was die­se Roma­ne schil­dern, bereits spür­bar ist, bereits sein Gewicht aufbaut.

Bei­de Pro­gno­sen gehen davon aus, daß wir in den kom­men­den Jah­ren kei­ne Ent­wick­lungs­sprün­ge erle­ben und kei­ne Kul­tur­schwel­len über­schrei­ten wer­den. Die acht­zi­ger und neun­zi­ger Jah­re des vori­gen Jahr­hun­derts waren auf­grund der poli­ti­schen Wen­de und der digi­ta­len Revo­lu­ti­on fun­da­men­tal von­ein­an­der geschie­den. In den frü­hen 2020ern ist aber schon alles ange­legt, was am Ende die­ses Jahr­zehnts zur Nor­ma­li­tät gehö­ren wird.

Ver­nich­ten: Hou­el­le­becqs bis­her umfang­reichs­ter Roman erzählt drei Hand­lungs­strän­ge. Zum einen wird Euro­pa von Anschlä­gen heim­ge­sucht, für die eine digi­tal eben­so wie mili­tä­risch hoch­pro­fes­sio­nel­le Grup­pie­rung ver­ant­wort­lich zeich­net. Man steht vor dem Rät­sel, war­um der Rei­he nach ein Con­tai­ner­schiff, eine däni­sche Samen­spenderbank, ein Flücht­lings­damp­fer und ein iri­sches Labor zur Erfor­schung trans­hu­ma­ner Tech­nik zer­stört werden.

Einen über­ge­ord­ne­ten, wis­sen­den Erzäh­ler gibt es in die­sem Roman nicht, und so erfährt man Ermitt­lungs­er­geb­nis­se und depri­mie­ren­de Sta­gna­ti­on nur so, wie es auf der Lei­tungs­ebe­ne von Minis­te­ri­um und Geheim­dienst zusam­men­ge­tra­gen wird. His­to­ri­ker und Nerds steu­ern die Ver­mu­tung bei, man habe es mit spä­ten Schü­lern des Unab­om­bers Ted Kac­zyn­ski zu tun – das sind so die Körn­chen, die Hou­el­le­becq aus­streut, um den radi­ka­len Ent­sa­gungsan­ar­chis­mus die­ses US-ame­ri­ka­ni­schen Ter­ro­ris­ten neben den her­auf­zie­hen­den, post­de­mo­kra­ti­schen »Öko­fa­schis­mus« des grü­nen Kapi­ta­lis­mus zu stellen.

Zwei­ter Strang: In Frank­reich ste­hen Prä­si­dent­schafts­wah­len an. Der Amts­in­ha­ber (unver­kenn­bar Macron) darf nicht ein drit­tes Mal antre­ten, und so schickt er einen Kan­di­da­ten ins Ren­nen, der zwar gewin­nen, aber nicht zu beliebt wer­den soll. Denn nach des­sen Amts­zeit will er selbst wie­der Prä­si­dent wer­den. Kon­tra­hent ist der Kan­di­dat des Blocks um Mari­ne Le Pen.

Es ist selbst­ver­ständ­lich, daß es Regio­nen gibt, in denen sie die Mehr­heit der Wäh­ler hin­ter sich weiß, und daß sie von einer Ent­wick­lung pro­fi­tiert, die heu­te schon abseh­bar ist und im Roman als ver­fes­tigt beschrie­ben wird: das Ver­schwin­den der Mit­tel­schicht, die Auf­tei­lung der Gesell­schaft in Rei­che­re und sehr vie­le, die ihren Stan­dard kaum hal­ten kön­nen oder schon abge­rutscht sind. (Inter­es­sant ist, daß Hou­el­le­becqs Skan­dal­sze­na­rio aus sei­nem Roman Unter­wer­fung kei­ne Rol­le mehr spielt: Frank­reich droht in Ver­nich­ten nicht mehr von einem links­kom­pa­ti­blen, gemä­ßigt-isla­mi­schen Prä­si­den­ten zu einem Able­ger Katars gemacht zu werden.)

Hou­el­le­becqs Haupt­fi­gur Paul Rai­son ist Finanz­in­spek­tor im Wirt­schafts­mi­nis­te­ri­um und beglei­tet als Bera­ter und als Freund die bei­den Hand­lungs­strän­ge, wäh­rend er selbst den drit­ten bei­steu­ert: Er und sei­ne Frau Pru­dence haben sich aus­ein­an­der­ge­lebt. Sie ist selbst hohe Staats­be­am­tin, man teilt die Woh­nung, lebt aber nicht mehr gemein­sam. Dies wird sich im Ver­lauf des Romans ändern, ver­bes­sern, es wird sogar wie­der ganz und gar gut sein, und dies ist ein für Houelle­becq selt­sa­mer Vor­gang: daß er Insti­tu­tio­nen, Ver­bind­lich­kei­ten, Grund­sät­zen und abend­län­di­schen Wert­vor­stel­lun­gen zu Anse­hen ver­hilft und sie als den Rest­kitt begreift, der die abrut­schen­de Gesell­schaft zu hal­ten vermag.

Hou­el­le­becq bie­tet dies­mal wenig Sex auf, fast nur ehe­li­chen, dafür spürt er den Insti­tu­tio­nen in einer ero­die­ren­den Gesell­schaft nach: ­Pru­dence such­te Halt in natur­re­li­giö­sen Grup­pen. Sie sucht, was Pauls Schwes­ter Céci­le nicht suchen muß, weil sie ein­fach der katho­li­schen Tra­di­ti­on Frank­reichs folgt. Paul selbst ver­zieht sich, wäh­rend er gegen sei­ne letzt­lich töd­li­che Krebs­er­kran­kung ankämpft, im Wort­sinn in die Welt der Lite­ra­tur. Gemein­sam mit sei­nen Geschwis­tern ringt er um die Wür­de sei­nes ­Vaters, der nach einem Schlag­an­fall als Wachkoma­patient sei­ne letz­ten Mona­te in einem Ster­be­heim ver­brin­gen soll und dort verfällt.

Ist das lang­wei­lig, sozu­sa­gen zu wenig ätzend und quir­lig? Tei­le des Feuil­le­tons – mut­ma­ßen wir: die­je­ni­gen, die sich über alles Über­kom­me­ne lus­tig machen – fin­den den neu­en Hou­el­le­becq in der Tat läh­mend und gewollt. Hou­el­le­becq sah die­sen Spott vor­aus. Er schrieb wohl so, weil er genau die­se Reak­ti­on in die­sem Teil sei­ner Leser her­vor­ru­fen wollte.

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Michel Hou­el­le­becq: Ver­nich­ten. Roman, Köln: DuMont 2022. 620 S., 28 €

 

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Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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