Auf der Geopolitik-Akademie des Instituts für Staatspolitik hielt Professor Hans Neuhoff einen Vortrag über “Die Ukraine – Lehrstunde der Geopolitik”.
Dieser Vortrag ist als Mitschnitt hier über unseren youtube-Kanal abrufbar. Für das Sezession-Heft 110, Thema “Geopolitik”, hat Götz Kubitschek mit Professor Neuhoff ein Gespräch über sein Vortragsthema geführt. Wir legen es zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der Ukraine wieder vor, denn an Aktualität büßen Analysen wie die Neuhoffs nichts ein.
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SEZESSION: Sehr geehrter Herr Professor Neuhoff, Sie betonen stets (und zuletzt betonten Sie das in einem Vortrag, den Sie im Rahmen unserer Sommerakademie zum Thema hielten), man müsse zwischen Ukrainekonflikt und Ukrainekrieg unterscheiden – mehr denn je deshalb, weil der Begriff Ukrainekrieg mittlerweile einen jähen Überfall aus dem hohlen Bauch heraus suggeriere. Können Sie das kurz ausführen?
HANS NEUHOFF: Die Begriffe hängen natürlich miteinander zusammen, können und sollten aber in bestimmter Weise voneinander abgegrenzt werden. Der Begriff Ukrainekrieg betrifft die militärischen Angriffshandlungen Rußlands in der Ukraine und gegen die Ukraine seit dem 24. Februar dieses Jahres.
Der Ukrainekonflikt betrifft das Bestreben des US-geführten Westens, die Ukraine aus der russischen Einflußsphäre herauszulösen und in die westliche Einflußsphäre einzubinden, sowie den Widerstand, den Rußland diesem Bestreben entgegengestellt hat. Der Ukrainekonflikt und seine kontinuierliche Verschärfung sind also der größere Rahmen und schließlich die Ursache des Krieges, anders ausgedrückt: Der Krieg ist der bisherige Höhepunkt des Konfliktes.
SEZESSION: Wo würden Sie denn dann den Beginn des Konfliktes ansetzen, und wo liegen seine Ursachen?
NEUHOFF: Als ein wichtiges Datum gilt der Bukarester NATO-Gipfel Anfang April 2008, auf dem der Beschluß gefaßt wurde, daß die Ukraine und Georgien Mitglieder der Organisation würden. Mit dem Euromaidan Anfang 2014, der ja erwiesenermaßen mit Unterstützung der USA vorbereitet wurde, und der Vertreibung des Präsidenten Janukowitsch wurde der Konflikt dann auf scharf gestellt.
Seitdem standen die Zeichen auf Krieg, auch wenn dieser sich für acht Jahre zunächst als Bürgerkrieg im Osten des Landes darstellte, nach Schätzung der Vereinten Nationen mit etwa 14 000 zivilen und nichtzivilen Todesopfern. Auch hier standen sich die NATO und Rußland als Kriegsparteien bereits gegenüber, denn die Autonomisten im Donbass wurden von Rußland unterstützt und die ukrainische Armee von der NATO. Diese Punkte sind in der informierten Debatte unstrittig.
Ich selbst erkenne die Anfänge des Konfliktes aber schon deutlich früher, nämlich mit der Auflösung der Sowjetunion 1991 und dem Sieg Clintons bei der US-Präsidentschaftswahl im November 1992.
Geopolitisch bot sich den USA damals die einzigartige Chance, zum alleinigen Regionalhegemon weltweit und damit zum Aspiranten für globale Hegemonie zu werden, also zu einer unipolaren Weltordnung zu gelangen, dem Traum jeder Großmacht. Dazu mußte Rußland, das man als Verlierer des Kalten Krieges betrachtete und das jetzt seine ersten demokratischen Gehversuche unternehmen sollte, strukturell entscheidend geschwächt und aus dem Kreis der tatsächlichen oder potentiellen Großmächte vertrieben werden.
Rein theoretisch hätte man damals ja sagen können, daß mit der Auflösung des Warschauer Paktes auch die raison d’être der NATO entfiel – zumal Rußland mit amerikanischer Hilfe einer ökonomischen Schocktherapie unterzogen wurde und zu einer liberalen Demokratie gemacht werden sollte. Und nach der democratic peace theory, einem wichtigen Element der außenpolitischen Philosophie der USA, führen Demokratien untereinander keine Kriege.
Welche Gefahr sollte von Rußland da noch ausgehen – zumal das Land eine alternde und schrumpfende Bevölkerung besaß?
Aber das wurde natürlich nicht ernsthaft in Betracht gezogen. Die Strategie mußte ganz im Gegenteil lauten: Osterweiterung der NATO, und zwar bis an die Grenzen Rußlands. In der Wolfowitz-Doktrin von 1991 wird das ja offen ausgesprochen. Clinton mußte sich dabei nicht an die Zusagen der Bush-Regierung im Rahmen der Zwei-plus-Vier-Verhandlungen gebunden fühlen, wonach der sowjetischen Führung zugesichert worden war, daß es nach einer Wiedervereinigung Deutschlands keine Osterweiterung der NATO geben werde.
Für die USA bedeutete die Osterweiterung der NATO eine Ausweitung ihres Einflusses in Europa, und das auch noch mit niedrigen Kosten. Eine solche Gelegenheit läßt sich keine Großmacht entgehen. Ab Januar 1994 wurde daher die NATO-Osterweiterung systematisch in Angriff genommen.
SEZESSION: Welche deutlichsten Kreuzungen würden Sie aufzählen, wenn es um die Frage geht, ob man, also wir, anders hätte abbiegen sollen, um Europa an diesem Krieg vorbeizusteuern?
NEUHOFF: Die russische Führung hat immer wieder deutlich gemacht, daß eine Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO für sie inakzeptabel sei. Und aus russischer Sicht ist das genauso rational wie aus amerikanischer Sicht die Installation eines Verbündeten direkt vor der russischen Haustür. Es geht hier um Geopolitik, und der Gegensatz der Interessen ist vollkommen.
Allerdings ist Rußland längst kein Wettbewerber mehr auf Augenhöhe mit den USA, und das erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß das Land Risiken eingeht, erhebliche Risiken, um nicht vollständig degradiert zu werden.
Für die Mittel- und Westeuropäer wäre es also darauf angekommen, in diesem strukturell getriebenen Geschehen Gestaltungsmacht zu erlangen und auf einen Ausgleich hinzuwirken, konkret: Sie hätten von Anfang an klarstellen müssen, daß eine Aufnahme der Ukraine in die NATO für sie nicht in Frage kommt.
Von Anfang an heißt: ab 2002, denn seit dem Prager NATO-Gipfel 2002 hat die Ukraine regelmäßig im Zwei-Jahres-Turnus Antrag auf einen MAP (Membership Action Plan) gestellt, also die Eröffnung des in der Regel mehrjährigen Handlungsplans für die Mitgliedschaft, nach dessen Abschluß dann die förmliche Aufnahme erfolgen kann.
Der Antrag zum Bukarester NATO-Gipfel 2008 war also bereits der vierte Versuch. Alle vier förmlichen MAP-Anträge wurden zwar abgelehnt, aber es wurden seit Prag sogenannte ANP, Annual National Programs, mit der Ukraine vereinbart, also jährliche nationale Arbeitsprogramme, die unter anderem eine Harmonisierung der Standards nach dem NATO-Vorbild vorsahen.
Die ANPs für die Ukraine waren zu 95 Prozent deckungsgleich mit den MAPs, waren also de facto MAPs, und das haben der damalige Verteidigungsminister Jewhen Martschuk und später Präsident Viktor Juschtschenko auch unverhohlen zum Ausdruck gebracht.
Die Europäer haben diesen Etikettenschwindel also jedes Jahr mitgemacht, denn sie wußten, daß ein MAP für die russische Führung eine rote Linie wäre. Hier hätte es also jährlich die Möglichkeit gegeben, anders abzubiegen, denn auch die ANPs bedurften der Einstimmigkeit. Und man sollte dabei nicht vergessen: Eine deutliche Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung lehnte einen Beitritt ihres Landes zur NATO damals ab.
Beim NATO-Gipfel 2008 in Bukarest ging man dann noch einen Schritt weiter. Der MAP, den Präsident Bush unbedingt erreichen wollte, scheiterte zwar erneut am Einspruch von Bundeskanzlerin Merkel und dem französischen Staatspräsidenten Sarkozy. Die beiden konnten aber nicht den Beschluß verhindern, daß die Ukraine und Georgien Mitglieder der NATO werden, wie es wörtlich in der Abschlußerklärung des Gipfels heißt. Damit war die Aufnahme der beiden Länder in das Bündnis beschlossene Sache, nur der Zeitpunkt war noch nicht festgelegt.
Im nachhinein muß man sagen, daß die mangelnde Entschlossenheit von Merkel und Sarkozy, die das Unheil ja heraufziehen sahen, die Ukraine in die denkbar ungünstigste Lage manövriert hat. Denn die Ukraine konnte sich jetzt gewissermaßen als Mitglied fühlen, ohne aber die Schutzgarantien eines tatsächlichen Mitglieds zu genießen.
Eine dritte große Gelegenheit, anders abzubiegen, bot sich nach 2010 mit der unerwarteten Wahl Janukowitschs zum Präsidenten. Es ist vermutlich richtig, daß Janukowitsch der hemmungsloseste unter den ukrainischen Kleptokraten war. Aber seine außen- und sicherheitspolitische Konzeption für die Ukraine war, aus realistischer Sicht, bemerkenswert vernünftig. Das hatte er schon im September 2006, nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten, bei seinem Antrittsbesuch im NATO-Hauptquartier in Brüssel deutlich gemacht.
Janukowitsch wollte eine neutrale Ukraine, und sein Eintreten für eine Brückenfunktion der Ukraine zwischen der NATO und Rußland, und handelspolitisch zwischen der EU und der Eurasischen Wirtschaftsgemeinschaft, hätte alle Unterstützung der Europäer verdient gehabt. Die Ukraine wäre heute ein anderes Land, sie könnte eine Schweiz des Ostens sein. Allein, man hat ihm diese Unterstützung verweigert.
SEZESSION: Warum kam es nicht zu derlei sinnvollen und angemessenen Aufgabenzuweisungen und Bündnissen? Aus Faulheit, Ahnungslosigkeit, Machtlosigkeit?
NEUHOFF: Sehen Sie, alle diese Beispiele kranken an demselben Faktum: Um anders abbiegen zu können, muß man selbst am Steuer sitzen oder zumindest die Weisungsbefugnis für den Fahrer haben. Und es ist mehr als fraglich, ob die europäischen Mitgliedstaaten der NATO das im Bündnis tun und jemals taten.
Das Geschehen dort wird in Wahrheit nahezu vollständig von den USA bestimmt, sie sind der Hegemon. Und die Amerikaner haben auch klargestellt, daß sie im Zweifelsfall alleine oder mit einer Koalition der Willigen den Ukrainekonflikt vorantreiben würden.
Als Anfang Dezember 2008 bei der Konferenz der NATO-Außenminister erneut ein deutsches und französisches Veto die Eröffnung des MAP für die Ukraine verhinderte (deutscher Außenminister war damals Frank-Walter Steinmeier – die heutige ukrainische Führung hat das nicht vergessen), haben die USA kurzerhand den ukrainischen Außenminister Volodymyr Ogryzko nach Washington geholt und mit ihm am 19. Dezember einen bilateralen Vertrag über strategische Partnerschaft unterzeichnet, die U. S. Ukraine Charter on Strategic Partnership. Darin wurden Maßnahmen vereinbart, die die Ukraine militärisch und politisch weiter in die NATO einbinden sollten. Die Botschaft war klar: Wenn ihr es nicht macht, machen wir es allein.
Insofern stellt sich die Frage, ob die erste große Kreuzung nicht schon in der ersten Hälfte der 1990er Jahre überfahren wurde, als es von allen Beteiligten hingenommen wurde (auf französischer Seite sicherlich zähneknirschend), daß die neue europäische Sicherheitsarchitektur von einem amerikanischen Planungsbüro entwickelt wurde. Es ist übrigens eine bislang wenig beachtete Koinzidenz, daß zu genau derselben Zeit der Maastricht-Vertrag unterzeichnet wurde und in Kraft trat. Die postnationale Ideologie und mit ihr die neoliberale Deregulierung wurde also durch gleich zwei bahnbrechende Ereignisse auf den Weg gebracht.
SEZESSION: Diese weiter zurückreichende Sicht auf den Ukrainekonflikt ist insofern spektakulär, als das Nachdenken über diese Zusammenhänge in Deutschland sozusagen mit der ersten abgefeuerten Granate am 24. Februar verschüttet wurde. Können Sie sich die Sucht nach Eindeutigkeit und die hysterische Ablehnung jeder differenzierten Sichtweise erklären?
NEUHOFF: Auch hier wirken mehrere Faktoren zusammen. Zunächst einmal sind die größeren Zusammenhänge außerordentlich komplex. Ihre Aufarbeitung braucht daher Zeit und ein genuines Interesse, den Dingen auf den Grund zu gehen. Das bringt nicht jeder mit.
Dann weckt Komplexität natürlich immer auch das Bedürfnis nach Vereinfachung. Und zu dessen Befriedigung steht ein gewaltiger, sich selbst synchronisierender Medienapparat zur Verfügung. Zu den Techniken, die immer wieder funktionieren, gehören erstens die Reduktion auf das Gut-Böse-Schema, zweitens die Personalisierung von Gut und Böse, drittens das Arbeiten mit Stereotypen, viertens die Suggestion, daß die böse Macht auch uns bedrohe, ja auslöschen wolle, sowie fünftens das Prinzip der Wiederholung.
Die Grundregeln sind von Walter Lippmann in seinem Klassiker Public Opinion von 1922 unübertroffen dargelegt worden.
Dem kommt dann auch ein gut bestätigter Mechanismus entgegen, der in der Fachpsychologie als fundamentaler Attributionsfehler bezeichnet wird, nämlich die Neigung von Beobachtern, die Eigenschaften von Personen als Ursache für ihre Handlungen zu überschätzen und die Bedeutung von äußeren Faktoren für ihre Handlungen zu unterschätzen.
Im vorliegenden Fall entsteht dann das Narrativ, der Ukrainekrieg entspringe dem Willen und den Eigenschaften einer einzelnen Person. Oft genug und von verschiedenen Sprechern wiederholt, wird es weithin geglaubt, denn wenn viele das gleiche sagen, denkt man, daß an dem Argument etwas dran sein muß, auch wenn es wissenschaftlich unhaltbar ist.
Die Amerikaner sind die absoluten Meister in der Handhabung von soft power und Propaganda. Es ist wirklich beeindruckend. Sie wissen, daß man die großen Narrative steuern und kontrollieren können muß, und sie tun es. Die russische Propaganda hat dem international nichts Vergleichbares entgegenzusetzen.
Und das ruft dann noch zwei weitere psychologische Mechanismen auf den Plan. Erstens die sogenannte Identifikation mit dem Aggressor. Man ahnt, daß die Dinge in Wahrheit anders und komplizierter sind, als es uns täglich gesagt wird, kann dem aber nichts Eigenes entgegenhalten.
Diese Wahrnehmung der eigenen Unfähigkeit führt unterbewußt zu Selbstabwertungen bis hin zum Selbsthaß. Man findet Erleichterung, indem man das Narrativ des mächtigen Kommunikators übernimmt. Der zweite Mechanismus ist konflikttheoretischer Natur und ähnlich gelagert: Nach Charlan Nemeth erzeugt der Konflikt mit einer Mehrheitsmeinung Streß, der durch Übernahme der Mehrheitsmeinung reduziert werden kann.
SEZESSION: Befindet sich Deutschland im Krieg?
NEUHOFF: Der Ukrainekrieg wird seitens der USA als Stellvertreterkrieg geführt, und der Stellvertreter ist über zwei Jahrzehnte auf diese Situation vorbereitet worden. Für die USA geht es daher um sehr viel. Eine weitere Niederlage können sie sich nach dem kläglichen Abzug aus Afghanistan nicht leisten. Daher dieses gewaltige materielle, logistische und rhetorische Engagement der USA im tatsächlichen Kriegsgeschehen und vermutlich auch ihre Bereitschaft, die Eskalation noch weiter mitzubetreiben.
Deutschland ist nach wie vor zum bloßen außenpolitischen Mitläufertum verurteilt. Die immergleichen Verlautbarungen von Bundeskanzler Scholz, Deutschland werde nichts tun, was unsere Partner nicht auch schon tun, ist beredter Ausdruck dieser Tatsache und bedeutet auch, daß von Deutschland keine Initiative zu einer Verhandlungslösung zu erwarten ist. Statt dessen rutschen wir im Kielwasser der USA immer tiefer in das Geschehen hinein.
In einem Wirtschaftskrieg mit Rußland befinden wir uns bereits, und auch das gegen unsere Interessen. Nord Stream 2 war der erste nennenswerte Versuch einer echten außen- und wirtschaftspolitischen Emanzipation Deutschlands – er sollte scheitern, und er ist gescheitert, vollkommen gescheitert.
SEZESSION: Denken Sie, daß es auch in diesem Fall das gibt, was wir eine »Innere Emigration in der Politik« nennen könnten: daß also doch sehr, sehr viele Leute (auch in entscheidenden Positionen) um die beschriebenen Hintergründe und Vorgänge wissen, es aber nicht mehr offen auszusprechen wagen – entweder, weil ihnen der Mut fehlt, oder, weil sie die innerdeutschen Machtverhältnisse genau kennen?
NEUHOFF: Ich verstehe, was Sie meinen, und ich kenne auch ein paar solcher Personen. Und ich habe es auch erlebt, daß ein Gespräch eine unerwartete Wendung nahm, nachdem ich selbst meine Sicht der Dinge geäußert hatte. Es ist mir aber nicht möglich, das zu quantifizieren und diese Quantifizierung zu belegen – was ich als Wissenschaftler tun muß.
Auf der anderen Seite erlebe ich täglich, in der Arbeitswelt, in den Schulwelten meiner Kinder, im Sportverein, wie fest und unerschütterlich das dominante Narrativ vom neuen russischen Imperialismus im allgemeinen Bewußtsein verankert ist. Und viele, auch in der Politik, glauben tatsächlich an die Möglichkeit und die Mission einer neuen werteorientierten Außenpolitik.
Der Widerspruch, daß Rußland eine Einflußsphäre abgesprochen wird, weil das Zeitalter der Einflußsphären vorbei sei, während die NATO selbstverständlich eine Einflußsphäre der USA ist und diese in den letzten dreißig Jahren erheblich gewachsen ist, wird überhaupt nicht bemerkt.
Immerhin gibt es Umfrageergebnisse, die zeigen, daß es eine große Verunsicherung darüber gibt, was man zu bestimmten Themen noch sagen darf. Ich denke etwa an die Allensbach-Studie »Die Mehrheit fühlt sich gegängelt« aus dem letzten Jahr oder die Shell-Jugendstudie von 2019.
In Verbindung mit Ihren Beobachtungen zeigt das, daß wir uns in einer neuen Schweigespirale befinden. Nach der Theorie der Schweigespirale von Noelle-Neumann kann die Wahrnehmung medial dominanter Meinungen dazu führen, daß Bevölkerungsgruppen mit anderen Auffassungen sich als Außenseiter wahrnehmen, zunehmend in Schweigen verfallen und sich zurückziehen. Die ersteren erscheinen dann noch stärker, als sie wirklich sind, und die tatsächlichen Größenverhältnisse bleiben verborgen.
SEZESSION: Ein Merkmal der Schweigespirale ist doch, daß sie stets von denen diagnostiziert wird, die keine Macht haben, den ihr innewohnenden Mechanismus zu zerstören, obwohl genau dies vermutlich eine Mehrheit fände.
NEUHOFF: In der Tat, und diese Situation sehe ich in Deutschland gegeben. Eine ideologisch radikale Minderheit beherrscht die öffentliche Meinung durch Kontrolle des politisch-medialen Komplexes und inzwischen auch vieler Behörden.
Ein gutes Beispiel ist das Gendern. Eine breite Mehrheit der Bevölkerung lehnt diese rein ideologisch motivierte Verhunzung der deutschen Sprache ab. Dennoch werden wir unablässig mit ihren Erzeugnissen traktiert, wie gesagt, längst auch in vielen behördlichen Mitteilungen.
Es geht bis in die Lehrpläne der Kindergärten. Mein damals fünfjähriger Sohn kam vor zwei Jahren aus dem Kindergarten nach Hause und erklärte mir: »Papa, wenn ich will, kann ich auch ein Mädchen sein«. Auf Nachfrage stellte sich heraus, daß eine Erzieherin den Kindern beigebracht hatte, daß man sich das Geschlecht aussuchen könne und die Mädchen nicht Mädchen und die Jungen nicht Jungen bleiben müßten. Wahrscheinlich hat sie diesen Quatsch selbst nicht geglaubt. Weitergegeben hat sie ihn trotzdem.
Wenn diese linksgrüne Denke Einzug in die Außen- und die Außenhandelspolitik hält, wird es richtig gefährlich. Und genau in dieser Situation sind wir jetzt. Die amerikanische Außenpolitik der liberal hegemony ist eine geschickte Verknüpfung reiner Macht- und Interessenpolitik mit einer idealistisch begründeten Demokratiemission.
Mit ihrem Werteuniversalismus haben die USA die deutschen Grünen so sehr auf ihre Seite gezogen, daß diese die materiellen deutschen Interessen zu opfern bereit sind. Diese irrationale Opferbereitschaft hat geradezu religiöse Züge angenommen, gespeist aus einem totalen Moralismus, der die Eigenlogik sowohl der Wirtschaft als auch der Politik ignoriert.
Ich rechne daher die deutsche Außen- und Wirtschaftspolitik der Gegenwart und der jüngeren Vergangenheit dem Komplex der neuen ersatzreligiösen Handlungen zu. Das Vakuum, das der Niedergang der Religion erzeugt hat, wird mit diesseitigen Heilserwartungen und Heilsgeschichten gefüllt. Als Realisten kann einen da nur das Grauen erfassen.
SEZESSION: An welche Publizisten und Wissenschaftler sollte sich halten, wer jenseits der proukrainischen Propaganda und außerhalb der Schweigespirale lesen und sich informieren möchte?
NEUHOFF: In der internationalen Debatte ist der bedeutendste und einflußreichste Kopf zweifelsohne John J. Mearsheimer. Sein Aufsatz »Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault« von 2014 in der Zeitschrift Foreign Affairs, sein Vortrag »Why is Ukraine the West’s Fault?«, der auf YouTube inzwischen knapp 28 Millionen Aufrufe hat, und sein Vortrag am Robert-Schuman-Centre in Florenz vom Juni dieses Jahres, der sich auch auf YouTube findet, enthalten aus meiner Sicht alle wichtigen Punkte.
In Deutschland ist die Politologie insgesamt auf Linie. Aber es gibt auch hier unabhängige und starke Köpfe. Christian Hacke, Heinz Theisen und der NATO-Historiker Johannes Varwick sind gute Adressen.
Aber auch aus den Reihen der Politik gibt es gute Beiträge. Klaus von Dohnanyi hat mit seinem Buch Nationale Interessen, das im Januar 2022 erschienen ist und ein starkes Medienecho gefunden hat, endlich wieder dem Realismus in den internationalen Beziehungen eine Stimme verliehen. Sehr stringente Argumentationen, auch zum Thema Sanktionspolitik, kommen von Sahra Wagenknecht, die ebenfalls über einen Mangel an Aufmerksamkeit nicht klagen kann.
Eine hervorragende Dokumentation, allerdings kaum beachtet, bietet außerdem die Große Anfrage der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag unter dem Titel »Die Annäherung der Ukraine an die NATO« vom 27. Juli 2022. Die 24seitige Anfrage kann aus dem Internet heruntergeladen werden, ist umfassend verlinkt und führt den Leser tief in den Gegenstand hinein.
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Gustav
Dies wirft eine unangenehme, aber berechtigte Frage auf: Cui bono? Wem nützt der Krieg in der Ukraine also? Wollten einige innerhalb der Machtstrukturen Krieg?
Die einzige Möglichkeit, diese Fragen überhaupt zu beantworten, besteht darin, sich die Beweise anzusehen. Wenn wir das tun, dämmert uns eine unangenehme Erkenntnis. Der Konflikt in der Ukraine kommt einigen mächtigen globalen Interessen zugute. Es erfüllt eine Vielzahl ihrer Ziele. Aus ihrer Sicht ist es praktisch perfekt.
Wurde die militärische Konfrontation in der Ukraine bewusst inszeniert? Wenn ja, wer hat es entworfen und warum? Welchem möglichen Zweck könnte das Abschlachten von Ukrainern dienen? Ist Russlands Spezialoperation Teil einer umfassenderen Agenda? Wenn ja, was könnte diese Agenda sein? Ist Russland darin ein williger oder unfreiwilliger Komplize? Ist die russische Regierung nur ein Handlanger, der für die Interessen und Vorteile anderer benutzt wird? Hat die russische Führung ihre eigenen Gründe, einem solchen Plan nachzukommen? Wenn ja, wie könnte die russische Macht über die Verteidigung hinaus profitieren?
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